Umgang der Landesregierung mit der Denkschrift des Städte- und Gemeindebundes Sachsen-Anhalt „Weil es um unser Land geht!“ vom 19. April 2004 und der „Wernigeröder Erklärung“ anlässlich des 775-jährigen Jubiläums der Verleihung des Goslarschen Stadtrechtes an die Stadt Wernigerode
Zunächst erhält als Einbringer des Antrages der Fraktion der SPD Herr Abgeordneter Dr. Polte das Wort. Bitte sehr, Herr Dr. Polte.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage nach der Qualität sowie dem Stellenwert der kommunalen Selbstverwaltung - das sind Themen, die sich in unserem Land, aber nicht nur in Sachsen-Anhalt, in den letzten Jahren immer mehr verschärft haben. Für den Städte- und Gemeindebund war dies Anlass, gelegentlich seiner 100. Präsidiumssitzung ein Positionspapier in Form einer Denkschrift zu verabschieden. Der Grund dafür ist der Zustand der kommunalen Selbstverwaltung und die daraus folgenden verminderten Entwicklungschancen der Städte und Gemeinden in unserem Land.
Kennzeichnend für die mittlerweile katastrophale Lage der Kommunen und die zunehmende Entwertung der
kommunalen Selbstverwaltung sind unter anderem die nicht aufgabengerechte Finanzausstattung der Kommunen, die zum Verlust von Entscheidungsrechten der kommunalen Verantwortungsträger führt und sie mehr und mehr auf die Rolle von Mitwirkungshandelnden bei der dezentralisierten Verwaltung des Landes reduziert.
Der Gesetzgeber - damit meine ich uns, den Landtag - schränkt den kommunalen Handlungsspielraum zunehmend ein. Die Gesetze werden mit detaillierten Ausführungsregelungen versehen, weil man den Kommunen infolge der Finanzlage immer weniger zutraut, vor Ort die schwierige Abwägung zwischen dem Wünschenswerten und dem Notwendigen vorzunehmen. Aus Zeitgründen verzichte ich darauf, Beispiele zu nennen.
Immer weniger Kommunen sind noch in der Lage, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Nach den Angaben des Städte- und Gemeindebundes waren im Jahr 2003 75 % der Städte mit mehr als 20 000 Einwohnern in Sachsen-Anhalt nicht dazu in der Lage, einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. Inzwischen ist diese Quote auf 90 % angestiegen. Bei den Kreishaushalten trifft dies in diesem Jahr auf 20 von 21 Landkreisen zu. Haben 1999 noch 60 Kommunen einen Antrag auf Liquiditätshilfe beim Land stellen müssen, hat sich diese Zahl bis August 2003 verdoppelt und sie wird tendenziell weiter steigen.
Unser Bundesland Sachsen-Anhalt beteiligt seine Kommunen an den Einnahmen des Landes mit der niedrigsten Quote aller östlichen Bundesländer. Die vom Bund gezahlten Zuweisungen zur Kompensation der unterproportionalen Finanzkraft kommen bei den Kommunen nicht in angemessener Höhe an. Die Mittel für die Aufgaben der Kommunen dienen vielmehr dem Schuldendienst des Landes und zwingen die unterfinanzierten Kommunen geradezu, sich selbst weiter zu verschulden.
Für die Finanzierung konsumtiver Ausgaben durch die Kommunen werden zwangsläufig Kassenkredite aufgenommen, die sich beispielsweise im August 2003 bereits auf 140 Millionen € beliefen.
Die Finanzschwäche der Kommunen vermindert erheblich ihre Investitionstätigkeit. Der Auftragsrückgang bei der örtlichen Wirtschaft führt wiederum zu einer Reduzierung der Steuereinnahmen bei den Kommunen.
Der Herr Innenminister hat dies alles erst vor wenigen Tagen in der „Berliner Zeitung“ bestätigt. Er sprach von der „dramatischen finanziellen Situation der Kommunen“. Sein Pressesprecher charakterisiert: „Die Kommunen kriechen auf dem Zahnfleisch“.
