Meine Damen und Herren! Hiermit eröffne ich die 19. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der vierten Wahlperiode. Ich möchte Sie, verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen.
Herr Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer entschuldigt sich für die heutige Sitzung des Landtages. Er nimmt an der Ministerpräsidentenkonferenz in Berlin teil.
Wegen der in Erfurt stattfindenden Innenministerkonferenz entschuldigt sich Herr Minister Jeziorsky ebenfalls für die heutige Sitzung.
Am 15. und 16. Mai findet in Hamburg die Umweltministerkonferenz statt, an der Frau Ministerin Wernicke teilnimmt. Sie bittet, ihr Fehlen an beiden Sitzungstagen zu entschuldigen. Wir erhielten jedoch soeben die Nachricht, dass Frau Ministerin Wernicke beabsichtigt, zu den beiden Tagesordnungspunkten, die ihr Ressort betreffen, am heutigen Nachmittag persönlich Stellung zu nehmen, sodass wir gegebenenfalls noch einmal auf die parlamentarischen Geschäftsführer zugehen müssten, um eine Umstellung in der Tagesordnung vornehmen zu können.
Zur Tagesordnung. Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Tagesordnung für die 11. Sitzungsperiode des Landtages liegt Ihnen vor. Im Ältestenrat wurde vereinbart, die Tagesordnungspunkte 4, 5 und 16 am morgigen Freitag zu behandeln. Gibt es weitere Bemerkungen zur Tagesordnung? - Herr Abgeordneter Scharf, bitte.
Frau Präsidentin! Wie der Zeitung zu entnehmen ist, beabsichtigen Studenten und Angehörige des Lehrkörpers der Universität Magdeburg und der Fachhochschule, heute eine Demonstration durchzuführen. Sie werden wahrscheinlich um 10.45 Uhr auf dem Domplatz sein. Das ist mit ziemlicher Sicherheit genau der Zeitpunkt, zu dem wir über die Konsequenzen der Pisa-Studie diskutieren. Es wäre misslich, wenn Kultus- und Bildungspolitiker vielleicht nicht dort unten vorbeischauen könnten, weil wir hier oben über Pisa diskutieren.
Ich habe schon mit den anderen Fraktionen Kontakt aufgenommen und meine Einverständnis dazu erreichen zu können, den Tagesordnungspunkt 6 - Schritte im Ergebnis der Pisa-Studien - nach der Mittagspause zu behandeln. Alle anderen Tagesordnungspunkte würden dann einfach nach vorn rutschen.
Wenn das im gegenseitigen Einvernehmen diskutiert wurde, können wir das tun, ausgenommen Tagesordnungspunkt 10; dazu müssten wir dann schauen, ob Frau Ministerin Wernicke anwesend ist. - Dann verfahren wir entsprechend.
Dann möchte ich noch eine Bemerkung zum zeitlichen Ablauf machen. - Der Landesfrauenrat hat für heute um 20 Uhr zu einer parlamentarischen Begegnung eingeladen. Die Veranstaltung findet im Raum B0 05 unseres Hauses statt. Vereinbarungsgemäß wird die Landtagssitzung gegen 19 Uhr beendet. Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es eine parlamentarische Begegnung von männlichen und weiblichen Abgeordneten mit dem Landesfrauenrat ist.
Der Ältestenrat schlägt eine Debattendauer von 45 Minuten vor. Gemäß § 43 Abs. 6 der Geschäftsordnung wird zunächst der Fragestellerin das Wort erteilt. Alsdann erhält die Landesregierung das Wort. Nach der Aussprache steht der Fragestellerin das Recht zu, Schlussbemerkungen zu machen.
In der Debatte ist die Reihenfolge der Fraktionen und ihre Redezeit nach der Redezeitstruktur C wie folgt festgelegt: FDP fünf, SPD sieben, CDU 13 und PDS sieben Minuten.
Ich erteile nunmehr für die PDS-Fraktion der Fragestellerin, der Abgeordneten Frau Ferchland, das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Rat der Europäischen Union hat das Jahr 2003 zum „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung“ ernannt. Dieses Jahr soll sensibilisieren und die Belange von Menschen mit Behinderung in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit rücken.
Dass die Politik in den letzten Jahren einen Perspektivwechsel vorgenommen hat und dass behinderten Männern und Frauen, die bislang eher Objekt der Fürsorge waren, nun eine gleichberechtigte Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen ist, begrüßen wir ausdrücklich. Festzustellen ist aber, dass Frauen mit Behinderung doppelt diskriminiert sind - doppelt diskriminiert, weil behinderte Frauen mehr Benachteiligungen als nichtbehinderte Frauen und mehr Benachteiligungen als behinderte Männer erleben.
