Protokoll der Sitzung vom 13.10.2000

Ein Weiteres muss man dazu sagen. Die Berufungsverfahren, die dann beim Oberlandesgericht gebündelt sein sollen, werden etwas weiter geöffnet. Bisher gibt es eine Streitwertgrenze von 1 500 DM, die auf 1 200 DM abgesenkt werden soll. Verfahren mit einem geringeren Streitwert - das war der gestrigen Diskussion zu entnehmen - sollen künftig im Wesentlichen auf die Schiedsgerichte verlagert werden. Nun ist das nicht der allergrößte Schritt, aber immerhin.

Für manche Leute sind eben 1 000 DM oder 1 500 DM wirklich viel Geld. Ich war deshalb immer dagegen, dass ein Richter durch schlichtes Kopfschütteln, ohne dass er dies begründen muss, eine Klage abweisen oder einer Klage stattgeben kann. Wenn jetzt den Richtern der nächsten Instanz die Möglichkeit gegeben wird, Berufungen durch später nicht zu begründende Entscheidungen abzulehnen, so bedeutet dies wieder Steine statt Brot, und die Verfahrensverkürzung wird nicht stattfinden.

Nun komme ich zu dem Kostenargument. Wer verfolgt hat, was nach der Amtsgerichtsreform in diesem Land geschehen ist, weiß - der Haushaltsplanentwurf, den wir in diesem Jahr beraten, ist ein Ausweis dafür -, dass nicht einmal die zugesagten Veränderungen im baulichen Bereich für die Gestaltung der neu zu schaffenden Amtsgerichte geleistet werden können.

(Zustimmung bei der CDU)

Jeder kann sich in seinem Wahlkreis die Situation schildern lassen. Ich nenne als Beispiele nur einmal Genthin und Burg und erinnere daran, dass Leute, die früher einmal in Staßfurt gearbeitet haben, jetzt an anderer Stelle untergebracht sind. Das alles können wir noch nicht leisten. Aber das hindert natürlich hochfliegende Reformpläne überhaupt nicht daran, weiter fortgesetzt zu werden, weil ja der Schaden in Form von Kosten erst sehr viel später auftritt.

Meine Damen und Herren! In diesem Zusammenhang erhebe ich auch einen Vorwurf an dieses Haus: Sie lassen die Landesregierung mit diesem Reformprojekt viel zu lange allein laufen. Inzwischen ist es fast schon so, dass es heißt: Jetzt können wir doch schon fast nicht mehr anders. Das wäre für den einen oder anderen wiederum ein Gesichtsverlust. Hierauf wollen wir mit unserem Antrag aufmerksam machen.

Ich will im Übrigen sagen: Es gibt zwei Arten von Kosten, denen Sie sich mittelfristig stellen müssten. Die Personalkosten werden dramatisch steigen bzw. die Verfahren werden dramatisch länger dauern und außerdem werden unsere Baukosten ganz erheblich steigen.

Eine bundesweite Statistik: 69 000 Berufungen sind bisher bei den Oberlandesgerichten entschieden worden. Kommt diese Änderung, sind es 170 000. Nach

einer Berechnung des Bundesjustizministeriums sollen 961 OLG-Richter diese 170 000 Verfahren entscheiden. Bisher sind 934 Richter an den Oberlandesgerichten in der Bundesrepublik tätig. Die Bundesjustizministerin rechnet also mit einem Aufwuchs um knapp 30 Stellen.

Obwohl die 934 Richter bisher nur 70 000 Berufungen bearbeitet haben, sollen sie in Zukunft - um 30 Köpfe verstärkt - 170 000 Berufungen erledigen. Das ist eine Milchmädchenrechnung, die nicht funktionieren kann. Im Gegensatz dazu ist darauf hinzuweisen, dass 521 Landgerichtsrichter 100 000 Berufungen gegen Amtsgerichtsurteile erledigt haben.

Wenn Sie sich das einmal in der Relation ansehen - bezogen auf einige Landgerichtsbezirke besonders im Land Baden-Württemberg -, dann gibt es überhaupt keinen Grund, warum diese Zahlen nicht auch für uns genauso zutreffend sein sollten.

Das heißt, die Zahl der Richter wird sich erhöhen. Der Richterbund in diesem Lande hat übrigens schon gesagt, dass die Belastungszahlen für die Richter an den Amtsgerichten entsprechend erhöht werden müssen. Ich weiß, dass es auch andere Berechnungen gibt. Aber jeder, der eine Reform durchsetzen will, rechnet das erst einmal billig. Das dicke Ende in Form von Kosten kommt später.