Meine Damen und Herren! Unser heutiger Antrag und die Begründung, die ich dazu gebe, sollen nicht anklagen, sondern sie sollen anmahnen. Dabei ist wohl allen klar, dass es für Reparaturmaßnahmen kaum mehr Spielräume gibt. Vielmehr müssen grundsätzliche Rettungsmaßnahmen erörtert werden.
An dieser Stelle sehe ich die Verantwortung des Landtags in seiner Gesamtheit. Ich hoffe, dass wir alle miteinander der Losung bzw. der Grundüberzeugung zustimmen: Ohne starke Kommunen kein starkes Land.
Man kann es auch mit den Worten von Bundespräsident Rau ausdrücken, der sagte: „Wer über die Lage der Städte spricht, der spricht über die Lage unser Landes.“ Das Land und die Kommunen bilden eine Schicksalsgemeinschaft. Wir halten es für dringend geraten, neu
Wir können es doch nicht ohne Emotionen weiter hinnehmen, dass sich die Dinge für die Kommunen so dramatisch zugespitzt haben, ohne mit Leidenschaft und Engagement nachhaltig gegenzusteuern. Das Anliegen der Denkschrift besteht nicht in einer plakativen Forderung nach mehr Geld - ich denke, dass allen politischen Verantwortungsträgern der enge Finanzspielraum bewusst ist -, sondern es geht um den Erhalt und die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung unter zugegebenermaßen schwierigen Rahmenbedingungen.
Dazu gibt die Denkschrift eine Reihe von Denkanstößen. Ich möchte im Folgenden einige Lösungsansätze vortragen, die nicht alle einen absoluten Neuigkeitswert besitzen. Sie werden aber bisher im politischen Gesamtzusammenhang weder vom Landtag selbst noch im Rahmen von Regierungshandeln erörtert. Ich wünschte mir deshalb, dass sie einen Impuls liefern, sich unkonventionell über grundsätzliche Maßnahmen einer nachhaltigen Gesundungsstrategie für die Kommunen zu verständigen. Im Einzelnen:
Erstens. Eine konsequente Sanierungspolitik bedarf einerseits des Solidargedankens sowie andererseits der Nichtbeachtung des Sankt-Florians-Prinzips. Nur auf der Basis dieser Grundüberzeugung sind zukunftsfähige Lösungen möglich. Oder anders gesagt: Solange diese Grundpositionen nicht bestimmend sind für unser politisches Handeln, können keine ganzheitlichen Lösungsansätze entwickelt werden. Hierbei sehe ich deutlich erkennbare Defizite.
Zweitens. Die bereits im Verwaltungsmodernisierungsgrundsätzegesetz festgelegte Verpflichtung zur kommunalen Aufgabenkritik mit dem Ziel eines möglichen Verzichts auf öffentliche Leistungen und Aufgaben muss im Interesse einer finanziellen Entlastung der Kommunen beschleunigt umgesetzt werden; denn noch immer erbringen unsere Kommunen Leistungen, die sie sich längst nicht mehr leisten können.
Drittens. Der Landtag sollte sich bei seiner Gesetzgebungsarbeit darauf beschränken, die Kommunen an Zielvorgaben und Rahmenbedingungen zu binden. Die inhaltlichen Vorgaben sollten so wenig wie möglich an die finanziellen Leistungen geknüpft sein. Das würde so manches bürokratische Verfahren einschränken und auch zu personellen Einsparungen führen.
Viertens. Wie seit Jahren gefordert, müssen die seitens des Gesetzgebers vorgeschriebenen baulichen Ausstattungsnormen und -standards rigoros vom Wünschenswerten, aber nicht mehr Bezahlbaren auf das wirklich notwendige Maß reduziert werden. Das ist eine alte, jedoch in den zurückliegenden Jahren ohne nennenswerten Erfolg gestellte Forderung. Hierbei müssen wir auf der Landesebene Schularbeiten machen.
Fünftens. In Anbetracht der unzureichenden Finanzausstattung der Kommunen muss eine Umstellung von Zweckzuweisungen für spezielle örtliche Ziele zugunsten einer besseren allgemeinen Finanzausstattung für die Kommunen vollzogen werden. Fachpolitik und Ressortegoismus - letztlich zum Schaden des Ganzen - stehen dem oft entgegen und müssen kritisch hinterfragt werden.
