Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 67. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der dritten Wahlperiode. Dazu begrüße ich Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste. Ich frage mich immer, warum manche Abgeordnete nicht mindestens fünf Minuten früher im Plenarsaal erscheinen können. Ich begrüße darüber hinaus ganz herzlich Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Gröningen.
Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest. Wir setzen nunmehr die 36. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit dem Tagesordnungspunkt 1. Danach folgt wie vereinbart Tagesordnungspunkt 6. Es folgen dann die Tagesordnungspunkte 9 bis 11.
In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit der Fraktionen zehn Minuten je Thema. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.
Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS, DVU, SPD, FDVP, CDU. Zunächst hat der Antragsteller, die PDS-Fraktion, das Wort. Bitte, Frau Dr. Hein.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! „Haltet den Dieb!“ betitelt Dr. Jürgen Mannke, Vorsitzender des Philologenverbandes in Sachsen-Anhalt, seinen Gastkommentar in der gestrigen „Volksstimme“. Aber wer ist der Dieb? Es ist die erschreckte Reaktion eines Gymnasiallehrers auf die massiv geäußerten Lesermeinungen der letzten Tage, die in Auswertung der Pisa-Studie unerwartet häufig und in kaum gekannter Schärfe eine Rückkehr zur Polytechnischen Oberschule der DDR fordern. Ich meine, so leicht, wie es sich Herr Mannke auf der einen Seite und die zitierten Lesermeinungen auf der anderen Seite machen, können wir es uns nicht machen.
Ungeachtet bildungspolitischer Auffassungen sind Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen. Ich sage das mit aller gebotenen Vorsicht und ohne die Forderung nach einer flächendeckenden Einführung der integrierten Gesamtschule gleich hinterherzuschieben. Eine dieser Wahrheiten, die wir zur Kenntnis nehmen müssen, ist: Das gegliederte System ist kein Weg aus der Bildungsmisere und schon gar kein Königsweg.
Deutschland erreicht mit der Dominanz der gegliederten Bildungswege keineswegs mehr gute Bildungsleistungen
als integrierte Systeme, dafür aber wesentlich mehr schlechte Lernleistungen. Die Diskrepanz zwischen guten und schlechten Schülerleistungen ist in Deutschland so hoch wie in keinem anderen Land. Für die sozialen Disparitäten gilt das ebenso.
Dabei greifen die von Herrn Dr. Mannke erhobenen Vorwürfe nicht. In Anbetracht bundesweiter Erhebungen könnte die Förderstufe - wäre sie noch so schlecht kaum ein so dramatisches Ergebnis verursachen. Noch weniger kann die Aufhebung des Hauptschulbildungsganges in Sachsen-Anhalt dafür verantwortlich gemacht werden; denn die in die Erhebungen einbezogenen Schülerinnen und Schüler wurden noch in getrennten Bildungsgängen unterrichtet. Hier können die Ursachen nicht liegen, eher im Gegenteil.
Es zeigt sich, dass Länder mit besseren Schülerleistungen sowohl in der Spitze besser sind wie auch insgesamt. In der Regel sind sie das mit integrativen Bildungswegen oder mit solchen mit späterer äußerer Differenzierung.
Mir scheint, dass die erschreckte Öffentlichkeit nun den Ausweg aus der Misere nicht nur kurzschlüssig, sondern auch in der falschen Richtung sucht. Gefordert werden nämlich unter anderem mehr Hausaufgaben, mehr Leistungsdruck und die Wiedereinführung von Kopfnoten, um die nicht vorhandene Motivation zu ersetzen.
Auch ein Zurück zur DDR-Schule möchte ich nicht, weil sie neben vielen anderen Defiziten auch Methoden differenzierter Förderung zu wenig zu entwickeln vermochte. Für mehr Integration und eine längere gemeinsame Schulzeit bin ich allerdings schon. Nur erfordert das auch andere Lehr- und Lernmethoden, als sie die Schulen in Deutschland in der Mehrheit derzeit bieten.
Sicherlich gibt es auch Erfahrungen, die man sich nicht erst als so genannte Neuerungen bundesdeutscher Erziehungswissenschaftler erklären lassen müsste. All das bringt uns aber noch nicht aus der Misere.
Die Wege aus den Bildungsdefiziten müssen grundlegender und tiefgreifender sein. Ich möchte mich auf zwei Aspekte beschränken, weil zehn Minuten Redezeit natürlich nicht ausreichen, um über das gesamte Thema zu debattieren.
