Protokoll der Sitzung vom 14.03.2003

Herr Dr. Schrader, ich erlaube Ihnen, Ihre Rede zu Protokoll zu geben.

(Heiterkeit)

In § 63 der Geschäftsordnung ist vorgesehen, dass dies der Erlaubnis des Präsidenten bedarf.

(Heiterkeit - Herr Dr. Schrader, FDP: Frau Präsi- dentin, ich schwöre Besserung!)

(Zu Protokoll:)

Der Landtag hat am 19. Juli 2002 einen einstimmigen Unterstützungsbeschluss zum Projekt „Europäische Spallationsneutronenquelle - ESS“ gefasst, um diese Großforschungsinvestition im Kerngebiet des mitteldeutschen Wirtschaftsraumes, in der Region Halle/Leipzig, anzusiedeln.

Das Projekt ESS geht zurück auf die Zielsetzung der EU (Ratstagung am 24. März 2000) , bis zum Jahr 2010 zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum der Erde zu werden, und den darauf aufbauenden Vorschlag eines europäischen Konsortiums, im Rahmen von Forschungsgroßgeräteinvestitionen eine Europäische Spallationsneutronenquelle zu bauen.

Im November 2002 hatte der Wissenschaftsrat gegenüber dem BMBF vorerst keine Förderempfehlung für den Bau der ESS ausgesprochen. Daraufhin haben sich im Dezember 2002 die Vertreter der Bewerberländer - Sachsen/Sachsen-Anhalt und Nordrhein-Westfalen -, der Forschungseinrichtungen sowie des Wissenschaftsrates auf ein Verfahren geeinigt, das zum Ziel hat, den

gemeinsamen Antrag in überarbeiteter Form dem Wissenschaftsrat zur erneuten Begutachtung vorzulegen.

Konkrete Arbeitsschritte zur erneuten qualifizierten Vorlage der Projektunterlagen wurden durch den wissenschaftlichen Beirat zur Begleitung der gemeinsamen Bewerbung Sachsen/Sachsen-Anhalt in der letzten Sitzung im Februar 2003 mit der Zielstellung festgelegt, mit positiver Stellungnahme des Wissenschaftsrates zur ESS und entsprechender Förderempfehlung das BMBF zur Verwirklichung des Projektes in Deutschland zu bewegen.

Die ESS ist für die Erhaltung der europäischen Führungsposition bei der Neutronenforschung unabdingbar, zumal die USA beabsichtigen, ihre im Bau befindliche Neutronenquelle nach dem Prinzip der ESS auszubauen.

Mit einem Gesamtinvestitionsvolumen von 1,5 Milliarden €, 600 direkten und 2 000 operativen Arbeitsplätzen würde die Realisierung des ESS-Projektes einen enormen Schub für Wissenschaft und Wirtschaft im mitteldeutschen Wirtschaftsraum bewirken.

Von den bislang genehmigten Großforschungsgeräten im Umfang von 965 Millionen € gehen gerade einmal 25 Millionen € - 2,6 % - in die neuen Länder, obwohl sich die Bundesregierung zur Realisierung einer Großforschungsanlage in den neuen Bundesländern in ihrem Koalitionsvertrag bekannt hat.

Da die vorliegenden Anträge inhaltlich fast identisch sind, haben sich die einbringenden Fraktionen darauf verständigt, dass Satz 1 des SPD-Änderungsantrages wie folgt geändert wird:

„Der Landtag von Sachsen-Anhalt fordert die Bundesregierung auf, eine erneute Bewerbung der Wissenschaftsseite für das Großprojekt ESS positiv zu begleiten.“

Die Berichterstattung - letzter Satz des SPD-Antrages - soll im Europaausschuss vorgenommen werden.

Der Antrag der CDU- und der FDP-Fraktion erübrigt sich demnach.

Für die PDS-Fraktion erteile der Abgeordneten Frau Dr. Sitte das Wort.

Danke. - Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich will kurz einige wenige Anmerkungen machen.

(Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

Es ist völlig richtig: Forschung ist ein qualitativer Wachstumsfaktor. Wir haben uns über die Elektronenspallationsquelle gewaltig zu streiten, weil damit eben auch Zäsuren in der Forschungs- und Wissenschaftslandschaft von mehreren ostdeutschen Ländern gesetzt werden.