Sechstens. Eine Verwaltungsreform mit ihren Teilen Funktional- und Strukturreform ist von existenzieller Bedeutung für das Land Sachsen-Anhalt. Ausgehend von
dieser Erkenntnis ist eine Gesamtkonzeption der Verwaltungsreform mit ihren Detailzielen unverzichtbar. Die nach erfolgter Aufgabenkritik zu beschließende Funktionalreform und die darauf aufbauende kommunale Neuordnung unseres Landes ist im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit des Landes Sachsen-Anhalt das entscheidende Reformziel. Ohne Beachtung von Wirtschaftlichkeitskriterien wie auch von Festlegungen zur Raumordnung sind Reformziele nicht realisierbar.
Dazu muss die Erkenntnis Raum greifen, dass die grundsätzlichen Reformziele nur erreichbar sind, wenn die Verwaltung des gesamten Landes bis zur kleinsten kommunalen Einheit nach der Reform entscheidend weniger kostet als vor der Reform, wenn die Zentren in ihrer Funktionsfähigkeit eine deutliche Stärkung erfahren haben und so die ihnen zugewiesenen Raumordnungsfunktionen auch zum Vorteil des Umlandes erfüllen können - dazu muss die Landesentwicklung netzstrukturartig und mit einer entsprechenden Konzentration der Investitionstätigkeit erfolgen - und wenn der Wirtschaftsstandort Sachsen-Anhalt insgesamt nachhaltig gestärkt wird.
Ich habe gegenwärtig die Sorge, dass die derzeitigen Verwaltungsreformbemühungen zu halbherzig verfolgt werden und dadurch ihre angestrebten Effekte nicht erreichen. Nicht Reform um der Reform willen, sondern um klar definierte Reformziele zu realisieren, das muss das Handeln bestimmen.
Wir beantragen die Überweisung unseres Antrages einschließlich der Denkschrift des Städte- und Gemeindebundes zur kommunalen Selbstverwaltung an den Ausschuss für Inneres als Diskussionsgrundlage hinsichtlich möglicher Maßnahmen zur Sicherung der kommunalen Selbstverwaltung. Wir sollten abchecken, ob es in diesen Fragen nicht doch einen Grundkonsens gibt und wie wir im Weiteren verfahrensseitig damit umgehen wollen. - Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Abgeordneter Dr. Polte. - Meine Damen und Herren! Den Antrag der Fraktion der PDS in der Drs. 4/1561 bringt der Abgeordnete Herr Grünert ein. Bitte sehr, Herr Grünert.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Schade ist es, dass der Saal halb leer ist. Es geht ja bloß um die Kommunen unseres Landes und damit auch um Zukunftsfähigkeit.
Die am 19. April 2004 verabschiedete Wernigeröder Denkschrift des Städte- und Gemeindebundes ist nach der Aktion „Rettet die Kommunen!“ der bisher letzte Versuch der Kommunen des Landes, auf die nicht nur bundespolitisch, sondern auch landespolitisch zu verantwortende Politik zum Nachteil der Entwicklungsfähigkeit der Kommunen aufmerksam zu machen. Nach den Ankündigungen der Bundesregierung, aber auch der Landesregierung, dass es mit der Gemeindefinanzreform zu spürbaren Entlastungen komme, ist seit dem 17. Dezember 2003 eine herbe Ernüchterung eingetreten.
Die in der morgigen Sitzung zu behandelnde Änderung des Haushaltsgesetzes 2004 - Nachtragshaushalt - führt
zu einer weiteren Reduzierung der Leistungen nach dem Finanzausgleichsgesetz von rund 38 Millionen €. Eine Refinanzierung der den Kommunen per Gesetz übertragenen Aufgaben und die Gewährleistung der kommunalen Selbstverwaltung entsprechend unserer Landesverfassung ist mit dieser weiteren Reduzierung nicht mehr garantiert. Damit hat es die CDU-FDP-Regierung in nur zwei Jahren geschafft, den Kommunen rund 500 Millionen € vorzuenthalten und sie an den Rand des Ruins zu treiben.
Meine Kollegin Dr. Petra Weiher wird dazu unter dem folgenden Tagesordnungspunkt auch noch Ausführungen machen, sodass ich auf weitere Erörterungen zu Finanzfragen an dieser Stelle verzichte.