Erstens. Ich komme auf das gesellschaftliche Klima für die Bildung in Deutschland zu sprechen. Lernmotivationen werden in einem wesentlichen Umfang durch das gesamte gesellschaftliche Klima vorgeprägt. Wenn die Mehrheit der Bundesdeutschen immer weniger Spaß an der Arbeit hat, wenn Jugendliche - besonders im Osten schlechte Aussichten auf eine Lehrstelle haben und noch schlechtere auf einen Arbeitsplatz, dann schwindet die Motivation zum Lernen schon bei Kindern in beträchtlichem Maße.
Wie aber die Deutschen so sind, ziehen sie aus einem festgestellten Mangel wenig hilfreiche Schlussfolgerungen. Wo Motivationen fehlen, sollen sie durch höheren
Leistungsdruck und Kopfnoten ersetzt werden. Bei der CDU-Fraktion könnte man damit gleich einmal anfangen.
Was für eine Motivation aber soll aus einer solchen Betragensnote erwachsen? Mund halten und still sitzen wahnsinnig motivierend. Das Problematischste an der ganzen Sache scheint mir jedoch zu sein, dass dieser Ansatz in der Öffentlichkeit durchaus Akzeptanz findet.
Ein Spiegel für das gesellschaftliche Klima für Bildung ist die Bereitschaft zum Einsatz von öffentlichen Mitteln. Öffentliche Ausgaben für Bildung sind keine sozialen Wohltaten, sondern dringend notwendige gesellschaftliche Daseinsvorsorge. Hierbei hat Deutschland insgesamt in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten erhebliche Versäumnisse zugelassen. Vor allem gemessen am Bruttoinlandsprodukt ist der Anteil der Bildungsausgaben in Deutschland deutlich geringer als in anderen OECD-Ländern. Insbesondere im Primarbereich liegt Deutschland deutlich unter dem, was andere Länder für Schüler aufwenden. Darüber kann auch der hohe Anteil der Bildungsausgaben an den Haushalten von Ländern und Kommunen nicht hinwegtäuschen.
Bildungsausgaben müssen auch im Bund künftig endlich nicht nur deklamatorisch, sondern tatsächlich als Investitionen bewertet werden. Vor allem aber wird aus den Bildungsaufwendungen in Deutschland zu wenig Bildung gemacht. Die Pisa-Studie belegt nämlich, dass es den deutschen Schülern an Kreativität und Problemlösungskompetenz mangelt. Bessere Betragensnoten und Leistungsdruck werden das nicht richten können.
Damit sind wir beim zweiten großen Komplex: den Bildungsinhalten und der Qualität von Schule. In der Ausstellung über die Künstlervereinigung „Die Brücke“ in Dresden beklagten sich Schüler kürzlich, dass das Gerenne durch die Ausstellung mit dem Ziel, die blöden Fragen zu beantworten, ihnen die Freude an den Bildern gründlich vermiese.
Genau das ist das Problem. Wir verlangen mechanisch abfragbares, in Formeln und Fakten verpacktes Wissen, kein anwendungsbereites, keine Freude am Lernen, am Entdecken. Denken in Zusammenhängen wird wenig gefördert, selbständiges Arbeiten und Kreativität ebenso wenig. Methodenwissen verschwindet hinter der Fülle von Stoff. Wissen wird nicht in einen Zusammenhang mit der Lebenswirklichkeit von Schülerinnen und Schülern gebracht. Kompetenzen entwickeln sich so nicht. Genau das hat die Pisa-Studie aber gefordert.
Veränderungen sind nicht allein mit einer so genannten Entschlackung der Rahmenrichtlinien zu erreichen und auch nicht durch mehr zentralisierte Anforderungskataloge und zentrale Prüfungen, sondern nur durch den Übergang zu anderen Lehr- und Lernmethoden verbunden mit einer Neuordnung der Lerninhalte und des Verständnisses von Allgemeinbildung.
Zudem tut die deutsche Schule entschieden zu wenig für den sozialen Nachteilsausgleich in der Bildung und für die individuelle Förderung sowohl von Leistungsschwächeren als auch von Leistungsstarken. Die Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen funktioniert vor allem nach unten. Ansonsten steht sie vor allem auf dem Papier.
All das rächt sich nun. Ohne eine solide Breite wird es keine solide Spitze geben und die Zahl der aus der Gesellschaft Ausgegrenzten wird größer. Dies schürt letztlich auch den sozialen Unfrieden in der Gesellschaft. Darum legt die PDS neben der Qualifizierung der Grundschule großen Wert auf die Entwicklung von Sekundarschulen als der Schulform, in der die Mehrheit der Kinder lernt.
Darum meinen wir, dass der Zwang zur äußeren Differenzierung kontraproduktiv ist und für die Gesamtschule wie für die Sekundarschule eigentlich aufgehoben werden müsste. Stattdessen müssen Formen integrativer Förderung weiterentwickelt werden. Ohne grundlegende Bildungsreformen geht dies allerdings nicht. Natürlich müssen wir dabei auch über die Größe von Lerngruppen und über zusätzliche Stundenvolumina für die individuelle Förderung reden. Auch über Ganztagsangebote müssen wir reden.
