Sehr geehrte Damen und Herren! Ich heiße Sie alle zur heutigen konstituierenden Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Legislaturperiode, zu der Sie gemäß Artikel 45 Abs. 1 Satz 2 unserer Landesverfassung vom Landtagspräsidenten der dritten Wahlperiode eingeladen worden sind, sehr herzlich willkommen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Auch Parlamente leben von überlieferten Gebräuchen und Übungen. Eine dieser Übungen ist, dass das älteste Mitglied des Landtages die konstituierende Sitzung eröffnen und den ersten Teil dieser Sitzung leiten darf, bis der Herr Präsident oder die Frau Präsidentin des Landtags gewählt ist.
Man hat mir gesagt, dass ich der an Lebensjahren älteste Abgeordnete im Landtag von Sachsen-Anhalt sei, und auch in den Zeitungen ist solches vermeldet worden.
Ich bin Curt Becker aus der Domstadt Naumburg, mit einem Direktmandat gewählter Abgeordneter dieses Landtages. Ich wurde - daraus kann man auch kein Geheimnis machen - am 19. Juni 1936 in Naumburg geboren.
Ich frage aber vorsichtshalber - und schaue mich um -: Befindet sich unter den Abgeordneten vielleicht ein Abgeordneter oder eine Abgeordnete, der oder die älter ist als ich? - Ich sehe, das ist offensichtlich nicht der Fall.
Meine Damen und Herren! Ich eröffne damit offiziell die erste Parlamentssitzung des neu gewählten Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode. Ich begrüße Sie herzlich, und zwar alle Mitglieder des Landtages sowie die große Zahl von Gästen, die heute unserer Sitzung beiwohnen wollen.
Unter unseren Gästen sind viele verdiente Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Man möge es mir nachsehen, wenn ich nur einige wenige namentlich erwähne. Ich begrüße besonders den Präsidenten des Landtages von Sachsen-Anhalt der dritten Wahlperiode Herrn Wolfgang Schaefer
- Herr Präsident, seien Sie uns willkommen -, den Vizepräsidenten des Landtages der dritten Wahlperiode Herrn Walter Remmers
Ein Stück Wehmut mag Sie dort oben auf der Tribüne befallen. Wir freuen uns, dass Sie dennoch gekommen sind.
Ich begrüße die Vertreter des Militärs und ich begrüße die hohe Geistlichkeit. Die Herren Bischöfe haben nicht zugesagt, aber ich sehe die Vertreter der evangelischen und der katholischen Kirche bei der Landesregierung. Ich begrüße Herrn Steinhäuser und Herrn Rether. Seien Sie uns herzlich willkommen!
Ich sage Ihnen noch einmal Dank für den Fürbittgottesdienst, mit dem Sie uns im Grunde genommen den Weg in die nächsten vier Jahre gewiesen haben.
Auf den Tribünen haben weitere Ehrengäste der Fraktionen Platz genommen, die ich ebenfalls im Namen des Hohen Hauses ganz herzlich begrüße.
Zwei Personen möchte ich besonders begrüßen, zum einen den scheidenden Ministerpräsidenten Herrn Dr. Reinhard Höppner
Nun weiß ich aus meiner Tätigkeit als Bürgermeister und Oberbürgermeister: Man hat bei solchen Begrüßungen immer jemanden vergessen. Deshalb sage ich: Diejenigen, die auf den Tribünen Platz genommen haben und die vergessen wurden, die von besonderer Wichtigkeit sind und die vielleicht von weniger großer Wichtigkeit sind, sind uns die am herzlichsten Begrüßten.
Ich begrüße auch alle anderen, die als Gäste zu uns gekommen sind, um heute dieser Eröffnungssitzung beizuwohnen. Außerdem heiße ich herzlich willkommen die Journalisten von Presse, Funk und Fernsehen. Mögen Sie uns in den nächsten vier Jahren mit derselben Fairness begleiten, mit der Sie das in den letzten zwölf Jahren getan haben. Herzlich Willkommen!