Neben den dargestellten finanziellen Streichungen lebensnotwendiger Zuschüsse für die Kommunen ist von der Landesregierung jedoch auch kein Ansatz zu sehen, wie sie die Kommunen unseres Landes trotz der Haushaltszwänge zukunftsfähig gestalten will. Das Gesetz zur Fortentwicklung der Verwaltungsgemeinschaften und Stärkung gemeindlicher Verwaltungstätigkeit führt in seiner Umsetzung eben nicht zur Stärkung der gemeindlichen Verwaltungstätigkeit, sondern zu einer politischen Schlechterstellung der Verwaltungsgemeinschaften gegenüber den Einheitsgemeinden.
Neben dem Fehlen der Inhalte einer klar gegliederten und den Aufgaben der Kommunen entsprechenden Funktionalreform scheinen Gesichtspunkte der Raumordnung, der Landesplanung, örtliche Zusammenhänge sowie zukunftsfähige Kreisstrukturen, Wirtschafts- und Verkehrsverhältnisse, kirchliche, kulturelle und historische Beziehungen in dem Bestreben der Landesregierung nach möglichst großen Verwaltungseinheiten keine Rolle zu spielen.
Eine Zukunftsfähigkeit der kommunalen Ebene ist bei Beibehaltung und in den Grenzen der derzeitigen Kreisstruktur sowie ohne eine klar definierte Funktionalreform entsprechend dem Leitantrag vom Januar 2002 nicht umsetzbar.
Derzeit wird vom Grundsatz der Kommunalisierung der Aufgaben erheblich abgewichen und findet eine Zentralisation von Aufgaben im Landesverwaltungsamt sowie Privatisierung von Aufgaben statt. Das, meine Damen und Herren, dient nicht dem Grundsatz der Abflachung der Verwaltungshierarchie und der Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung, die Sie, meine Damen und Herren von der Regierungskoalition, noch im Jahr 2002 vollmundig den Kommunen versprochen haben.
Auch der Ansatz der Denkschrift im Hinblick auf Deregulierung von Verwaltungsvorschriften, der Verzicht des Gesetzgebers auf bürokratische Verfahren und unnötige Administrationskosten ist im derzeitigen Handeln der Landesregierung nicht zu finden. Die groß angekündigten Investitionserleichterungen führten nicht zu einer spürbaren Deregulierung und Entlastung, sondern zu einer weiteren Reduzierung der Einnahmemöglichkeiten der Kommunen ohne Kompensation seitens des Landes.
Der Ansatz der Landesregierung zur Verwaltungsreform sowie der Reform der Landesbehörden und der kommunalen Behörden mit dem Ziel der Erhöhung der Effizienz der Verwaltung ist nicht zu erkennen. Das Gegenteil ist der Fall. Während sich offensichtlich Landesbehörden das Recht herausnehmen, entgegen rechtlich normierten Verfahren wie bei Vergaben zu handeln, werden den
Kommunen bis ins Detail gehende Vorgaben vorgeschrieben, sodass die Vertretungen in ihrer Entscheidungskompetenz erheblich beschnitten werden und faktisch keinen Ermessensspielraum mehr haben.
Wir fordern ausdrücklich die Landesregierung auf, ihre Deregulierungsabsichten klar zu benennen und dem Parlament entsprechende Konzepte darzustellen.
Meine Damen und Herren! Am 13. Juni 2004 werden Mandatsträger für die kommunalen Gebietskörperschaften gewählt. Vielfach finden zurzeit Vorstellungsrunden der Kandidaten statt, in denen sich die Bewerber der Öffentlichkeit stellen und ihre Zielstellungen für die zukünftige Entwicklung ihrer Kommunen darstellen.
Vor dem Hintergrund einer chronischen Unterfinanzierung und immer geringerer Gestaltungsmöglichkeiten ist es immer schwerer möglich, gegenüber der Bürgerschaft Verantwortung zu übernehmen und notwendige Veränderungen und Verbesserungen bei der öffentlichen Daseinvorsorge vorzuschlagen, geschweige denn, sie umzusetzen.