Protokoll der Sitzung vom 10.04.2003

So viel zum Thema Glaubwürdigkeit der Politik.

Meine Damen und Herren! Bei der CDU/CSU und auch bei der FDP weiß man, worauf man sich einlässt: FDPLiberalismus, mit Verlaub gesagt, reduziert sich in aller Regel auf den Wirtschaftsliberalismus, was ich, nebenbei gesagt, sehr schade finde, oder er ist für eine eingeschränkte Klientel gedacht. Ich mag Ihnen jetzt nicht die Partei der Besserverdienenden ans Bein binden.

Für die CDU und die CSU ist soziale Politik bestenfalls eine Verbündete in konjunkturell guten Zeiten.

Bei Rot-Grün, muss ich Ihnen sagen, meine Damen und Herren, fühle ich mich derzeit im falschen Film. Als ich vorgestern in der „Frankfurter Rundschau“ gelesen habe, dass es jetzt Debatten darüber gibt, dass man die ohnehin abgesenkten Rentenbeiträge für Arbeitslosenhilfeempfänger auch noch streichen will - es gibt in der Zwischenzeit unterschiedliche Verlautbarungen -, hatte ich das Gefühl, ich bin im falschen Film und keinesfalls in einem sozialdemokratisch-grünen.

(Zustimmung bei der PDS)

Auf der Habenseite der letzten Legislaturperiode steht der Einstieg in die Grundsicherung, meine Damen und Herren. Das ist Ihnen anzurechnen, wenngleich es natürlich Diskussionen über die Höhe gegeben hat, die zu kritisieren ist. Der nächste Schritt hätte sein können und müssen, auch in die Arbeitslosenversicherung eine solche Grundsicherung einzuziehen, meinethalben in Höhe von 10 % über der Sozialhilfe. Das wäre sicherlich nicht zufrieden stellend gewesen, aber es wäre zumindest ein Schritt in eine vernünftigere Richtung gewesen. Das wäre dann wirklich Mut zur Reform gewesen.

Einmal weg von persönlicher Betroffenheit. Ich frage Sie nach der gesellschaftlichen Betroffenheit, meine Damen und Herren: Wie soll der soziale Kitt einer solchen Gesellschaft funktionieren, wenn - ich sage einmal, die 3 € an Eckregelsatzkürzung machen den Kohl nicht fett; das ist mir auch klar - Schritt für Schritt ganze Bevölkerungsgruppen von armutsfesten Standards und damit vom soziokulturellen Leben hierzulande abgekoppelt werden?

Und das noch vor dem Hintergrund, dass für diese Einkommensgruppen eben keine Alternative in Sicht ist. Es ist nicht so, dass man nur losgehen muss und die

bezahlte Arbeit schier grenzenlos zur Verfügung steht. Was Sie alle miteinander zusammenbasteln, ist eine Gesellschaft, in der Arbeithaben oder Nicht-Arbeit-Haben irgendwann über Sein oder Nichtsein entscheidet.

Ich komme zum Schluss und knicke mir an dieser Stelle alle arbeitsmarktpolitischen, sozialpolitischen, gesundheitspolitischen und sonst welche Argumente und sage nur ganz einfach: Eine Gesellschaft, die so reich ist wie diese und der auf der politischen Ebene immer wieder nichts anderes einfällt, als lediglich den Einkommensschwächsten in die Tasche zu greifen, halte ich, meine Damen und Herren, schlichtweg für ein unmoralisches Angebot.

(Beifall bei der PDS)

Danke für die Einbringung, Frau Bull. - Wir treten in die Debatte ein. Zunächst hat die Landesregierung um das Wort gebeten. Es spricht Herr Minister Kley.

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Eines der größten Probleme, nicht nur in SachsenAnhalt, sondern in ganz Deutschland, ist die mit der wirtschaftlichen Situation in Zusammenhang stehende hohe Arbeitslosigkeit. Durch fehlende Steuereinnahmen geraten die sozialen Sicherungssysteme immer weiter in die Schieflage. Deshalb benötigen wir unbedingt Reformen bei den Sozialleistungssystemen.

