Ich erteile zunächst dem Einbringer des Antrages der SPD-Fraktion, Herrn Dr. Püchel, das Wort. Bitte sehr, Herr Dr. Püchel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Am 8. Oktober 2003 ist durch einen Bericht der „Mitteldeutschen Zeitung“ ein Schreiben bekannt geworden, das der Justizminister Curt Becker an die Stadtverwaltung Naumburg gerichtet hat. Mit dem Schreiben hat sich der Ausschuss für Recht und Verfassung in seiner turnusmäßigen Sitzung am gleichen Tag und in einer Sondersitzung am 14. Oktober 2003 ausführlich beschäftigt.
Wie stellt sich der Sachverhalt nach der Befragung im Rechtsausschuss dar? Ich will ihn in seiner zeitlichen Abfolge darstellen und ihn anschließend bewerten.
Meine Damen und Herren! Am 18. April 1996 erteilte das Landratsamt des Burgenlandkreises einer GbR die Genehmigung zum Bau und zur Sanierung des Wohn- und Geschäftshauses in der Fischerstraße 19 a in Naumburg. Bei dieser Gesellschaft bürgerlichen Rechts handelte es sich um die Poser und Wedel GbR, die aus den Partnern Graf von Wedel und Herrn Poser besteht. Letzterer ist Mitglied der CDU-Landtagsfraktion und des Kreistags des Burgenlandkreises.
Mit der Baugenehmigung wurde den Bauherren auferlegt, mindestens zwölf Stellplätze abzulösen. Gegen diese Auflage richtete sich der Widerspruch, den die Poser und Wedel GbR nach eigener Darstellung bereits mit Schreiben von 23. April 1996 einlegte. Weder beim Burgenlandkreis noch bei der Stadtverwaltung Naumburg ist der Eingang dieses Schreibens jedoch verzeichnet worden. Man ging behördlicherseits davon aus, dass ein Widerspruch nicht existiert.
Eine am 3. Juni 1998, also mehr als zwei Jahre später, beim Burgenlandkreis eingegangene Kopie des Widerspruchs mit Datum vom 23. April 1996 wurde dem Regierungspräsidium Halle vorgelegt und mit Bescheid vom 28. September 2000 wegen Verfristung zurückgewiesen.
Gegen diesen Widerspruchsbescheid hat die Poser und Wedel GbR noch im gleichen Jahr Klage beim Verwaltungsgericht Halle eingelegt. Die Berichterstatterin der zweiten Kammer verfügte am 30. Januar 2003, es möge über eine einvernehmliche Streitbeilegung nachgedacht
werden; diese könnte die Ablösung von sieben Stellplätzen vorsehen. Die Stadtverwaltung Naumburg erwiderte mit Schriftsatz vom 26. Februar 2003, dass aufgrund der zeitlichen Verzögerung der Angelegenheit und der klageweisen Verfolgung ein solches Angebot heute nicht mehr in Betracht komme.
In der mündlichen Gerichtsverhandlung am 12. März 2003 präsentierte der Rechtsanwalt der Poser und Wedel GbR ein Schreiben des Justizministers, das der Kammer und der Vertreterin der Stadtverwaltung überreicht wurde und zumindest teilweise zur Verlesung kam.
In dem Schreiben heißt es, dass sich seit dem Zeitpunkt der Festlegung auf zwölf Stellplätze die Verhältnisse dramatisch geändert hätten. Erstens habe die GbR die Vermietung nicht in dem ursprünglich erwarteten Umfang durchführen können. Zweitens solle mit dem Zweiten Investitionserleichterungsgesetz, das dem Landtag zur Beratung vorliege, die Pflicht zur Erhebung von Stellplatzablösebeiträgen modifiziert werden. Letztlich könne es darauf hinauslaufen, dass die Stadt auf die Erhebung verzichte. Drittens drohe der GbR die Insolvenz, falls es nicht gelinge, die Stellplatzanzahl zu reduzieren und den noch ausstehenden Stellplatzablösebetrag zu stunden.