Meine Damen und Herren! Ich beginne nun mit einigen persönlichen Worten. Das steht dem Alterspräsidenten zu. Eigentlich war vorgesehen, dass ich an dieser Stelle aufstehe, aber das Mikrofon gibt das nicht her. Sie müssen also mit mir sitzend vorlieb nehmen.
Ich möchte mich, weil ich Ihren Tatendrang hier oben förmlich spüre - Sie möchten jetzt die Tagesordnung, die vor Ihnen liegt, abarbeiten -, bei meinen Ausführungen im Wesentlichen auf drei Punkte beschränken.
Zunächst möchte ich das Augenmerk richten auf die Frage, die auch heute im Fürbittgottesdienst angesprochen wurde, nämlich die Frage des Mandats auf Zeit.
Dem Landtag in seiner jetzigen Zusammensetzung gehören nur noch 24 Mitglieder an, die im Jahr 1990 den Einstieg in die Landespolitik wählten und seitdem ununterbrochen Mitglied des Landtags waren. Davon gehören zwölf der SPD-, neun der CDU- und drei der PDSFraktion an. Das verdeutlicht, dass wir als Abgeordnete ein Mandat auf Zeit ausüben. Es ist sicherlich von unterschiedlicher Dauer, aber es währt in der Regel nicht länger als zwölf bis 16 Jahre.
Im Verlauf meiner Parlamentsjahre sind mir Zweifel daran gekommen, ob wir uns immer dessen bewusst sind, dass das ein Mandat auf Zeit ist. Gesagt ist das rasch, vor allem dann, wenn man sich gegenüber dem Bürger
geriert, sich in Wahlveranstaltungen volksnah gibt. Dann kommt einem das Bekenntnis „Es ist ja nur eine Zeitaufgabe“ sehr schnell über die Lippen. Doch ist es uns wirklich immer bewusst, dass die Landtagsarbeit kein Beruf, sondern nur eine zeitweilige Berufung ist, ein Mandat auf Zeit?
Wer heute in einer großen Tageszeitung unseres Landes gelesen hat, musste erfahren, dass immerhin fünf Abgeordnete vor der Landtagswahl in die Rubrik „Beruf“ die Bezeichnung „Landtagsabgeordneter“ eingetragen haben. Das mag ein Versehen gewesen sein. Aber eine Tendenz wird daraus immerhin erkennbar.
Sieht man einmal von der besonderen Einstiegssituation von Parlamentariern im Jahr 1990 ab, so gilt heute, zwölf Jahre danach: Wir müssen wissen, worauf wir uns einlassen, wenn wir uns vorübergehend als Abgeordnete engagieren. Ein jeder muss für Beruf und berufliches Fortkommen selbst Vorsorge treffen. Das Land Sachsen-Anhalt kann dafür, dass wir eines Tages nicht mehr hier sitzen werden, nicht in Haftung genommen werden, einmal abgesehen von einigen Übergangsregelungen, die vernünftig und auch gerechtfertigt sind.
Einigen jüngeren Mitgliedern des neuen Landtags, die sich noch in der Berufsausbildung befinden, erlaube ich mir von hier oben aus zuzurufen: Vernachlässigen Sie Ihre Ausbildung nicht um der Politik willen! Setzen Sie Prioritäten! Es gibt nichts Kläglicheres als Politiker ohne Beruf oder mit einer abgebrochenen Berufsausbildung.
Aber auch für uns andere Abgeordnete ergibt sich aus dem Umstand, dass es sich um ein Mandat auf Zeit handelt, eine weitere Erkenntnis, nämlich die, dass wir unsere Aufgabe zwar ernst nehmen sollen, dass wir uns aber persönlich nicht allzu wichtig nehmen dürfen; denn selbst wenn die Aufgabe bleibt, wir Abgeordnete sind alle - ich betone: alle - ersetzbar.