Es kann jedoch nicht das Ziel einer Regierung sein, durch immer ausgefeiltere Systeme die Verwaltung der Arbeitslosen zu verkomplizieren. Im Gegenteil: Das Ziel sollte es sein, die vorhandenen Arbeitsplätze zu besetzen und neue zu schaffen.

Vor diesem Ziel muss das bestehende System kritisch betrachtet und gegebenenfalls effektiviert werden. Der Faktor Arbeit darf nicht durch einen Anstieg der Lohnnebenkosten weiter verteuert werden. Genauso wenig dürfen die Kommunen mit weiteren Ausgaben belastet werden.

An dieser Stelle ist es eigentlich nur die Aufgabe der Landesregierung, darauf zu achten, dass bei den bisher nur im Wortlaut bekannt gewordenen Vorschlägen des Bundeskanzlers die Länder und die Kommunen nicht zusätzlich mit Aufgaben überhäuft werden, die sie entweder überfordern oder mit finanziellen Lasten belegen, die sie nicht zu schultern in der Lage sein werden.

Ich möchte mich an dieser Stelle für die Landesregierung nicht zu den Vorschlägen des Bundeskanzlers äußern. Ich glaube, dies ist ein Problem der SPD, das sie mit sich selbst abklären muss und das wir dann nur aus der eben geschilderten Sicht begleiten können.

Ich möchte an dieser Stelle auf der Grundlage des Antrages der PDS-Fraktion lediglich zu den das Land direkt betreffenden Angelegenheiten Stellung nehmen. Ich komme damit zu Nr. 1 Ihres Antrags.

Mit unserer Bundesratsinitiative zur Anpassung der Regelsätze in der Sozialhilfe haben wir die Initiative hinsichtlich einer Anpassung der in Sachsen-Anhalt geltenden Regelsätze an die der meisten ostdeutschen Bundesländer ergriffen. Wir haben in Ostdeutschland annähernd gleiche Lebensverhältnisse; wir gewähren aber andererseits Sozialhilfe in unterschiedlicher Höhe, und

das ohne sachlichen Grund. Mit der Bundesratsinitiative soll diese Ungleichheit beseitigt werden.

Auch das meines Wissens von der PDS mitregierte Berlin hat diese Ungleichheit erkannt und in den Bundesrat einen eigenen Antrag zur Angleichung seiner Sozialhilfeeckregelsätze eingebracht.

Wir wollen die Anpassung der Eckregelsätze ausgewogen erreichen. Deshalb erfolgt sie nicht durch eine Kürzung oder eine Absenkung der Leistung. Der Anstieg wird aber geringer ausfallen als in Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen oder Thüringen, und zwar so lange, bis die Höhe der Regelsätze in diesen Ländern erreicht ist.

Zu Nr. 2 Ihres Antrags, in dem es auch direkt um unser Bundesland geht. Das einkommensunabhängige Lernmittelausleihsystem wird fortgeführt. Die Schulbücher müssen wie bislang auch zukünftig nicht von den Eltern angeschafft werden. Sie werden weiterhin von den Schulen zur Verfügung gestellt. Ab dem nächsten Schuljahr geschieht dies aber in Form eines gebührenpflichtigen Leihsystems. Mit den Einnahmen soll die regelmäßige Neubeschaffung der Bücher verbessert werden.

Aber auch an dieser Stelle findet eine Sanierung der sozialen Sicherungssysteme und der öffentlichen Haushalte nicht einseitig zulasten der einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen statt. Wir haben dabei durchaus berücksichtigt, dass eine unverhältnismäßige Belastung der Eltern mit geringem Einkommen mit dieser Neuregelung nicht verbunden ist. Sozialhilfeempfänger wie Sorgeberechtigte mit mehr als drei Kindern werden nur eine abgesenkte Leihgebühr von lediglich einem Euro je Buch und Jahr zahlen.

