Protokoll der Sitzung vom 10.04.2003

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 17. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der vierten Wahlperiode. Dazu möchte ich Sie, sehr verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen.

Meine Damen und Herren! Bevor wir in die Sitzung eintreten, erlauben Sie mir, noch einmal an das vor knapp einem Jahr eingetretene schreckliche Ereignis zu erinnern, das ganz Deutschland entsetzt hatte: das Massaker von Erfurt. Eine Delegation aus dem Mansfelder Land - Sie werden sich erinnern - hatte mir eine Sammlung von 6 000 Unterschriften übergeben, in der die Unterzeichner dazu aufriefen, der täglichen Gewaltverherrlichung und Alltagsaggression couragiert und unerschrocken entgegenzutreten und uns auch im Parlament vermehrt dem Thema Gewalt zu widmen.

Nun, da sich mit dem 26. April der Tag dieser schrecklichen Tat zum ersten Mal jährt, wäre es angemessen, die Ereignisse dieses Tages nochmals in Erinnerung zu rufen und zu fragen: Welche Konsequenzen für die ganz praktische und konkrete Politik, für die Gesetzgebung, für das Handeln in Regierung und Parlament haben wir daraus gezogen, welche Konsequenzen aber auch für unser tägliches Leben, für den Umgang miteinander ganz allgemein und natürlich auch in der Politik?

Aber, meine Damen und Herren, in dem Augenblick der Erinnerung werden wir von einem weiteren Vorgang in unserem Land Sachsen-Anhalt aufgeschreckt, dem feigen und brutalen Mord an dem 40-jährigen Behinderten Andreas Oertel in Naumburg. Obwohl wir die Tatmotive der mutmaßlichen Täter noch nicht kennen, nehmen wir mit Fassungslosigkeit und großer Trauer diese Nachricht zur Kenntnis und fragen uns, wie groß die Verkommenheit, der Hass und die Verblendung von Menschen sein müssen, die ein wehr- und hilfloses Opfer grausam misshandeln und zu Tode quälen.

Immer häufiger werden gerade die Schwächsten in unserer Gesellschaft, Kinder - ich erinnere an die Vorgänge in Eschweiler -, Behinderte, Alte oder Obdachlose, Opfer von Gewaltdelikten. Menschen werden getötet und misshandelt, weil sie wehrlos, hilflos oder einfach weil sie anders sind. Wie weit, meine Damen und Herren, müssen Desintegrationsprozesse und der Werteverlust in einer Gesellschaft vorangeschritten sein, dass so etwas immer häufiger passiert? Seit 1950 hat sich die Zahl der Gewaltdelikte in der Bundesrepublik verdreifacht.

Die Ehrfurcht vor dem Leben ist der erste Grundsatz einer humanen und pluralistischen Gesellschaft. Niemand hat das Recht, auch die staatliche Gewalt nicht, über das Leben eines anderen zu verfügen. Jeder Mensch, aber auch jeder ist in seinem Lebensrecht und in seiner Würde unantastbar.

Deshalb, meine Damen und Herren, lassen Sie uns hinhören und hinsehen. Deshalb lassen Sie uns auch als Parlament dieses Landes fortfahren in dem Bemühen, allen in unserem Land lebenden Menschen die Grundlagen für ein selbstbestimmtes und selbst verantwortetes Leben bereitzustellen bzw. zu verbessern. Schauen wir nicht weg, sondern ergreifen wir Partei! Jede Form der Diskriminierung muss entschieden und kompromisslos

bekämpft werden. Ich sage dies nicht nur im Europäischen Jahr der Behinderten.

Auch wenn wir uns als Politiker angesichts solcher Ereignisse auf unsere Grenzen verwiesen fühlen, unsere Ohnmacht spüren, müssen wir lernen, über diese Geschehnisse zu reden, müssen wir vor dem Hintergrund der gemachten bitteren Erfahrungen neue Kraft und neuen Mut zur politischen Gestaltung schöpfen. Denn unter unsere Trauer und unsere Anteilnahme mischt sich unwillkürlich die Frage nach dem Danach, nach weiterer Aufklärung und nach Konsequenzen. Vor allen Dingen Aufklärung tut Not.