Herr Abgeordneter Remmers, Ihre Redezeit ist erschöpft. Ich möchte Sie bitten, zum Ende zu kommen.

Danke schön. Ich mache nur noch eine letzte Bemerkung.

Es war mir schon klar, dass man nicht alle Argumente vorbringen kann. Deshalb reicht es mir schon, wenn ich etwas Betroffenheit und Nachdenklichkeit gerade auch bei den die Regierung tragenden Fraktionen erreichen kann.

Ich will nur noch ein Letztes sagen, meine Damen und Herren. Mit der Zusammenfassung der Berufungen beim Oberlandesgericht führen wir alle übrigen Gerichte in die erste Instanz. Das heißt, es gibt keinen Unterschied mehr zwischen Amtsgerichten und Landgerichten in diesem Sinne. Sie werden gerade noch durch die Höhe der Streitwerte bei den Eingängen unterschieden.

Jeden, der unserem Antrag nicht zustimmt - ich würde sogar erwägen, ob man wegen der Komplexität der Dinge nicht noch einmal im Ausschuss darüber reden sollte; von mir aus könnten wir das auch überweisen, aber diesbezüglich warte ich auch auf Ihre Anregungen -, will ich nur darauf hinweisen, dass wir erleben werden, dass die Gerichtsstruktur infolge dieses Gesetzes dramatisch verändert wird. Sie müssen wissen, ob Sie das wollen.

(Herr Dr. Brachmann, SPD: Wir wollen das!)

Wir möchten ein funktionierendes System, wie wir es haben, nicht zerstören und bitten darum, dass Sie unserem Antrag zustimmen.

(Beifall bei der CDU)

Danke sehr. - Für die Landesregierung spricht jetzt die Ministerin der Justiz Frau Schubert. Bitte, Frau Ministerin.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Remmers, Sie haben mich eben das Fürchten gelehrt. Wenn das wirklich geschehen würde, was Sie dargestellt haben, dann wäre ich die Letzte, die einer solchen Reform zustimmen würde.

(Herr Scharf, CDU: Herr Remmers irrt selten!)

Sie kennen die Anzahl und die Grenzen derjenigen Richter, die in Zivilangelegenheiten beim Amtsgericht, beim Landgericht oder beim Oberlandesgericht tätig sind, sehr genau. Sie kennen auch die Unterschiede zwischen einem kollegialen Spruchkörper und einem Einzelrichter. In diesem Bereich liegt die Lösung, die uns das Ganze ohne Mehrkosten durchführen lässt.

Meine Damen und Herren! Über den Entwurf des Zivilprozessreformgesetzes ist in der letzten Zeit viel diskutiert worden. Das ist bei einem umfassenden Reformvorhaben selbstverständlich und auch sinnvoll, um ein möglichst ausgewogenes und zufrieden stellendes Ergebnis zu erhalten. Auch wir haben uns an dieser Diskussion detailliert beteiligt. Sachsen-Anhalt hat sich an dem Reformentwurf mit einer Fülle von Änderungsanträgen beteiligt.

Das Zivilprozessreformgesetz ist ein Schritt in die richtige Richtung. Ich möchte sie deshalb bitten, dieses Reformvorhaben zu unterstützen und nicht durch ein Festhalten an Überkommenem infrage zu stellen.

Die Zivilprozessordnung ist vor über 120 Jahren in Kraft getreten. In dieser Zeit haben unsere Gesellschaft, die Stellung des Bürgers und die wirtschaftlichen Verhältnisse grundlegende Veränderungen erfahren, ohne dass im Bereich des Zivilprozesses grundlegende strukturelle Neuerungen in Angriff genommen worden sind.

Die derzeitigen Rechtszüge sind - im Übrigen aus rein historischen Gründen - unübersichtlich, uneinheitlich und für den rechtsunkundigen Bürger nicht ohne weiteres zu durchschauen. Teilweise beginnt der Zivilprozess beim Amtsgericht, teilweise beginnt er am Landgericht. Das hat nicht immer etwas mit der Höhe des Streitwertes zu tun. Urteile der Amtsgerichte sind teils mit der Berufung zum Landgericht, teils mit der Berufung zum Oberlandesgericht anfechtbar.

In einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat kann der Rechtsuchende durchschaubare Justizstrukturen und Verfahrensabläufe sowie eine zügige Behandlung seiner Angelegenheiten erwarten, ohne dass mehrere Instanzen in Anspruch genommen werden müssen.

Das Zivilprozessreformgesetz sieht daher eine klare Funktionsdifferenzierung zwischen den einzelnen Instanzen vor. In der ersten Instanz soll der Fall künftig tatsächlich so umfassend beurteilt werden, dass er im Regelfall dort auch abschließend entschieden werden kann.

Herr Remmers, Sie haben eben von einer dramatischen Verfahrensverzögerung geredet. Natürlich wird ein Prozess, in dem die Parteien in Ruhe angehört werden und nicht wie bisher möglicherweise gar nicht am Prozess teilhaben, etwas länger dauern, weil sich der Richter mehr Zeit für das einzelne Verfahren nehmen muss. Aber wenn es denn nur eine einzelne Instanz geben sollte, denke ich, wird das Gesamtverfahren durchaus kürzer als bisher.

Die Instanz für die Berufung soll von der heute bestehenden vollständigen Tatsacheninstanz zu einer Instanz der Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung umgestaltet

werden. Das heißt, das Verfahren wird nicht wieder komplett neu aufgerollt, auch hinsichtlich der Dinge, die längst abschließend entschieden sind. Es wird sich vielmehr nur noch auf die Punkte konzentrieren, bei denen festgestellt worden ist, dass dort ein Fehler unterlaufen ist.

Derzeit bestimmt das geltende Prozessrecht, dass der Rechtsstreit in der Regel vor dem Berufungsgericht komplett neu verhandelt wird, als ob es die erste Instanz überhaupt nie gegeben hätte. Hierdurch wird dem Recht suchenden Bürger der Eindruck vermittelt, der Prozess gehe in der zweiten Instanz erst richtig los.

Mit diesem Anreiz wird zum Beispiel aus Verzögerungsabsicht manchmal ein Rechtsmittel gegen solche Entscheidungen eingelegt, bei denen der Sachverhalt ohne Verfahrensfehler festgestellt und das materielle Recht zutreffend angewandt worden ist. Insofern handelt es sich um eine vom geltenden Zivilprozessrecht ausgehende Fehlsteuerung; denn die Rechtsordnung soll vielmehr darauf hinwirken, dass rechtsfehlerfreie Urteile möglichst bald Rechtskraft erhalten, damit zwischen den Prozessparteien Rechtsfrieden eintritt.

Organisatorisch wird die klarere Strukturierung des Zivilprozesses und der einzelnen Instanzen dadurch umgesetzt werden, dass in der Tat - in dieser Hinsicht haben Sie völlig Recht - künftig sämtliche Berufungen und Beschwerden - nicht nur Berufungen, auch Beschwerden - beim Oberlandesgericht behandelt werden.

Die vorgesehene Konzentration der Berufungen beim Oberlandesgericht wird dazu führen, dass der Instanzenzug einfacher, übersichtlicher und damit bürgernäher wird. Dabei ist der Begriff „Bürgernähe“ nicht mit örtlicher Nähe des Gerichts gleichzusetzen, die angesichts der veränderten gesellschaftlichen Verhältnisse, der verbesserten Infrastrukturen und größerer Mobilität ohnehin kaum noch von entscheidender Bedeutung sein dürfte. Wir haben derzeit auch nur ein Landesarbeitsgericht, ein Oberverwaltungsgericht und ein Landessozialgericht im Land.

Ein weiterer Vorteil im Interesse der Bürgerfreundlichkeit ist, dass ein einheitliches Berufungsgericht zur Einheitlichkeit der Rechtsprechung und damit zu mehr Rechtssicherheit beiträgt. Hierdurch kann vermieden werden, dass eine Rechtsfrage je nach Gerichtsbezirk unterschiedlich beantwortet wird.

Die Konzentration wird für den Bürger auch keinen Verlust an Bürgernähe bedeuten. Im Berufungsverfahren herrscht bereits heute Anwaltszwang, sodass die Partei ihren Anwalt gar nicht zum Gericht begleiten muss. Schon jetzt ist für Berufungen in Familiensachen allein das Oberlandesgericht zuständig, ohne dass das bisher zu Unzuträglichkeiten geführt hat.

