Protokoll der Sitzung vom 10.02.2000

(Herr Gürth, CDU: Es gibt mehr Unterschiede!)

Wir kennen die unterschiedlichen Standpunkte. Wir haben an dieser Stelle, meine ich, keine Möglichkeit, Sie zu überzeugen, und Sie werden uns auch nicht überzeugen. Deswegen werden wir Ihren Antrag ablehnen.

(Zuruf von Herrn Gürth, CDU)

Wir plädieren für die Aufnahme von sozialen Grundrechten, und ich bitte um Ihre Zustimmung. - Danke schön.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung von Frau Tiedge, PDS)

Vielen Dank. - Vor der vereinbarten Debatte der Fraktionen hat der Ministerpräsident um das Wort gebeten. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich ein paar Bemerkungen zu diesem

durchaus wichtigen Thema machen. Beim Vorankommen der Europäischen Union hinsichtlich der Erweiterung ist unsere Rolle im Grunde genommen sehr gering, und wir reden relativ selten darüber. Deswegen ist mir dies eine gute Gelegenheit, darauf hinzuweisen, daß ich selber, daß die Landesregierung die Erarbeitung einer Charta der Grundrechte auf der Ebene der Europäischen Union für wirklich überfällig hält. Wir brauchen eine solche Charta, damit die Basis, auf der sich die Europäische Union in Zukunft weiterentwickeln soll, deutlich formuliert wird. Das ist sowohl für den internen Prozeß, den Prozeß innerhalb der bisherigen Mitgliedsstaaten, wie auch für die Frage der Aufnahme neuer Mitglieder außerordentlich wichtig.

Freilich muß man an dieser Stelle auch vor einer Illusion warnen. Ein bißchen besteht gelegentlich in Deutschland die Vorstellung, man könne die Europäische Union so schaffen, daß man zunächst einmal eine Verfassung schafft, am besten nach dem Vorbild des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland. Auf diese müßten dann alle verpflichtet werden, und wenn diese Grundlage gelegt sei, könne man am gemeinsamen Europa weiterbauen.

Damit ist sofort eine Grundfrage aufgeworfen, die in Europa ständig diskutiert worden ist und auf die keine einheitliche Antwort zu erzielen sein wird, nämlich: Ist das dann ein gemeinsamer europäischer föderaler Staat, möglicherweise - wie manche sagen - ein Superstaat? Oder bleibt es doch ein Bund verschiedener, auch sehr vielgestaltiger Länder, die zusammenarbeiten?

Der Motor dieser europäischen Entwicklung ist immer das kann man nicht verkennen - die wirtschaftliche Entwicklung gewesen. Es ist übrigens auch kein Zufall, daß die Grundrechtscharta noch nicht existiert, aber schon viele europäische Staaten eine gemeinsame Währung haben. Dies wird sicherlich auch in Zukunft ein entscheidender Motor für die Weiterentwicklung der Europäischen Union sein. Es ist auch überhaupt unstrittig, daß der Wille etwa unserer osteuropäischen Nachbarn, dieser EU beizutreten, vor allen Dingen ökonomisch begründet ist.

Trotzdem: Wir brauchen die Verständigung über die Grundwerte, über die Grundrechte, die in der Europäischen Gemeinschaft gelten sollen. Ich glaube, Herr Tögel hat völlig zu Recht darauf hingewiesen, daß diese Wichtigkeit durch die Ereignisse in Österreich noch einmal unterstrichen wird.

Sicherlich kann man nicht von außen, von einer Superebene aus in die Frage hineinreden, welche Koalition in einem Land gebildet werden kann. Das ist unstrittig. Aber es ist auch wichtig, daß sich jedes Mitgliedsland der Europäischen Union tatsächlich an die Grundrechte und die Grundpflichten, die in der Europäischen Union vereinbart sind, halten muß. Das muß auch überprüfbar sein.

Deswegen ist es vernünftig, daß diese Grundrechte und Grundpflichten schriftlich formuliert werden. Allerdings gibt es auch europäische Staaten, zum Beispiel Großbritannien, die Urländer der Demokratie sind, ohne daß sie eine geschriebene Verfassung haben, wie wir sie in der Bundesrepublik Deutschland kennen. Für Europa, für das Zusammenwachsen halte ich das aber für außerordentlich wichtig.