Herr Justizminister Becker schließt sein Schreiben mit dem Satz, er wolle noch einmal nachdrücklich darum bitten, dass dem Anliegen der GbR, die vorzuhaltenden Stellplätze auf drei zu reduzieren, nachgekommen werde.
Der Vorsitzende Richter hat sich, nachdem das Schreiben am 12. März 2003 in die Verhandlung eingeführt worden war, von diesem Schreiben seines obersten Dienstherrn distanziert. Er hat im Ausschuss berichtet, dass seine Verhandlungsführung dadurch erschwert worden sei, dass die Kläger anstelle des vom Gericht angeregten Vergleichs, sich auf sieben Stellplätze zu einigen, dafür plädiert hätten, lediglich die drei von Minister Becker vorgeschlagenen Stellplätze abzulösen. Der Richter habe seine Erfahrung einsetzen müssen, um den Einfluss des Schreibens zu überwinden und einen Vergleich über sieben Stellplätze zu erreichen. Das Gericht sei verärgert gewesen.
Von der nachhaltigen Irritation gibt auch die Niederschrift über die Sitzung Auskunft. In der Endfassung der Niederschrift ist die im Entwurf noch vorhandene Feststellung, dass der Rechtsanwalt der Kammer einen Schriftsatz überreichte, nicht mehr enthalten. Es fehlt auch der im Entwurf vorhandene Hinweis, dass der Vergleich auf das dringende Anraten des Gerichts hin geschlossen wurde.
Der Widerrufsvergleich ist rechtskräftig geworden, weil die von der Rechtsamtsleiterin der Stadt Naumburg beim Termin der mündlichen Verhandlung am 12. März 2003 erklärte Zustimmung nicht widerrufen worden ist. Durch den Vergleich verringerte sich die Stellplatzablöseverpflichtung der GbR um fünf Plätze im Gegenwert von 30 000 €. Um diesen Betrag ist der Anspruch der Stadt gegen die Klägerin gemindert worden. Dieses Geld fehlt der Stadt in ihrem Stadtsäckel.
Meine Damen und Herren! Das sind die Fakten. Nach der Überzeugung der SPD-Fraktion hat sich der Minister der Justiz einer schweren Amtspflichtverletzung schuldig gemacht. Dies erfordert es, dass er seine Amtszeit beendet bzw. dass diese durch den Ministerpräsidenten
beendet wird. Namens meiner Fraktion fordere ich deshalb den Rücktritt des Ministers der Justiz Herrn Curt Becker bzw. seine Entlassung durch den Ministerpräsidenten.
Herr Becker räumt ein, den falschen Briefbogen verwendet zu haben. Dabei handelt es sich aber nicht um ein Augenblicksversehen beim Griff in die Schublade, sondern um eine bewusste Entscheidung. Der nach seinem Diktat entstandene Entwurf enthält in der Überschrift fett gedruckt den Hinweis: „Verfügung: Schreiben auf Ministerkopfbogen.“ Der Minister hat handschriftlich Korrekturen an diesem Entwurf vorgenommen, nicht jedoch hinsichtlich des zu benutzenden Briefbogens. Schließlich hat er die Endfassung des Schreibens auch auf dem Ministerbriefbogen unterzeichnet.
Meine Damen und Herren! Nicht nur die Wahl des Briefbogens war falsch; das Schreiben des Ministers selbst ist inhaltlich unzutreffend und wirkt irreführend.
Ich möchte meine Ausführungen jetzt nicht dahin gehend vertiefen, wie der Minister zu seinen Aussagen bezüglich der Vermietungserwartungen und einer drohenden Insolvenz der GbR gekommen ist. In der Anhörung des Rechtsausschusses ist nichts dargelegt worden, was diese Behauptung stützen würde, und das, obwohl die Mehrheit der Ausschussmitglieder zum Schutz der Interessen der Investoren die Öffentlichkeit von der Sitzung ausgeschlossen hatte.