Auch dem Argument, dass es aufgrund der räumlichen Entfernung Probleme bereiten könnte, einen Anwalt für das Berufungsverfahren zu beauftragen, kann ich nicht folgen. Es stehen auch im Norden Sachsen-Anhalts ausreichend Anwältinnen und Anwälte zur Verfügung, die am Oberlandesgericht in Naumburg zugelassen sind und dort auch ständig erscheinen.

Die Oberlandesgerichte werden die neuen Aufgaben bewältigen. Die geplante Reform des Zivilprozesses sieht durch eine Stärkung der ersten Instanz und eine stärkere Einbindung der Parteien vor, den Fall in der Regel in der ersten Instanz so umfassend zu behandeln, dass er dort auch abschließend entschieden werden

kann. Dies ist kein Rückzug aus der Fläche. Die Berufungsinstanz wird dann nur noch in wenigen Fällen als Instanz der Fehlerkontrolle und Fehlerbeseitigung benötigt werden.

Herr Remmers hat eben schon sehr deutlich gemacht, wie viele Fälle überhaupt in die Berufung gelangen. Von diesen wenigen Fällen werden noch weniger in die Berufung gelangen, weil Berufung nicht mehr nur fristwahrend eingelegt und dann als unbegründet abgewiesen wird und weil sich der Anwalt aufgrund des jetzt vorgesehenen Begründungszwanges schon überlegen muss, ob er erstens weitere Kosten für seinen Mandanten entstehen lässt und ob er zweitens in der Begründung Anhaltspunkte finden kann, die vielleicht doch nicht zu einer Abweisung der Klage führen.

Ich denke, das Oberlandesgericht in Naumburg wird das schon schaffen können.

Es trifft auch nicht zu, dass die überwiegende Zahl der Berufungsverfahren durch Landgerichte bearbeitet wird. Tatsächlich werden mehr als die Hälfte aller Berufungen heute schon durch das Oberlandesgericht entschieden. Nur in etwa einem Sechstel seiner Zivilprozesssachen entscheidet das Landgericht überhaupt als Berufungs- gericht.

Wenn sich künftig das Landgericht nur noch mit erstinstanzlichen Verfahren beschäftigen wird, wird es das ausschließlich tun können, was es bereits heute überwiegend tut. Davon, dass die Landgerichte verkümmerten oder gar austrockneten, kann keine Rede sein. Vielmehr bleibt mehr Raum, um den Fall bereits in erster Instanz umfassend behandeln zu können.

Um dabei eine effizientere Nutzung des vorhandenen richterlichen Personals zu ermöglichen, sieht der Entwurf vor, dass regelmäßig der Einzelrichter und nicht ein aus drei Richtern bestehendes Kollegium entscheidet. Die im Rahmen des Reformvorhabens durchgeführten rechtstatsächlichen Untersuchungen lassen nicht den Schluss zu, dass die Urteile des allein entscheidenden Richters von minderer Qualität wären als die eines Kollegialspruchkörpers. Auch in England, Frankreich, Österreich, Italien und der Schweiz wird die überwiegende Zahl der Zivilrechtsstreitigkeiten durch den Einzelrichter erledigt.

Herr Remmers, Sie hatten vorhin auf die Verwaltungsgerichtsordnung hingewiesen und auf die Länge der in diesem Zusammenhang durchgeführten Prozesse. Sie wissen, dass die sechste Verwaltungsgerichtsordnungsnovelle auch den Einzelrichter eingeführt hat mit der Folge, dass wir erheblich kürzere Verfahrenszeiten zu vermerken haben. Das Gleiche gilt auch für die Zulassungsberufung, die bei den Verwaltungsgerichten eingerichtet ist. Es hat sich gezeigt, dass erheblich weniger Eingänge beim OVG zu verzeichnen sind.

Weiterhin ist vorgesehen, dass grundsätzlich die Akte bei Prozessbeginn sogleich zum Einzelrichter gelangt und nicht erst vom Vorsitzenden eines Kollegialspruchkörpers dem Einzelrichter zugewiesen wird. Ich denke, auch das wird eine Verfahrensbeschleunigung herbeiführen.

Das Zivilprozessreformgesetz hat auch Vorkehrungen getroffen, dass die Oberlandesgerichte in die Lage versetzt werden, die bisher von den Landgerichten erledigten Berufungen zusätzlich zu bearbeiten. Die alten Berechnungen aus dem Jahre 1996 können nicht herangezogen werden, da sie die aktuellen Maßnahmen, die

einem ungleichgewichtigen Personaleinsatz entgegenwirken sollen, noch gar nicht berücksichtigen.