Protokoll der Sitzung vom 22.02.2002

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir haben soeben die Beschlussfähigkeit erreicht. Ich eröffne die heutige 71. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode. Dazu darf ich Sie ganz herzlich begrüßen.

Wir setzen nunmehr die 38. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit dem Tagesordnungspunkt 2, der Aktuellen Debatte. Danach folgen die Tagesordnungspunkte 5, 8 und 9. Daran schließt sich der Tagesordnungspunkt 21 an, der gestern nicht abgearbeitet werden konnte.

Meine Damen und Herren! Ich rufe Tagesordnungspunkt 2 auf:

Aktuelle Debatte

In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit der Fraktionen zehn Minuten pro Thema. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten.

Ich rufe das erste Thema auf:

Schuldzuweisungen des Bundesfinanzministers an die Länder und Kommunen

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 3/5317

Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS, DVU, CDU, FDVP, SPD. Zunächst hat der Antragsteller das Wort. Nach der PDS-Fraktion wird Minister Herr Gerhards Stellung nehmen. - Ich bitte jetzt Herrn Professor Dr. Trepte, für die PDS-Fraktion das Wort zu ergreifen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Thema dieser Aktuellen Debatte hat eine Besonderheit. Sie besteht darin, dass das Thema jeden Tag aktueller wird. Seit Montag dieser Woche nehmen die Auseinandersetzungen um den blauen Brief aus Brüssel nahezu groteske Züge an.

Zur Ausgangslage: Zur Wahrung der Währungsstabilität des Euros wurden im Vertrag von Maastricht vier Stabilitätskriterien verabredet, die sowohl die Voraussetzung für die Aufnahme in die Währungsunion waren als auch von den Mitgliedsländern beständig einzuhalten sind. Eines der Kriterien besagt, dass die Neuverschuldung der Gebietskörperschaften im Verhältnis zum Bruttoinlandsprodukt beständig geringer als 3 % sein muss. Damit ist das Gesamtziel verbunden, mittelfristig einen ausgeglichenen Haushalt zu erreichen. Dabei wird die Gesamtverschuldung aller Gebietskörperschaften eines Mitgliedslandes zugrunde gelegt.

Die Tatsachen: Für das Jahr 2001 hatte sich Deutschland entgegen allen unabhängigen Konjunkturprognosen für diese Defizitquote das ehrgeizige Stabilitätsziel von 1,1 % gesetzt. Gelandet ist Deutschland bei 2,6 %.

Gemäß den Vereinbarungen zum Frühwarnsystem im EU-Vertrag in der Fassung von 1995 war eine Anmahnung Deutschlands notwendig geworden. Gemäß Arti

kel 104 kann und muss der Rat der EG auf Empfehlung der Kommission das Frühwarnsystem dann in Gang setzen, wenn er die Gefahr eines übermäßigen Defizits erkennt und wenn nach seiner Auffassung das mittelfristige Ziel eines ausgeglichenen Haushalts als gefährdet angesehen werden muss. Der blaue Brief musste also kommen.

Herr Finanzminister, ich möchte Folgendes klarstellen. Sie, Herr Minister, werden am 13. Februar 2002 in der Presse wie folgt zitiert - ich zitiere mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident -:

„Die Frühwarnung wäre ein falsches Signal gewesen, weil wir die 3%-Grenze noch nicht erreicht haben.“

Herr Minister, dazu muss ich bemerken: Bei 3 % bekäme Deutschland keinen blauen Brief, sondern es erhielte vom Rat einen Bußgeldbescheid über 0,2 bis 0,6 % des Bruttoinlandsprodukts.

(Zustimmung von Herrn Dr. Sobetzko, CDU)

Man muss Artikel 104 des EG-Vertrages schon etwas genauer lesen.

Seit bekannt wurde, dass die Kommission das Frühwarnsystem in Form des blauen Briefes in Gang setzen will, interveniert die Bundesregierung insbesondere in persona des Bundesfinanzministers in Brüssel, um zu erreichen, dass von diesem blauen Brief abgesehen wird.

Am 12. Februar 2002 hatte diese Intervention Erfolg: Deutschland bekommt keinen blauen Brief. Portugal aber, ein weiterer potenzieller Adressat eines solchen blauen Briefes, bekommt ihn. - Meine Damen und Herren! Das ist ein falsches Signal für Europa, ein falsches Signal für die Stabilität des Euros.