Meine Damen und Herren! Die Ausstellung „Trotz’dem - Lebensfreude durch Sport“, die wir am kommenden Mittwoch im Landtag eröffnen, soll ein Beitrag sein, mehr über die Lebenswirklichkeit behinderter Menschen zu erfahren, über ihre Begeisterungsfähigkeit, ihre Leistungen und ihre Lebensfreude - Freude und Spaß am Leben, wie sie auch Andreas Oertel, der Theaterenthusiast, empfunden haben muss. Er musste sterben, weil andere sich anmaßten, ihm Lebensrecht und Würde abzusprechen. Sein gewaltsamer Tod ermahnt uns zu ständiger Wachsamkeit sowie zu entschlossenem und solidarischem Handeln. - Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich stelle nunmehr die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Ich darf Ihnen zunächst die Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung bekannt geben: Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer entschuldigt sich für die Sitzung des Landtages am Freitag. Er nimmt an der Bundesratssitzung in Berlin teil.

Aus dem gleichen Grund entschuldigen sich für Freitag Herr Minister Paqué und Herr Minister Becker. Herr Minister Becker wird zudem die heutige Sitzung des Landtages um 11.30 Uhr verlassen müssen, um zur Vorbereitung der Wahlen zum Bundesgerichtshof an der Beratung des Richterwahlausschusses in Berlin teilzunehmen.

Nun zur Tagesordnung. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tagesordnung für die 10. Sitzungsperiode liegt Ihnen vor.

Die Fraktion der SPD hat für den Tagesordnungspunkt 1 - Aktuelle Debatte - ein weiteres Thema eingereicht. Der Antrag mit dem Titel „Unprofessionelle Amtsführung des Ministers für Gesundheit und Soziales Gerry Kley“ wurde fristgemäß eingereicht und liegt Ihnen in der Drs. 4/676 vor. Dieses Thema wird als Tagesordnungspunkt 1 b auf die Tagesordnung genommen.

Im Ältestenrat wurde vereinbart, Tagesordnungspunkt 2 als ersten Punkt nach der heutigen Mittagspause zu behandeln. Tagesordnungspunkt 17 soll als letzter Tagesordnungspunkt am heutigen Tag und Tagesordnungspunkt 3 als erster Tagesordnungspunkt am Freitag behandelt werden. Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Das ist nicht der Fall. Dann können wir so verfahren.

Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir noch eine Bemerkung zum zeitlichen Ablauf der 10. Sitzungsperiode. Der Verband der Angestelltenkrankenkassen e. V. hat heute um 19.30 Uhr zu einer parlamentarischen Begegnung eingeladen. Die Veranstaltung findet im Roncalli-Haus statt. Vereinbarungsgemäß wird deshalb

die heutige 17. Landtagssitzung gegen 19 Uhr beendet. Die morgige 18. Sitzung des Landtages beginnt wie üblich um 9 Uhr.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich rufe Tagesordnungspunkt 1 auf:

Aktuelle Debatte

Hierzu liegen zwei Beratungsgegenstände vor. Die Redezeit in der Aktuellen Debatte beträgt zehn Minuten je Fraktion. Der Landesregierung steht ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten zur Verfügung. Ich rufe das erste Thema auf:

Informationspolitik des Innenministeriums zum ersten Castor-Transport durch Sachsen-Anhalt

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/672 neu

Für die Debatte wird folgende Reihenfolge vorgeschlagen: PDS-, FDP-, SPD- und CDU-Fraktion. Zunächst erteile ich dem Antragsteller, der PDS-Fraktion, das Wort. Es spricht Abgeordneter Herr Dr. Köck. Bitte sehr, Herr Dr. Köck.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die heutige Aktuelle Debatte wird, zumindest was meinen Beitrag betrifft, nicht der zweite Aufguss der sehr ausführlichen und grundsätzlichen Behandlung der Problematik in der 29. und 30. Sitzung des Landtages der dritten Wahlperiode am 11. und 12. November 1999 werden. Damals war Arendsee als alternative Umladestelle Schiene/ Straße für die für Gorleben bestimmten Castoren im Gespräch.