Ich will an dieser Stelle auch sagen, daß es, gerade weil dieses Europa durch die wirtschaftliche Entwicklung

wesentlich vorangetrieben wird, wichtig ist, in der Grundrechtscharta auch soziale Rechte abzusichern.

(Zustimmung bei der SPD und von Frau Tiedge, PDS)

Daß das aus einem sozialen Anliegen heraus notwendig ist, wird keiner bestreiten. Es ist aber auch aus einem wirtschaftlichen Anliegen heraus erforderlich. Ich erinnere nur daran, daß wir im Baubereich große Schwierigkeiten mit Billigarbeitskräften haben, weil eben die Sozialstandards in anderen Ländern völlig anders sind. Das führt dann zu Verwerfungen.

Das heißt mit anderen Worten, auch in diesem Bereich muß an gemeinsamen Grundlagen gearbeitet werden. Zum einen resultiert dieser Gedanke aus dem Interesse, die Würde und die Rechte der Menschen zu sichern, zum anderen aber auch aus wirtschaftlichen Interessen. Die Grundrechte für Arbeitnehmer können nicht nur in einem Lande, sondern müssen in allen europäischen Staaten gesichert sein, damit auch die wirtschaftliche Entwicklung, das Zusammenwachsen in diesem Bereich vernünftig vonstatten gehen kann.

Nun ist die Frage zu klären gewesen, wie kommt man an eine solche Charta heran, wie verankert man sie in dem europäischen Vertragswerk. Ich finde es gut, daß zunächst ein Konvent zur Ausarbeitung der Charta eingesetzt worden ist und daß dann ein Dokument vorliegt, das in hinreichender Breite diskutiert werden kann.

In gewisser Weise haben wir es mit einem Problem zu tun, das wir von der deutschen Vereinigung her kennen. Damals gab es zunächst den Wunsch nach einer gemeinsamen Verfassung. Es stellte sich jedoch heraus ähnlich wird es auch bei den Beitrittsverhandlungen sein -, daß der Wunsch, den Beitritt neuer Staaten möglichst schnell zu vollziehen, dazu führt, daß man vorher die Diskussion über solche Grundrechte nicht zu Ende führen kann.

Wir dürfen aber den Fehler, der beim deutschen Vereinigungsprozeß passiert ist, nicht wiederholen. Es darf nicht sein, daß der Beitritt neuer Staaten vollzogen wird und die Diskussion über die Verfassung und ihre Änderung, die Diskussion um die Neuformulierung von Rechten und Pflichten praktisch nicht mehr stattfindet. Insofern bedarf es an dieser Stelle in der Tat des Nachdrucks der Länder. Dazu sind wir in Deutschland verpflichtet.

Ich finde es gut, daß es eine breite Diskussion geben soll, in die auch die Landesparlamente einbezogen sind. Ich will aber ausdrücklich betonen, daß die Verabschiedung einer solchen Charta und auch das Wirksamwerden der verschiedenen Maßnahmen, die die Europäische Union unternimmt, nur möglich sein wird, wenn auch das Europäische Parlament an dieser Stelle aktiv einbezogen wird. Solche Themen können wirklich nicht allein von bürokratischen Apparaten bearbeitet werden.

Es reicht auch nicht aus, wenn die Diskussion über den Inhalt einer solchen Charta nur von den Regierungskonferenzen geführt wird. Dazu bedarf es in den Ländern der Europäischen Union einer breiten Diskussion; denn nur wenn diese Diskussion zu einem breiten Konsens führt, wird die Charta auch eine tragfähige Grundlage für die Weiterentwicklung der Europäischen Union sein.

Lassen Sie mich an dieser Stelle den Wunsch äußern, daß diese Charta nicht nur eine unverbindliche Erklärung bleibt, sondern daß die geeigneten Stellen gefun

den werden, an denen sie im Vertragswerk der Europäischen Union fest verankert wird.

Wenn sie auf Dauer wirksam sein soll, muß die Charta justitiabel sein. Das heißt mit anderen Worten, die Einhaltung der Rechte und Pflichten muß auch durch entsprechende Gerichte kontrolliert werden können. Die Bürgerinnen und Bürger müssen das Recht haben, diese Rechte einzuklagen, wenn sie meinen, daß sie durch Maßnahmen der Europäischen Union oder auch durch Maßnahmen der einzelnen Länder in diesen europäisch abgesicherten Rechten beeinträchtigt sind.