(Zustimmung von Herrn Dr. Bergner, CDU)

In einer österreichischen Zeitung las ich im Urlaub am 13. Februar 2002: Mit dem blauen Brief hätte der EUMinisterrat klargestellt, dass kein Mitgliedstaat, sei er noch so groß und noch so mächtig, sich den Spielregeln entziehen könne. Die „Süddeutsche Zeitung“ überschreibt am gleichen Tag einen Artikel wie folgt:

„Eichel hat den blauen Brief abgewehrt, doch Europa ist der Verlierer“.

Deutschland hatte sich gemeinsam mit Frankreich beim Zustandekommen des Vertragswerks für harte Grenzwerte bei den Stabilitätskriterien und für harte Anordnungen bzw. Sanktionen bei deren Nichteinhaltung gegenüber anderen Mitgliedsländern, zum Beispiel gegenüber Portugal, Griechenland und Italien, eingesetzt.

Nun soll der Bundessparminister als Erster den blauen Brief erhalten. Das ist ein fataler Genickschlag für ihn. Also sucht er Schuldige. Er findet natürlich die Schuldigen: Die Länder und die Kommunen sind es, die durch eine unbotmäßig hohe Neuverschuldung den bisherigen Klassenprimus im Sparen auf die Anklagebank gesetzt haben. Die Länder und die Kommunen sind es, die der Empfehlung des Finanzplanungsrats, bei der Defizitquote die 2%-Schwelle nicht zu überschreiten, nicht Folge geleistet haben oder - das sage ich - nicht Folge leisten konnten.

Das Paradoxe an dieser Situation ist Folgendes: Der Bund stranguliert die Haushalte von Ländern und Kommunen und schiebt ihnen dann den schwarzen Peter für

den angedrohten blauen Brief zu. Das ist unanständig, meine Damen und Herren. Das ist instinktlos - um einen weit stärkeren Begriff zu umgehen. Aber so ist er nun einmal, unser Bundesfinanzminister.

Warum treibt die Eichel'sche Finanzpolitik Länder und Kommunen immer tiefer in die Schuldenfalle?

Erstens. Die Bundesregierung saniert den Bundeshaushalt beständig zulasten der Haushalte der Länder und der Kommunen. - Ich nenne ein Beispiel dafür: Die neu eingeführte Ökosteuer fließt ausschließlich dem Bundeshaushalt zu. Die nachfolgend aus unserer Sicht notwendig gewordene verkehrsmittelunabhängige Entfernungspauschale führt zu Steuermindereinnahmen bei den Ländern und den Kommunen, ohne dass diesen dafür ein Ausgleich gewährt würde.

Ein weiteres Beispiel: Der Bund kassiert für die Versteigerung der UMTS-Lizenzen 100 Milliarden DM. Die Länder gehen - zumindest bisher - verfassungswidrig leer aus und die Kommunen müssen sich mit Steuermindereinnahmen ohne Ausgleich abfinden.

Zweitens. Mit der Einkommensteuerreform im Jahr 1999 und der Unternehmenssteuerreform im Jahr 2000 machte die Bundesregierung Steuergeschenke an Großverdiener und an die großen Kapitalgesellschaften in erheblichen Größenordnungen. Länder und Kommunen müssen diese mitfinanzieren.

Herr Finanzminister, Sie wissen, dass wir im Hinblick auf die Frage der Unternehmenssteuerreform grundsätzlich konträre Positionen vertreten. Trotzdem sage ich Ihnen das Folgende ohne Häme: Allein die Mindereinnahmen, die Sachsen-Anhalt aufgrund der Unternehmenssteuerreform in den Jahren 2001 und 2002 hinnehmen musste, hätten ausgereicht, um den Haushalt dieses Landes nahezu vollständig auszugleichen. Das muss man sich einmal überlegen.

(Zustimmung bei der PDS)

Ich füge hinzu: Das von Ihnen im Jahr 2000 vorausgesagte positive Signal der Unternehmenssteuerreform für die Wirtschaft ist bislang ausgeblieben.