Wie Sie meinen Ausführungen entnehmen können, wird die Situation der einkommensschwachen Bevölkerungsgruppen umfassend berücksichtigt. Wir treten auch dafür ein, dass unzumutbare soziale Belastungen vermieden werden. Ich bitte deshalb darum, den Antrag der PDSFraktion in seiner Gesamtheit abzulehnen.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)

Danke, Herr Minister. - Für die FDP-Fraktion wird der Abgeordnete Herr Rauls sprechen.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Bull hat uns als FDP bescheinigt, dass man bei uns weiß, woran man ist. Ich werde mich bemühen, Ihnen Recht zu geben und die Ausführungen in diese Richtung fortsetzen.

Man wird die Liste der Forderungen der PDS sicherlich noch erweitern können, wenn die Bundesregierung tatsächlich in absehbarer Zeit beginnt, ihr Reformprogramm 2010 in die Tat umzusetzen. Wie auch immer man zu bestimmten Vorhaben steht, eines, denke ich, ist sicher: Ohne gravierende Reformen, die auch Einschnitte in das soziale Netz der Bundesrepublik bringen werden, wird es keine Lösung der anstehenden Probleme geben können. Diese werden am deutlichsten durch den fehlenden Konjunkturaufschwung und die damit eng verflochtene hohe Zahl an Erwerbslosen in der Bundesrepublik und auch in Sachsen-Anhalt dargestellt.

Vielleicht wird es in Zukunft nicht mehr Arbeit für alle diejenigen geben, die sich darum bemühen. Aber die

Arbeit, die vorhanden ist, muss bezahlbar sein, sowohl für den privaten Unternehmer als auch für die öffentliche Hand. Und das ist offenbar derzeit nicht der Fall.

Die enorm hohen Lohnnebenkosten wurden eben schon erwähnt. Diese sind für uns die eigentlichen Jobkiller. Ohne eine drastische Senkung der Lohnnebenkosten werden sich weder die Wirtschaft noch die Kassen der öffentlichen Hand, aber auch nicht die der Rentenversicherungsträger oder die im Gesundheitswesen erholen.

Meine Damen und Herren! Nur wenn es gelingt, spürbare Veränderungen bei den Ursachen zu erreichen, sind auch die Wirkungen besser in den Griff zu bekommen. Wovon soll der Staat nach alter Sitte Sozialleistungen, um die es hierbei geht, bezahlen, wenn die Einnahmen fehlen, die Zahl derjenigen, die diese Leistungen in Anspruch nehmen, aber permanent steigt? Das ist, denke ich, ein Teufelskreis.

Wie sozial gerecht oder ungerecht einzelne Reformen auch sein mögen - ohne sie wird es keine Veränderungen geben. Und es ist fraglich, wie lange das soziale Netz, das in Deutschland noch immer recht engmaschig ist, mittel- und langfristig halten wird.

Dies grundsätzlich vorausgeschickt, noch einige Bemerkungen zu den einzelnen Punkten des Antrags.

Zu Punkt 1. Wie eben vom Minister ausgeführt, geht es bei der Bundesratsinitiative um die Anpassung der in Sachsen-Anhalt geltenden Regelsätze an die der meisten anderen ostdeutschen Länder. Insofern sehen wir keinen Grund, diese Initiative zurückzunehmen.

Zu Punkt 2. Mit der Einführung des gebührenpflichtigen Leihsystems für Lernmittel im kommenden Schuljahr wird auch der unterschiedlichen Einkommenssituation in den Familien Rechnung getragen. Sozialhilfeempfänger werden mit einer abgesenkten Gebühr von 1 € je Kind belastet. Bei dem Regelfall von zwei Kindern im Schulalter sind es 16 € im Jahr. Das sollte zumutbar sein.