Ohne Kontrollinstrumentarien, ohne rechtliche Überprüfung besteht die Gefahr, daß die Charta zu einer allgemeinen Erklärung wird, die im Ernstfall möglicherweise doch nicht durchträgt.

Wir werden bei der Frage, wie weit die Wertegemeinschaft geht, einen längeren Diskussionsprozeß vor uns haben. Ich erinnere daran, daß die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union ein Diskussionsgegenstand ist, der uns sicherlich noch über Jahre beschäftigen wird. Eine Bedingung ist sicherlich die Einhaltung der Menschenrechte in der Türkei. Das ist jedem klar.

Aber die Frage, wie weit die Maßstäbe, die in einem anderen Kulturkreis gewachsen sind - beispielsweise in bezug auf die Gleichberechtigung von Mann und Frau -, sich tatsächlich in einem so erweiterten Europa verwirklichen lassen, bleibt eine spannende Frage. Es ist beispielsweise zu klären, ob die Einhaltung unserer Vorstellung von der Gleichberechtigung von Mann und Frau in der Türkei eine Voraussetzung für den Beitritt zur Europäischen Union sein kann.

Mit diesen Andeutungen wird klar, daß die Diskussion weitergehen wird. Es ist aber auch klar, daß diese Diskussion nötig ist; denn ohne eine solche Diskussion schlittern wir in Entwicklungen hinein, die zu Konflikten führen können, für die keiner eine vernünftige Lösung hat.

Schon jetzt weiß jeder, daß der Konflikt zwischen der Europäischen Union, den 14 Mitgliedstaaten, und Österreich einigermaßen vernünftig beigelegt werden muß. Es kann auch umgekehrt nicht sein, daß die Tatsache, daß die FPÖ in Österreich so viele Wählerstimmen erzielt hat, dazu führt, daß die Reformen in der Europäischen Union, die für die Erweiterung nötig sind, nicht vorankommen. Es kann nicht sein, daß ein Land auf diese Art und Weise die Macht bekommt, alle nötigen Entwicklungen zu blockieren.

(Zuruf von Frau Wiechmann, DVU)

Auch darum ist rechtzeitig die Diskussion und die Verankerung entsprechender Rechte im Vertragswerk der Europäischen Union erforderlich. Es erscheint mir sinnvoll, über die Möglichkeiten der Mitwirkung zu beraten. Deshalb kann ich mich für diesen Antrag nur bedanken. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der SPD und bei der PDS)

Vielen Dank. - Bevor ich zu den Debattenbeiträgen der Fraktionen aufrufe, darf ich Schülerinnen und Schüler des Arnim-Gymnasiums aus Magdeburg und Teilnehmerinnen und Teilnehmer an der Jugendweihe aus Halberstadt begrüßen.

(Beifall im ganzen Hause)

Die vereinbarte Debatte findet statt in der Reihenfolge CDU, PDS, DVU, SPD. Für die CDU-Fraktion spricht der Abgeordnete Herr Dr. Sobetzko.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich begrüße den vorliegenden Antrag der SPDFraktion, der sich mit einem wichtigen aktuellen Thema zur Fortsetzung des europäischen Einigungsprozesses befaßt. Die CDU-Fraktion hat einen entsprechenden Änderungsantrag eingebracht, der schon kommentiert wurde.

Lassen Sie mich bitte einige Zusammenhänge darstellen. Europa ist in Bewegung geraten und wird immer mehr und entscheidend zum Bezugspunkt der Neuordnung des alten Kontinents. Ich erwähne stichpunktartig die Wirtschafts- und Währungsunion, das Vertragswerk von Amsterdam, die Agenda 2000 sowie Instrumente für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Die Erweiterung der Europäischen Union bringt nun die Chance, Stabilität, Frieden und Freiheit auf weitere Teile unseres Kontinents auszuweiten. Dazu gibt es keine Alternative.