Ein Blick in das Protokoll von damals ist dennoch interessant, weil sich der heutige Innenminister Herr Jeziorsky mit einer Zwischenfrage an Herrn Rothe damals gewissermaßen geoutet hat. Für ihn spielte damals schon die Musik im Bundesamt für Strahlenschutz; der Landtag solle sich im Übrigen heraushalten.

Natürlich kann ein Beschluss des Landtages weder das Bundesamt für Strahlenschutz noch die für die Atomtransporte zuständige Bahntochter binden, aber er kann deutliche politische Zeichen setzen. Am Ende beschloss der Landtag mehrheitlich kurz und knapp:

„Der Landtag von Sachsen-Anhalt lehnt CastorTransporte durch Sachsen-Anhalt ab.“

Diese Botschaft des Landtages wird neben eindeutigen gleich lautenden Bemühungen der Landesregierung und den Bürgerprotesten in Salzwedel und in Arendsee mit dazu beigetragen haben, dass Sachsen-Anhalt in der Vergangenheit von Castor-Transporten verschont geblieben ist.

Am 26. und 27. März 2003 hat aber nun der erste Castor-Transport - oder war es gar nicht der erste? - von Brunsbüttel kommend auf der Strecke Salzwedel - Stendal - Magdeburg - Halle - Merseburg - Weißenfels - Naumburg - Apolda Sachsen-Anhalt durchquert. Beinahe wäre diese Jungfernfahrt völlig unbemerkt geblieben. Ein einziger Radiosender hatte Wind von dem Transport bekommen.

Während sich der Herr Innenminister noch wohlig in den Kissen räkelte, kamen zum Beispiel die Naumburger Berufspendler - nicht wegen der niedrigen Temperaturen, sondern wegen der Polizeipräsenz auf den Bahnhöfen und entlang der Strecke - ins Frösteln. Bin Laden war kurz vor Beginn des Irak-Krieges schließlich überall.

Nun mag man der Meinung des Innenministers bezüglich der Einflussmöglichkeit auf die Streckenführung weitgehend folgen, aber eine ordentliche Information der Öffentlichkeit ist von ihm zu fordern. Doch weit gefehlt: Die Presseabteilung des Ministeriums des Innern war zu absolutem Stillschweigen verdonnert worden. Die Pressesprecherin gab sich den Medien gegenüber völlig ahnungslos und ließ sich erst nach der Konfrontation mit den harten Fakten zähneknirschend zu deren Bestätigung bewegen. Vermutlich waren außer dem Ministerpräsidenten nur eine Hand voll Leute in Sachsen-Anhalt eingeweiht.

Das Land ist jedenfalls durch das Bundesamt für Strahlenschutz mindestens 48 Stunden vor dem Transporttermin informiert worden. Es steht den Ländern frei, wie sie mit dieser Information umgehen. In diesem Land hat man sich für Schweigen entschieden. Weder die betroffenen Landkreise noch die durchfahrenen Städte erhielten eine Information. Auf meine diesbezügliche Frage im Stadtrat von Halle am Abend des 27. März 2003 fiel der für Inneres und den Katastrophenschutz zuständige Beigeordnete vor Überraschung fast vom Stuhl.

Diese Art des Schweigens ist nicht mehr nur taktischer Natur, sondern gezielte Desinformationspolitik. Für die Beantwortung meiner sieben simplen Fragen in der Kleinen Anfrage vom 31. März 2003 wird das Ministerium sicherlich die geschäftsordnungsmäßig vorgesehene volle Zeitspanne benötigen.

Da die Leser der „Volksstimme“ nicht in den Genuss gekommen sind, einen Kommentar in der „MZ“ zu lesen, will ich daraus einen Auszug vortragen. Unter der Überschrift „Das große Schweigen der Politiker“ wird unsere Arbeit wie folgt eingeschätzt:

„Selten war ein Spruch so wertvoll wie dieser: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Vor allen Dingen auf den höheren Ebenen der Politik scheint man bestens verstanden zu haben, was mit diesem weisen Satz gemeint ist: Schweigen zum Wohle der Kommunen, zum Wohle der Bürger. Nur keine Aufregung.