Meine Damen und Herren! Wir sind weit davon entfernt, eine Woche nach Vorliegen dieser Studie, obwohl man es eigentlich schon immer wusste, fix einen kompletten Aufgabenkatalog vorlegen zu wollen. Wir meinen aber, dass es nicht nur die Bildungspolitiker angeht, was mit der Schule in Deutschland passiert. Wir brauchen einen offenen gesellschaftlichen Dialog über Bildung, der die Erfahrungen anderer Länder aufnimmt und zu politischen Konsequenzen führt, und nicht die Verdächtigung von Reformversuchen.
Das Gefährlichste für uns wäre, wenn jeder seine geliebten Vorurteile weiter pflegte und bediente und dann irgendwann in den nächsten Wochen wieder zur Tagesordnung überginge. Spätestens bei der nächsten PisaStudie - ich glaube, im Jahr 2004 wird die nächste kommen - heißt es dann wieder: Haltet den Dieb!
Lassen Sie uns die Wahrheiten der Pisa-Studie auf- und vor allem annehmen und Bildungsreformen in Deutschland nicht beargwöhnen, sondern sie endlich möglich machen. - Danke schön.
(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD, von Minister Herrn Dr. Harms und von Ministerin Frau Dr. Kuppe)
Danke sehr. - Der nächste Beitrag kommt von der Fraktion der DVU. Ich bitte Frau Brandt, das Wort zu ergreifen.
Herr Präsident! Werte Herren und Damen! Zum Ergebnis dieser Bildungsstudie kann man deutschlandweit allgemein hören, dass sich Politiker und Verbände den schwarzen Pisa-Peter gegenseitig zuschieben. Keiner der Zuständigen fühlt sich für dieses Debakel verantwortlich. Ganz im Gegenteil: Man scheint stillschweigend übereingekommen zu sein, dass die Schuld an dieser Misere ganz allein die faulen und bildungsunwilligen Schüler Deutschlands treffe, sind doch nach den Testaussagen die 15-Jährigen in Deutschland im Zeitalter der Comics und Piktogramme nicht einmal mehr in der Lage, den Inhalt von Fahrplänen oder von Beipackzetteln von Medikamenten zu verstehen. Dies ist ein bedenkliches Alarmsignal.
Es bleibt nur zu hoffen, dass sich zumindest durch diesen aussagekräftigen Punkt der Studie nicht auch
gleichzeitig viele Erwachsene peinlich berührt fühlen, denen es beim Lesen der stets so allgemein verständlich gehaltenen Formulierungen von Fahrplänen, Beipackzetteln und Gebrauchsanweisungen zumeist nicht besser ergeht als den getesteten Schülern. Das nur einmal am Rande.
Sogar beim Rechnen sollen bei unseren Schülern Probleme aufgetreten sein - und das im Computerzeitalter. Den Kindern und Jugendlichen wird in der multimedialen Welt doch stets suggeriert: Wozu muss man denn das Einmaleins beherrschen, wenn es doch den allwissenden Computer gibt? Nur die Beherrschung von Computerkenntnissen sei unabdingbar, den Rest des Bildungsauftrages übernähmen dann die Medien mit ihren immer anspruchsvoller werdenden, bunten Inhalten.
Aus dieser Sicht hat sich demnach die Frage nach der Zuständigkeit von Politikern in puncto Bildungsauftrag längst von selbst erledigt, was diese sehr wohl wissen. Daher müssen vor allem unsere Bildungspolitiker mit immer neuen Ideen und Experimenten stets aufs Neue um ihre Daseinsberechtigung kämpfen.
Hierzulande wird in diesem Zusammenhang beispielsweise propagiert, man müsse den Lebensmittelpunkt der schulpflichtigen Kinder vom Elternhaus in die Schule verlagern. Dadurch solle den Kindern die Chance eingeräumt werden, für eine längere Zeitspanne der konfliktträchtigen Einflusssphäre ihrer größtenteils von Arbeitslosigkeit betroffenen Elternhäuser zu entrinnen. Das nenne ich eine bildungsinnovative Idee: die Schule als Bewahranstalt. Dann klappt es bestimmt künftig gleich viel besser mit dem Lesen von Beipackzetteln.
Damit der Ideen aber noch nicht genug. Auch das Schulsystem galt es in diesem Land einmal so richtig von Grund auf zu reformieren. Herausgekommen ist dabei die neue Sekundarschule, wie wir alle wissen. Man war sich hierbei einig, dass nur die Einführung eines integrativen Schultyps die Bildungswende zum Besseren bewirken könnte.