Mir scheint aber auch, dass man mit in Rechnung stellen muss, dass es hierbei nicht ausschließlich um politische Entscheidungen geht, sondern dass diesen politischen Entscheidungen fachliche Bewertungen zugrunde gelegen hatten. Das war die Bewertung, die sich im Rahmen der Entscheidungsfindung im Wissenschaftsrat ergeben hat. Deshalb habe ich - ich sage das mit aller Vorsicht - ein bisschen das Gefühl, dass die Wahrnehmung von

Herrn Dr. Sobetzko etwas selektiv ist und sich zu einseitig auf das Problem der Ministerin Bulmahn bezieht.

Letztlich ging es um ein Gesamtpaket. Dabei war die ESS ein Punkt von mehreren. Insgesamt handelte es sich um neun Anträge mit einem Volumen von 7 Milliarden € - 7 Milliarden €, wohlgemerkt -, die der Wissenschaftsrat in einer anderen Form als bisher zu begutachten hatte.

In den drei Prioritätengruppen, die dort gebildet worden sind, ist die ESS sowohl mit verfahrentechnischen Begründungen als auch mit inhaltlichen Begründungen in der dritten Prioritätengruppe gelandet. Im Hinblick auf die inhaltlichen Begründungen gibt es - ich hätte fast gesagt, Frau Bulmahn;

(Heiterkeit)

Frau Budde und Herr Sobetzko deuteten es ebenso wie der Minister an - nunmehr die Möglichkeit nachzuarbeiten. Ich begrüße diese Möglichkeit.

Alles andere muss das Land aber auch leisten. Das ist etwas, was die anderen noch nicht gesagt haben. Denn die Betriebskosten der ESS werden irgendwann einmal bei 144 Millionen € im Jahr liegen. Ein Land, das heute bei den Universitäten und den Fachhochschulen bereits um 30 Millionen € kürzt, wird sich bei einer solchen Standortentscheidung fragen lassen müssen: Wie sieht es im Gesamtkontext dieser Problematik aus? Wie wollen Sie die weitere Entwicklung der Hochschulen im Land sichern? Wie wollen Sie die Betriebskosten dieses Gesamtprojekts sichern? Insofern muss das Land an der Stelle sicherlich gemeinsam mit Sachsen noch mehr daran arbeiten, inwieweit die Finanzierungszusage auch untersetzt ist.

Insgesamt wollen wir das Projekt; wir unterstützen es. Wir finden den Antrag der SPD qualifiziert und deshalb werden wir ihm zustimmen. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung von Frau Bud- de, SPD, und von Herrn Dr. Fikentscher, SPD)

Danke, Frau Abgeordnete Dr. Sitte. - Herr Dr. Sobetzko, Sie könnten noch einmal zur Erwiderung sprechen.

(Herr Dr. Sobetzko, CDU: Ist erledigt! - Minister Herr Dr. Daehre: Oh! - Zustimmung bei der CDU)

Herr Dr. Sobetzko verzichtet. - Somit treten wir in das Abstimmungsverfahren ein. Über eine Ausschussüberweisung brauchen wir meines Erachtens nicht abzustimmen.

Wir stimmen zunächst über den Änderungsantrag zu dem Antrag in der Drs. 4/616 ab. Von der SPD-Fraktion wurde signalisiert, dass sie in ihren Änderungsantrag Satz 1 des Antrages übernimmt, der lautet: „Der Landtag von Sachsen-Anhalt fordert die Bundesregierung auf...“ Der letzte Satz des letzten Absatzes muss heißen:

„Sie erstattet dazu in den Ausschüssen für Wirtschaft und Arbeit, für Finanzen, für Bildung und Wissenschaft und für Bundes- und Europaangelegenheiten Bericht.“

Über diesen Änderungsantrag stimmen wir zunächst ab. Wer damit einverstanden ist, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der

Stimme? - Damit ist der Änderungsantrag einstimmig angenommen worden.

Wer dem Antrag in der Drs. 4/616 in der soeben geänderten Fassung zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Wer ist dagegen? - Wer enthält sich der Stimme? - Somit ist der Antrag einstimmig angenommen worden, bei - so viel Zeit muss sein - einer Enthaltung. Wir können den Tagesordnungspunkt 24 damit abschließen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung

Auflage eines befristeten kommunalen Soforthilfeprogramms des Bundes

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/611

Einbringer ist der Abgeordnete Herr Grünert. Herr Grünert, Sie haben das Wort.