Da rollte dieser Tage heimlich, still und leise ein Castor-Transport mit abgebrannten Brennstäben durch Sachsen-Anhalt. Der Bund wusste es, das Land wusste es, nur die betroffenen Städte und Dörfer waren völlig ahnungslos. Ein Skandal? - Ach was, Wissen belastet nur.“

Wie alle tragischen Unglücksfälle immer wieder zeigen, verbleibt selbst bei mehrfach abgesicherten technischen Systemen immer ein Restrisiko. Dafür stehen Namen wie Tschernobyl, Eschede, Concorde, Challenger und Columbia. Mal ist die Ursache das Material, häufiger aber der Mensch; manchmal spielt auch der dumme Zufall mit.

Meine Damen und Herren! Nur weil es bisher keinen Transport-Gau mit einem Castor gegeben hat, kann man sich nicht in Sicherheit wiegen. Wäre der Castor beispielsweise am 28. März 2003 gerollt - nur wenige Tage später -, hätte es auf dem Halle’schen Bahnhof einen

Zwangsstopp gegeben, weil just zur gleichen Zeit um 8.15 Uhr ein Personenzugwagen aus dem Gleis gesprungen war. Und am 8. April, Herr Minister, war die Strecke zwischen Naumburg und Apolda von früh um 4.15 Uhr bis in den späten Vormittag voll gesperrt. Ob die Einsatzkräfte bei Dunkelheit den Lebensmüden hätten zurückhalten können, der beschlossen hatte, zu diesem Zeitpunkt seinen schrecklichen Entschluss wahr zu machen?

Herr Innenminister, es ist unverantwortlich, den für Katastrophenschutz Zuständigen in den Kreisen den Castor-Transport zu verschweigen. Obwohl Sie durch den Chemikalienunfall auf dem Schönebecker Bahnhof über einschlägige Erfahrungen verfügen, gewinnt man zunehmend den Eindruck, dass Sie in puncto Katastrophenschutz nicht gerade glücklich operieren.

Zur Informationspolitik gehört übrigens auch Aktualität. Die kann man Ihrer Homepage getrost absprechen; dort findet sich noch immer das Katastrophenschutzgesetz in der Fassung von 1994. Die Bekanntmachung der Neufassung erfolgte bereits am 12. August 2002, pikanterweise am Vorabend der Ausrufung des Katastrophenzustandes wegen des Hochwassers im Kreis Bitterfeld. - Danke.

(Beifall bei der PDS)

Herzlichen Dank, Herr Dr. Köck. - Meine Damen und Herren! Begrüßen Sie mit mir Schülerinnen und Schüler der Sekundarschule Eisleben auf der Tribüne.

(Beifall im ganzen Hause)

Für die Landesregierung hat als Nächster Minister Herr Jeziorsky um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Man kann ja verschiedene Sachverhalte einfach in einen Topf werfen, umrühren und meinen, man habe dann ein Ergebnis.

Meine Damen und Herren! Das Bundesamt für Strahlenschutz hat nach dem Atomgesetz die Beförderung von Kernbrennstoffen zu genehmigen, wenn die nach diesem Gesetz erforderlichen Voraussetzungen vorliegen. Am 10. Februar 2003 genehmigte das Bundesamt für Strahlenschutz der Nuklear Cargo und Service GmbH den Transport abgebrannter Brennelemente vom Kernkraftwerk Brunsbüttel zur Wiederaufbereitungsanlage La Hague in Frankreich. Der Transportweg ging von Schleswig-Holstein über Mecklenburg-Vorpommern - dort regiert die PDS, glaube ich, mit - über Sachsen-Anhalt, Thüringen, Hessen und dann durch Südwestdeutschland in Richtung Frankreich.

(Zurufe von der CDU: Hört, hört!)

Die notwendige Information, die der Genehmigungsinhaber weitergeben muss, richtet sich je nach Zuständigkeit an das Eisenbahnbundesamt, an das Bundesministerium des Innern und an die Innenministerien der Länder, die von der Transportstrecke betroffen sind. Es hat unterschiedliche Hintergründe, warum wer zu informieren ist, und das ergibt sich aus dem Atomgesetz.

Der Transporteur muss dafür garantieren, dass der Transport von Kernbrennstoffen sicher durchgeführt wer