Meine Damen und Herren! Ich muss allerdings etwas zu der Behauptung in dem Schreiben des Ministers sagen, das so genannte Zweite Investitionserleichterungsgesetz könne darauf hinauslaufen, dass die Städte auf die Erhebung von Stellplatzablösebeiträgen verzichteten. Damit wird der Eindruck erweckt, es handele sich um ein Gesetz, dass Auswirkungen auf ein noch nicht rechtskräftig abgeschlossenes Verfahren haben kann.
Solche Gesetze gibt es unter anderem im Steuerrecht. Um ein solches Gesetz handelt es sich bei dem Zweiten Investitionserleichterungsgesetz jedoch gerade nicht. Sowohl der am 5. März 2003 als Landtagsdrucksache veröffentlichte Entwurf des Gesetzes als auch die im Juli 2003 in zweiter Lesung beschlossene Fassung waren somit überhaupt nicht geeignet, den Verfahrensausgang in irgendeiner Form zu beeinflussen. Der Minister spricht in seinem Schreiben jedoch von einer dramatisch veränderten Lage.
Um es ganz klar zu sagen: Ein Schreiben dieses Inhalts hätte nicht einmal auf einem Abgeordnetenkopfbogen abgesandt werden dürfen.
Meine Damen und Herren! Das Schreiben des Ministers hat den Oberbürgermeister der Stadt Naumburg Herrn Preißer nach dessen Darstellung nicht erreicht. Adressat war aber nicht allein der Oberbürgermeister; denn die erste Zeile der Anschrift lautet: „Stadtverwaltung Naumburg“ - dann erst folgen die Amtsbezeichnung „Oberbürgermeister“ und der Name.
Das Schreiben hat die Stadtverwaltung jedenfalls in Person der Rechtsamtsleiterin erreicht, und zwar an einem Ort und zu einem Zeitpunkt, wo es ihre Willensbildung beeinflussen konnte,
nämlich am 12. März 2003 im Sitzungssaal des Verwaltungsgerichts, bevor die Rechtsamtsleiterin der Stadt in den Widerrufsvergleich einwilligte. Das Schreiben ist in Anwesenheit der Rechtsamtsleiterin verlesen und dieser ausgehändigt worden. Danach hat sie sich auf den Vergleich eingelassen, der für die Stadt mit einer Mindereinnahme in Höhe von 30 000 € verbunden ist. Die rechtswirksame Willenserklärung wurde zu diesem Termin, am 12. März 2003, von der Rechtsamtsleiterin für die Stadtverwaltung abgegeben.
Meine Damen und Herren! Das Schreiben hat nach Angaben des Vorsitzenden der Kammer den Gang der Verhandlung beeinflusst.
- Lassen Sie mich bitte ausreden! - Das Schreiben hat offensichtlich auch den Prozess der Willensbildung der Stadt Naumburg im Hinblick auf den Vergleich beeinflusst.
Sie hatte zwei Wochen zuvor nicht nur diesen Vergleich abgelehnt, sondern war überhaupt nicht zu einem Vergleich bereit.
Das Gericht hat lediglich im Rahmen seiner allgemeinen Verpflichtung gehandelt, stets auf eine gütliche Verfahrenserledigung hinzuwirken. Wie das Gericht inhaltlich dachte, ist daran erkennbar, dass die Verfahrenskosten in der abschließenden Kostenentscheidung wie bei einer Klageabweisung in Gänze der Klägerseite auferlegt worden sind.
Üblicherweise werden im Fall eines Vergleichs die Kosten entsprechend dem Verhältnis des beiderseitigen Nachgebens geteilt.