Ich komme abschließend zum Beginn meiner Rede zurück. Ich sagte, die Situation wird zunehmend grotesk. Seit Montag dieser Woche wird der Wahnwitz zum System. Das, was jetzt geschieht, könnte man als kurios bezeichnen, wenn es nicht so ernst wäre.

Bereits die Androhung des blauen Briefes hat den Bundesfinanzminister zutiefst verletzt. Nun will er wieder Klassenprimus werden. Er verkündet neue Ziele: ausgeglichener Bundeshaushalt nicht erst im Jahr 2006, sondern bereits im Jahr 2004 - Erstaunen und Kopfschütteln bundesweit. Der Bundeskanzler setzt noch eins drauf, indem er feststellt, das gehe sogar ohne Steuererhöhungen.

Der Bundesfinanzminister entwickelte in diesem Zusammenhang einen innovativen Vorschlag: Er will über einen so genannten nationalen Solidaritätspakt die Haushaltsautonomie von Ländern und Kommunen unterlaufen. Er will ihnen also vorschreiben, wo, wie und wie viel zu sparen ist, ob Schulden aufgenommen werden dürfen oder nicht usw.

Meine Damen und Herren! Hier kommen wir an die Grenze des föderalen Systems, an die Grenzen der Aushöhlung von Demokratie und der Selbstbestimmung der Länder und der Kommunen. Ich will es einmal in aller

Schärfe formulieren: Wir befinden uns auf dem Weg zur Zwangsverwaltung der Länder und Gemeinden durch den Bund. Das muss einmal so deutlich gesagt werden.

Der SPD-Bundestagshaushaltsexperte Wagner meint, die Länder und die Kommunen müssten kreative Sparpotenziale erschließen. Natürlich sagt er nicht, wo. Er sollte einmal nach Sachsen-Anhalt kommen.

In den letzten Tagen mutet das alles wie eine Vorstellung im Komödienstadel an. Der Bundesverteidigungsminister bestellt Großraumflugzeuge für die Bundeswehr mit einer Garantieerklärung, ohne dafür die Zustimmung des Parlaments eingeholt zu haben. Hochrangige Politiker schlagen vor, nach der Absolvierung einer Arbeitsbeschaffungsmaßnahme kein Arbeitslosengeld mehr zu zahlen usw.

Sind wir denn im Tollhaus, meine Damen und Herren? Kehren wir doch zur politischen Normalität zurück und lassen wir uns den Fortgang der Dinge nicht durch einen gekränkten Bundesfinanzminister diktieren. - Ich danke Ihnen.

(Zustimmung bei der PDS)

Danke sehr. - Für die Landesregierung spricht jetzt der Minister der Finanzen Herr Gerhards.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Lieber Herr Professor Trepte, Sie wissen, ich schätze Sie persönlich sehr und normalerweise auch die Art Ihrer Argumentation, auch wenn wir uns in den Ergebnissen nicht immer einig sind. Aber heute haben Sie unter Ihrem Niveau diskutiert.

(Zuruf von Herrn Dr. Bergner, CDU)

Ich will das noch deutlicher sagen: Sie haben heute klar gemacht, warum die PDS-Fraktion mit Recht immer noch ihren Oppositionszuschlag bekommt. Das war nämlich eine Rede, mit der Sie es sich sehr leicht gemacht haben. Sie ist an den Problemen vorbeigetaucht und war - entschuldigen Sie - sehr populistisch, weil sie sich nicht mit den Themen befasst hat, sondern mit den angeblichen Eitelkeiten des Bundesfinanzministers. Darum geht es in dieser Diskussion nun wirklich nicht. Es geht vielmehr um ein ganz grundsätzliches Problem, das erst jetzt virulent geworden ist.

Ich beginne mit Ihrem Ausgangspunkt. Die Frühwarnung musste nicht kommen, auch nicht nach den Verträgen, die Sie korrekt zitiert haben. Das ist eine Ermessensentscheidung.

(Herr Gürth, CDU: Nehmen Sie doch mal die Hände aus den Taschen!)

Die Voraussetzungen dafür sind gegeben gewesen, aber man musste es nicht; man hätte es auch bleiben lassen können. Juristisch ist dagegen gar nichts zu sagen. Ob es politisch besonders klug gewesen ist, gegen die Frühwarnung oder gegen einen blauen Brief vorzugehen, ist eine andere Frage. In der Sache selbst ist es nicht zu beanstanden.