Wesentliche Verzögerungen in bezug auf die EU-Erweiterung stärken die Kräfte der Demontage, der Restauration und der Nationalstaatlichkeit. Die Erweiterung darf allerdings nicht überstürzt werden. Vorab ist eine grundlegende Reform des institutionellen Gefüges der Europäischen Union erforderlich und ebenso die Erarbeitung einer EU-Grundrechtecharta, welche die Ausgangsbasis für einen späteren europäischen Verfassungsvertrag bilden kann. Damit vollzieht sich der entscheidende Schritt zur unumkehrbaren politischen Union.

Inzwischen wurde mit der Ausarbeitung der EU-Grundrechtecharta begonnen. Ein hierzu eingesetzter EUGrundrechtekonvent unter Vorsitz des ehemaligen Bundespräsidenten Roman Herzog - das begrüße ich wurde beauftragt, entsprechende Vorschläge zu erarbeiten.

Meine Damen und Herren! Lassen Sie mich auf diese Grundrechtecharta näher eingehen. Sie soll die Freiheits-, Gleichheits-, Verfahrens- und Unionsbürgerrechte neben dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung enthalten. Es handelt sich dabei insbesondere um die einklagbaren Grundwerte der Demokratie, der Achtung der Menschenrechte sowie der Rechtsstaatlichkeit, wie sie in der Europäischen Menschenrechtskonvention und in den gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten zum Ausdruck kommen. Daneben sollen wirtschaftliche und soziale Rechte berücksichtigt werden, wie sie in der Europäischen Sozialcharta und in der Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte enthalten sind.

Bei der Festlegung der Grundrechte ist jedoch zu prüfen, welchen Einfluß diese auf die wirtschaftliche und regionale Entwicklung ausüben könnten. Der Wirkungsbereich der Grundrechtecharta wird sich nicht nur auf die derzeitigen Mitgliedstaaten der Europäischen Union erstrecken, sondern dient als Maßstab und Eingangskorridor für alle künftigen Mitgliedstaaten.

Diese Grundrechtecharta soll allerdings nicht die Befugnisse bzw. Kompetenzen der Europäischen Union gegenüber den Mitgliedstaaten erweitern, sondern sie soll im Einvernehmen mit ihnen die diesbezügliche Kontrolle verbessern; siehe Punkt 3 unseres Antrages.

Die Bedeutung des Subsidiaritätsprinzips muß hervorgehoben werden. Es ist eine Notwendigkeit für die Kompetenzabgrenzung zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten und dient damit als Leitgedanke für die Grundlinien der Zuständigkeitsregelung eines entsprechenden europäischen Vertragswerks.

Meine Damen und Herren! Die aus Punkt 2 des SPDAntrages ableitbaren Forderungen können in dieser Form von uns nicht mitgetragen werden. Wenn Sie formulieren, daß anerkannte soziale Grundrechte sowie Rechte, die aus dem Umweltschutz und aus der technologischen Entwicklung resultieren, analog den klassischen Grundrechten zu berücksichtigen sind, dann müssen Sie sich allerdings fragen lassen: Wie wollen Sie das hieraus entstehende Konfliktpotential beheben, wenn Sie solche Staatsziele unter die einklagbaren Rechte bringen?

Sie wecken Begehrlichkeiten und unerfüllbare Erwartungen. Die EU-Neubürger würden hier konsequent ihre dann einklagbaren Rechte einklagen. Die Voraussetzung hierfür ist für den gleichberechtigten EU-Bürger aber nicht gegeben. Hinzu käme: Der mittel- und langfristige Verständigungsprozeß zwischen den Mitgliedstaaten über die Aufnahme der Grundrechte in das EUVertragswerk würde sich unnötig verzögern.

Bekanntlich geht ein überladenes Schiff unter. Der Verdacht liegt nahe, daß Sie solche Schiffe mit Ihren Formulierungen ins Gewässer schicken wollen. Sie werden damit nie in einem europäischen Hafen ankommen. Deshalb empfehlen wir, nur solche Grundrechte in die Charta aufzunehmen, die den EU-Bürgern klare Partizipations- und Abwehrrechte einräumen, die bei den Gerichten einklagbar sind.

(Zustimmung von Herrn Dr. Bergner, CDU, und von Herrn Scharf, CDU)

Unverbindlichkeiten lehnen wir ab. Daher auch der Vorschlag unter Punkt 2 unseres Änderungsantrags, hierzu entsprechend zu prüfen.