Die besondere Diskriminierung von Frauen mit Behinderung hat auch in die Erklärung von Madrid vom März 2002, die dem Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderung zugrunde liegt, Eingang gefunden. Darin heißt es - ich zitiere -:
Frauen aus einer neuen Perspektive zu betrachten. Der soziale Ausschluss, dem behinderte Frauen gegenüberstehen, kann nicht durch ihre Behinderung erklärt werden, sondern die Frage des Geschlechts muss auch beachtet werden. Die mehrfache Diskriminierung, der behinderte Frauen ausgesetzt sind, muss durch die Kombination der Maßnahmen des Gender-Mainstreamings und der Fördermaßnahmen, die bestimmt werden, in Abstimmung mit den behinderten Frauen überwunden werden.“
Meine Damen und Herren! In den offiziellen Verlautbarungen zum Europäischen Jahr tauchen weder behinderte Frauen noch der Begriff „Gender-Mainstreaming“ auf. Das ist Grund genug für die PDS, dies zu thematisieren.
In Sachsen-Anhalt leben nach Angaben der Landesregierung 173 475 Schwerbehinderte, davon 86 000 Frauen. Die Landesregierung nennt aber nur die Zahl derjenigen Schwerbehinderten, die einen Schwerbehindertenausweis haben, also einen Behinderungsgrad von 50 % und mehr aufweisen. Nun besitzen nicht alle einen Schwerbehindertenausweis. Wir gehen davon aus, dass jede zehnte Frau mit einer Behinderung lebt. In der Bundesrepublik sind es vier Millionen, in Sachsen-Anhalt ca. 135 000. Wir denken, das ist alles andere als eine zu vernachlässigende Größe.
Sicher, es gibt viele Parallelen zur Diskriminierung von nichtbehinderten Frauen, aber die Situation von Frauen mit Behinderung ist schlimmer, und bis zu einem bestimmten Grad gilt das auch für Männer.
Das Einkommen von behinderten Menschen liegt deutlich unterhalb des durchschnittlichen finanziellen Niveaus von Nichtbehinderten im Land. Auch hierbei verfügen Frauen mit Behinderung über weniger Einkommen und geraten häufig in den Armutsbereich - übrigens sagt der Armutsbericht darüber gar nichts aus -, zumal die Behinderung auch zusätzliche Kosten verursacht.
Dies alles ist der Antwort der Landesregierung nicht deutlich zu entnehmen. Deutlicher wird hier der GenderReport. Auch wenn in den neuen Bundesländern der Anteil der weiblichen behinderten Studierenden bei zwei Dritteln liegt - Sachsen-Anhalt konnte hierzu gar keine Angaben machen -, sind behinderte Frauen nicht, wie immer angenommen wird, in der Ausbildung benachteiligt, nein, sie sind es in der Eingliederung in den Beruf. Über 18,4 % der befragten Frauen mit Körper- und Sinnesbehinderung haben keinen Berufsabschluss, und dies bundesweit. Trotzdem sind in Sachsen-Anhalt ca. 45,1 % erwerbstätig.
Festzustellen ist auch, dass wesentlich weniger Frauen mit Behinderung beschäftigt sind. Von den behinderten Menschen, die einen Arbeitsplatz haben, sind es bundesweit zwei Drittel Männer und nur ein Drittel Frauen. Wer aber, meine Damen und Herren, behinderte Menschen vom Erwerbsleben ausschließt, schließt sie von der gesellschaftlichen Teilhabe aus.
Menschen mit Behinderung werden oft als geschlechtsneutrale Wesen angesehen, als Wesen ohne sexuelle Identität. Man bezeichnet sie oft als „die Behinderten“, ohne auf das Menschsein, geschweige denn auf das Mann- oder Frau-Sein hinzuweisen. Diese Bezeichnung hat die Bedürfnisse der Frauen und Männer von denen im Zusammenhang mit der Behinderung stehenden Bedürfnissen getrennt. Das zeigt sich unter anderem auch darin, dass behinderten Frauen oft abgeraten wird,
schwanger zu werden, dass sie falsch oder gar nicht informiert werden, ob sie Kinder gebären können. Auch hierzu ist die Antwort der Landesregierung unzureichend und auch hierzu lohnt sich ein Blick in den GenderReport.
Aber nicht nur der Anspruch auf eine eigenständige Existenz ist für Frauen wichtig: Es geht um ein selbstbestimmtes Leben und das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Daher ist die Bekämpfung der Gewalt gegen Frauen auch hierbei in den Mittelpunkt zu rücken. Mädchen und Frauen mit geistiger Behinderung sind etwa viermal häufiger von sexueller Gewalt betroffen als behinderte Jungen und Männer.