Zu Punkt 3. Das gleichzeitige Bestehen von zwei getrennten Leistungssystemen zur Absicherung des Risikos der Langzeitarbeitslosigkeit weist aus der Sicht der FDP gravierende Gerechtigkeitsmängel auf und ist heute nicht mehr zu rechtfertigen. Menschen, die sich in der gleichen persönlichen Situation befinden, finden sich in unterschiedlichen Leistungssystemen wieder. Die Ursache dafür ist ein etwaiger vorher erworbener Anspruch auf Arbeitslosengeld, der eine Versicherungsleistung darstellt. Einen Grund für die Ungleichbehandlung nicht erwerbstätiger Menschen kann ich nicht erkennen.

Daneben leidet das bestehende System unter Effektivitäts- und Effizienzmängeln, wie der Lastenverschiebung zwischen Bund, Bundesanstalt für Arbeit und Kommunen, der mangelnden Bürgerfreundlichkeit durch Verwaltungsdoppelstrukturen und dem geringen Aktivierungserfolg.

Zu Punkt 4 des PDS-Antrags ist daher Folgendes anzumerken: Für ein Sicherungssystem, das der Arbeitslosenversicherung nachgelagert ist, sollte gelten, dass dort eine am Bedarf orientierte Grundsicherung der Bürger und nicht mehr eine prozentuale Lohnersatzleistung zur Einkommenssicherung der vormalig Erwerbstätigen angestrebt wird. Der Sozialstaat verfolgt heute nicht nur das Ziel der Sicherung der Existenz seiner Bürger, sondern auch das der Aktivierung ihrer Beschäftigungsfähigkeit.

Ich sehe, die Redezeit ist zu Ende. Es ist in der Kürze der zur Verfügung stehenden Redezeit nicht möglich, alle bei einer Reform zu bedenkenden Aspekte darzustellen. Sehr genau wird man sich aber die Fragen der Trägerschaft und der Finanzierung ansehen müssen.

Den vorliegenden Antrag lehnen wir mit der vorgetragenen Begründung ab.

(Beifall bei der FDP)

Danke, Herr Abgeordneter Rauls. - Für die SPD-Fraktion wird der Abgeordnete Herr Bischoff sprechen. Bitte sehr.

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Hinter dem Antrag steht eine Kritik an der Bundesregierung, eine Pauschalkritik, die wir so nicht teilen können. Denn wir wissen um die Schwierigkeiten, Reformen des Sozialstaats durchzusetzen, um damit sowohl Unternehmen zu sichern, als auch die solidarischen Sicherungssysteme zu erhalten. Und über die Grenzen zwischen Solidarität und Eigenverantwortung oder zwischen Zumutbarem und Entlastendem lässt sich trefflich streiten.

Richtig ist allerdings, dass die Lasten gerecht verteilt werden müssen. Starke Schultern müssen mehr tragen als schwächere. Wir werden unsere Bundesregierung und auch den Bundeskanzler an sein Versprechen erinnern, die Belastungen so zu gestalten, dass nicht die Kranken, Behinderten, Arbeitslosen und sozial Schwachen überproportional davon betroffen werden.

(Herr Scharf, CDU: Was heißt denn das? Ein- stimmigkeit in der Bundestagsfraktion?)

Andererseits kann man es sich auch nicht so einfach machen, wie es die PDS-Fraktion tut, und allein die Schwachstellen herausstellen, ohne die Finanzierbarkeit der sozialen Sicherungssysteme anzupacken oder Gegenvorschläge zu unterbreiten. Bei aller Sympathie - - Ich sage es besser so: Bei aller persönlichen Sympathie meinerseits für die Vermögensteuer und für eine höhere Erbschaftsteuer - diese Einnahmen würden die Probleme strukturell nicht lösen.

(Herr Scharf, CDU: Der Kanzler ist gegen die Ver- mögensteuer! Das haben Sie gehört, ja?)

- Ich habe gesagt, meine persönliche - -

(Herr Scharf, CDU: Der Kanzler ist gegen die Ver- mögensteuer!)