Meine Damen und Herren! Fakt ist, der Justizminister hat in einem laufenden Verfahren zugunsten eines Parteifreundes interveniert. Er hat sich zum Anwalt der Kläger gemacht und damit seine Pflicht zur unparteiischen Amtsführung verletzt. Das Neutralitätsgebot erfordert es, sich in einer rechtlichen Auseinandersetzung nicht zum Anwalt einer Seite zu machen, schon gar nicht während eines laufenden Gerichtsverfahrens.
Ein verantwortungsbewusster Politiker hat nicht nur für die von ihm gewollten Folgen seines Tuns einzutreten, sondern auch für die von ihm nicht beabsichtigten, aber vorhersehbaren Folgen.
Im vorliegenden Fall hat das Schreiben des Ministers nach der Einschätzung des Vorsitzenden des Gerichts zwar nicht das Ergebnis der mündlichen Verhandlung, jedoch ihren Verlauf beeinflusst. Der Vorsitzende der Kammer, der zugleich der Präsident des Gerichts ist, konnte dank seiner Professionalität die von der Klägerseite gewollte Beeinflussung des Ergebnisses der mündlichen Verhandlung abwehren.
Meine Damen und Herren! Ein Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit liegt nicht erst dann vor, wenn das Ergebnis des Rechtsfindungsprozesses verfälscht worden ist, sondern bereits dann, wenn auf den Gang der Ereignisse in einer Weise Einfluss genommen wird, die geeignet sein könnte, das Ergebnis zu verfälschen.
Selbst wenn man einen Eingriff in die richterliche Unabhängigkeit in diesem Fall verneinen würde, liegt doch unbestreitbar eine Verletzung der Neutralitätspflicht, der Pflicht zur unparteiischen Amtsführung, vor. Der Minister der Justiz durfte sich in einem laufenden Verfahren nicht zum Anwalt einer Partei machen. Diesen wie auch die anderen Fehler hat Herr Becker zu vertreten.
Es ist interessant, dass auch ein Verfassungsrichter unseres Landes dies so sieht. Herr Professor Kluth hat sich in einem Interview eindeutig geäußert. Er hat von unzulässiger Parteinahme, einer Verquickung amtlicher Verpflichtungen und persönlicher Interessen sowie vom Eingriff in die kommunale Selbstverwaltung gesprochen. Diese Worte wiegen schwer; denn es ist nicht selbstverständlich, dass sich ein ranghoher Richter in dieser Klarheit äußert.
Herr Minister Becker, Sie haben am 17. Mai vergangenen Jahres hier den Amtseid geleistet. Sie haben geschworen, dass Sie Verfassung und Gesetz wahren, Ihre Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegenüber jedermann üben werden. In der Auseinandersetzung um verschiedene Vorfälle im Zuständigkeitsbereich Ihres Hauses haben Sie den Standpunkt vertreten, dass die Mitarbeiter der Justiz den staatlichen Autoritätsanspruch nur dann glaubwürdig vertreten können, wenn sie bereit sind, das zu geben, was sie anderen abverlangen.
An diesem Maßstab, den Sie an Richter und an Staatsanwälte, an Rechtspfleger und alle anderen Justizbediensteten anlegen, müssen Sie sich jetzt selbst messen lassen.
Die Amtspflichten eines Ministers erfassen die ganz Person. Es gibt keine von der Ministertätigkeit zu trennende Abgeordnetentätigkeit, in der ein Minister ohne Rücksicht auf sein Amt handeln könnte.
Herr Minister, Sie haben in einem am 20. September 2003 veröffentlichten „Volksstimme“-Gespräch gesagt: „Richter müssen nicht nur fachliches Können, sondern auch eine hohe soziale Kompetenz vorweisen.“ Um diese Vorbildwirkung zu erreichen, seien der enge Kontakt zur Familie und die Einbindung in der Region sehr wichtig. Anderenfalls bestehe die Gefahr, dass der Richter zuhause ein Biedermann sei und am Arbeitsort irgendetwas anderes.