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Zukunft der Kommunen in Deutschland und insbesondere in den neuen Bundesländern ist nicht nur Besorgnis erregend; sie ist vielmehr erheblich gefährdet.

Die wichtigsten Gründe für die sich verschlechternde Lage vieler Kommunen sind zum überwiegenden Teil nicht selbst verschuldet, sind nicht das Ergebnis falscher Entscheidungen oder des Fehlverhaltens kommunalpolitischer Akteure. Hauptsächlich sind sie die Konsequenz des Vollzugs von Bundes - und Landesgesetzen und zunehmend auch von Entscheidungen der Europäischen Union sowie des Wirkens konjunktureller und bevölkerungspolitischer Entwicklungen.

Auf die Inhalte bzw. auf die Ausprägungen der daraus resultierenden Folgen hat die kommunale Ebene kaum noch Einfluss. Die derzeitigen Regierungen sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene ignorieren diese Entwicklung. Solche Ausführungen wie die der Bundesregierung, sie wolle - ich zitiere - „den finanzpolitischen Spielraum der Kommunen wahren“ und der Standpunkt der Landesregierung, die noch erhebliche Einsparpotenziale in den Kommunen sieht, die die Verschuldung der Kommunen gegenüber dem Land als sehr gering bewertet, die im Haushaltsjahr 2003 den Kommunen eine Reduzierung der Zuweisungen um rund 350 Millionen € zumutet, stehen im krassen Widerspruch zu der Wirklichkeit.

Einige Fakten der Wirkung dieser Politik auf die Kommunen: Das Steuersenkungsgesetz bescherte den Kommunen im Jahr 2001 Verluste in Höhe von rund 4 Milliarden € und einen dramatischen Absturz bei den Gewerbesteuereinnahmen. Deren Volumen fällt in den Jahren 2001 und 2002 um insgesamt 10 Milliarden € niedriger aus, als es das Bundesfinanzministerium noch im Jahr 2000 prognostiziert hatte. Dennoch sind Bund und Länder nicht bereit, die zu ihren Gunsten erfolgten Erhöhungen der Gewerbesteuerumlage zwischen 2001 und 2004 von bisher 20 auf 28 % rückgängig zu machen. Der Bund weigert sich auch, zumindest einen Teil seines Erlöses aus den UMTS-Mobilfunklizenzen in Höhe von 50 Milliarden € an die Kommunen weiterzuleiten, obgleich die Abschreibungen der Lizenzkäufe in

den nächsten 20 Jahren zu Gewerbesteuerverlusten von rund 8 Milliarden € führen werden.

Seit Mitte der 90er-Jahre haben Bund und Länder den Kommunen immer neue Aufgaben übertragen und sie vehement für die Mitfinanzierung gesamtstaatlicher Aufgaben herangezogen, so in Form von Einnahmeverlusten aufgrund der Förderung der privaten Altersvorsorge mit einem Betrag von bis zu 2 Milliarden € jährlich. Das Grundsicherungsgesetz führt allein in Sachsen-Anhalt zu einer Mehrbelastung der Kommunen von mindestens 56 Millionen €. Das Gesamtdefizit der kommunalen Haushalte belief sich im Jahr 2002 auf mehr als 4,4 Milliarden €. Die Kommunen haben die Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit mit ihren Sozialhilfeleistungen zu tragen. Diese belaufen sich derzeit auf rund 5 Milliarden €.

Die kommunalen Investitionen entwickeln sich dramatisch rückläufig. Sie liegen heute in den neuen Bundesländern inflationsbereinigt um 45 %, in den alten Bundesländern um knapp 25 %, also um insgesamt 11 Milliarden € unter dem Niveau des Jahres 1992. Das ist angesichts eines bis zum Jahr 2009 auf rund 665 Milliarden € geschätzten Investitionsbedarfs inakzeptabel. Davon entfallen rund 13 800 € pro Kopf auf die neuen Bundesländer. Das ist ein fast doppelt so hoher Investitionsbedarf wie in den alten Bundesländern.

Die Folgen, meine Damen und Herren, sehen Sie in unseren Kommunen in Form einer steigenden Zahl von Unternehmensinsolvenzen, der Verringerung der Kaufkraft und nicht zuletzt des zunehmenden Verfalls der kommunalen Infrastruktur.