Darüber hinaus gibt es besondere Risikofaktoren, die dazu führen, dass Menschen mit Behinderungen in erhöhtem Maße sexuelle Gewalt erfahren. Diese Risikofaktoren sind: intellektuelle Beeinträchtigung, Erziehung zu Anpassung und Unauffälligkeit, Hilfsbedürftigkeit und Abhängigkeit, geringes Selbstwertgefühl, emotionale Vernachlässigung, verminderte Artikulationsfähigkeit, vermeintlich verringerte Glaubwürdigkeit, Abwertung, Leugnung, Reglementierung sexueller Bedürfnisse, Unaufgeklärtheit und Sterilisation.
Wenn man bedenkt - wie die österreichische Studie von Zemp aus dem Jahre 1996 zeigt -, dass Frauen, die in Einrichtungen aufwachsen, häufig mehr Gewalterfahrung artikulieren als Frauen im häuslichen Umfeld, dass Sozialisation in den Strukturen einer Institution offensichtlich die Wahrscheinlichkeit, Gewalt zu erfahren, erhöht, ist es mehr als bedenklich, dass die Landesregierung die Gewaltprävention anscheinend den Trägern der Einrichtung allein überlässt. Hier ist die eingeschränkte Sichtweise deutlich zu spüren.
Frauen und Mädchen mit Behinderung müssen feststellen, dass ihnen der Zugang zu vielen Hilfsangeboten erschwert oder verwehrt wird. Frauenhaus, Zufluchtswohnung, Notruf oder Polizeidienststellen - viele dieser Einrichtungen sind bislang für Frauen mit Behinderung aufgrund von baulichen oder Kommunikationsbarrieren unzugänglich. Auch viele spezielle Beratungsangebote sind nicht barrierefrei zu erreichen und Beratungsangebote für Menschen mit Behinderung bieten selten eine spezielle Beratung für behinderte Frauen an. Die Beraterinnen dort sind mit dem Thema Gewalt einfach nicht vertraut.
Ebenso wie das Thema Sexualität und Gewalt ist die Assistenz bzw. die Pflege für Frauen von großer Bedeutung. Einer Studie zufolge sind 94 % der Frauen der Ansicht, dass Behinderte grundsätzlich die Freiheit haben sollten zu entscheiden, ob sie von einem Mann oder einer Frau gepflegt werden. Als gravierend und enttäuschend empfinde ich es, dass die Landesregierung die Festschreibung einer Wahlmöglichkeit bezüglich des Geschlechts der Pflegeperson nicht für notwendig hält.
Die Große Anfrage, meine Damen und Herren, sollte die Problemsicht erweitern und sensibel machen. In einigen Punkten der Antwort ist dies auch deutlich zu spüren und wir erhoffen uns hier wirklich Veränderungen. Allerdings muss auch angemerkt werden, dass die Antwort in vielen Teilen hinter dem Gender-Report zurückbleibt. Hierbei stellt sich die Frage: Wie werden solche im Regierungsauftrag erstellte wissenschaftliche Studien für die Regierungspraxis genutzt?
Leider muss ich auch feststellen, dass in einigen Punkten, wie zum Beispiel der ärztlichen Versorgung, entweder die Frage nicht verstanden wurde oder keine Pro
blemsicht vorhanden ist. Hierzu, denke ich, haben der Behindertenbeirat und auch die Fraktionen noch einiges zu tun.
Deutlich wird in der Beantwortung, wie wenig Behindertenpolitik als Querschnittsaufgabe verstanden wird. Vom Gender-Mainstreaming findet sich keine Spur.
Eines noch: In der Vorbemerkung, Herr Kley, loben Sie die Frageaktion und erklären, den tatsächlichen Hilfebedarf im Land zu kennen. Sie kennen aber nur den stationären und den teilstationären Bereich. Alle Männer und Frauen, die nicht in Einrichtungen sind, werden hierbei gar nicht erfasst. Ich denke, auch hier sollten Sie nacharbeiten.
Mädchen und Frauen mit Behinderungen müssen zunehmend aus der Unsichtbarkeit heraus. Sie wollen gefordert und anerkannt werden. Recht haben sie. Dies alles und mehr wird in diesem Jahr diskutiert werden, und ich hoffe, nicht nur in diesem Jahr.
Danke, Frau Abgeordnete Ferchland. - Für die Landesregierung erhält der Minister für Gesundheit und Soziales Herr Kley das Wort.
Doch zuvor habe ich die Freude, Schülerinnen und Schüler der Lessing-Sekundarschule Calbe zu begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!