Als Zweites möchte ich etwas zum Rollenverständnis von Opposition und Koalition sagen. Spätestens seit sich die Staatsrechtsliteratur der Weimarer Verfassung angenommen hat, gibt es das Wort, dass in der Demokratie die Minderheit von heute die Mehrheit von morgen sei und umgekehrt. Dass der Sieger von heute der Verlierer von gestern war, haben wir im Jahr 1998 und in diesem Jahr erneut erleben müssen. Diese Erkenntnis über den ständigen Wechsel der Machtkonstellationen sollte uns veranlassen, stets fair miteinander umzugehen.
Man sollte dabei nicht denken, dass das etwa auf Kumpanei hinauslaufen soll. Diese Haltung soll vielmehr darauf abzielen, niemals den demokratischen Grundkonsens infrage zu stellen und in dem politischen Gegner immer auch den Menschen mit seinen Stärken, seinen Schwächen, seinen Höhen und Tiefen zu sehen und ihn als Persönlichkeit anzunehmen.
Deshalb möchte ich an dieser Stelle von einem ganz persönlichen Erlebnis erzählen. Ich erinnere mich sehr gern an Ihre Worte, Herr Dr. Höppner, die Sie Anfang der 90er-Jahre in Bezug auf mich ausgesprochen haben, als das Hohe Haus wieder einmal eine der unsäglichen Debatten über Ost/West geführt hat, indem Sie sagten: Der Becker ist doch einer von uns.
Obwohl wir beide in den zurückliegenden acht Jahren in Grundsatzfragen völlig unterschiedlicher Meinung waren, Herr Dr. Höppner, so gilt doch auch heute: Sie sind
einer von uns, auch wenn draußen einige an dem von Ihnen in freier Wahl erworbenen Mandat zu rütteln versuchen sollten.
Herr Dr. Höppner, ich frage mich auch - viele werden das gar nicht wissen -, was etwa im Jahr 1992 aus der Verabschiedung der Landesverfassung geworden wäre - wir brauchten immerhin eine Zweidrittelmehrheit -, wenn nicht damals wir beide in Ihrem Abgeordnetenbüro in einem wechselseitigen Geben und Nehmen alle Stolpersteine ausgeräumt hätten. Das, meine Damen und Herren, verstehe ich unter demokratischem Grundkonsens.
Dies alles bedenkend, sollten wir eine Streitkultur pflegen, die getragen wird vom gegenseitigen Respekt und von der Achtung des Andersdenkenden. Die Bürger draußen im Land erwarten von uns übrigens Entscheidungen und nicht kleinliche Haarspaltereien, Sticheleien und Eifersüchteleien.
Mein Appell richtet sich deshalb insoweit auch an die vier Fraktionsvorsitzenden, an Sie, Frau Dr. Sitte, an Sie, Frau Pieper, an Sie, Herrn Dr. Püchel, und an Sie, Herrn Scharf: Lassen Sie sich auch in angespannten Situationen - solche Situationen werden wir, auch angesichts der Erfahrungen der letzten Jahre, immer wieder erleben - nicht ins Bockshorn jagen. Es gehört zu Ihren Aufgaben, trotz kämpferischer Auseinandersetzung diese demokratische Grundhaltung stets zu bewahren.
Meine Damen und Herrn! Gestatten Sie mir ein letztes Wort - wie könnte es anders sein? - zur Rolle der Landesparlamente im föderativen System Deutschlands. Die parlamentarische Arbeit in deutschen Bundesländern vollzieht sich zunehmend im Spannungsverhältnis von Aufgabenentzug durch bundes- und europarechtliche Vorgaben und von Aufgabenentzug durch die Exekutive infolge des Erlasses von Verordnungen, Richtlinien und Erlassen. Dazwischen spielt sich der eigentliche Arbeitsraum des Parlaments, der immer mehr bedroht wird, ab. Dazu kommt der in der Öffentlichkeit immer stärker werdende Ruf, die Aufgabe eines Parlaments bestehe eigentlich mehr darin, Vorschriften abzubauen als neue zu schaffen; im Übrigen seien die wichtigsten Gesetze erlassen worden und ihre Fortschreibung habe, wie die Geschichte lehre, in den seltensten Ausnahmefällen zu nennenswerten Verbesserungen geführt.