Protokoll der Sitzung vom 07.05.2004

Frauen wissen das, manche Männer auch - dieser Beruf hat auch etwas mit Chemie zu tun.

(Frau Ferchland, PDS, und Herr Czeke, PDS, la- chen)

Ein Angestellter im Gartenbau erhält einen Stundenlohn von 2,74 €. Und auch das gibt es: Reinigungskräfte erhalten schon jetzt lediglich einen Stundenlohn von 1 € für ihre Leistungen.

Begünstigt durch die Beschäftigungskrise wie auch infolge tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Umbrüche ist der Anteil der Nettoarbeitsentgelte am Volkseinkommen auf den geringsten Stand seit 30 Jahren gefallen. Seit 1995 ist die reale Kaufkraft der abhängig Beschäftigten nicht mehr gestiegen. Die Stagnation der Nettolohnquote und damit die Schwächung des Binnenmarktes ist in erster Linie auf das Wachstum des Niedriglohnsektors und den zunehmenden Anteil geringfügiger Beschäftigung zurückzuführen.

Einkommen bei Vollzeitbeschäftigung unterhalb der Schwelle von 68 % des nationalen Durchschnittlohns, die der Sachverständigenausschuss des Europarats in Auslegung des Artikels 4 Abs. 1 der Europäischen Sozialcharta als Untergrenze festgelegt hat, sind in der Bundesrepublik Deutschland keine Ausnahmen. 2 190 000 Vollzeitbeschäftigte verdienen weniger als 50 % des Durchschnittslohns. Hierbei ist der Anteil der Frauen mit 60 % besonders hoch.

Arbeitseinkommen, die keine dem bestehenden gesellschaftlichen Standard entsprechende Lebensführung erlauben, sind auch dann verfassungswidrig, wenn sie dem Kapital einen angeblichen Standortvorteil verschaffen. Die Durchsetzung von Löhnen hängt aber auch davon ab, wie das Sicherungssystem bei Arbeitslosigkeit gestaltet ist. Arbeitslose, denen die Leistungen gekürzt werden und die unter Druck gesetzt werden, jede Arbeit anzunehmen, werden zu unmittelbaren Konkurrenten für die Beschäftigten. Auch andere sind gezwungen, den niedrigen Lohn zu akzeptieren. Eine Spirale nach unten wird in Bewegung gesetzt.

Meine Damen und Herren! Die Spaltung der abhängig Beschäftigten in Beschäftigte in Normalarbeitsverhältnissen, in Beschäftigte, die im Niedriglohnbereich arbeiten, und in Beschäftige, die trotz Arbeit in ärmlichen Verhältnissen leben und später mit Altersarmut rechnen müssen, ist nicht nur verfassungsrechtlich bedenklich, sie gefährdet auch die ökonomische Entwicklung der Volkswirtschaft.

Im internationalen Wettbewerb werden nur jene Volkswirtschaften bestehen, die die Produktivität ihres gesellschaftlichen Arbeitsvermögens steigern und die es nicht zulassen, dass immer größere Teile ihrer abhängig Beschäftigten zu niedrigen Löhnen in Bereichen arbeiten, die an sich nicht wettbewerbsfähig sind.

Eine Reihe von Ländern hat das erkannt. Dazu gehören selbst die USA sowie Großbritannien, Frankreich und weitere sieben Länder der EU. In diesen gibt es bereits gesetzliche Regelungen in Bezug auf den Mindestlohn. In Frankreich zum Bespiel liegt er seit dem Jahr 2003 bei 7,19 €.

Meine Damen und Herren! Im Memorandum der Arbeitsgruppe „Alternative Wirtschaftspolitik“ heißt es unter anderem - ich zitiere mit Ihrer Genehmigung -:

„Deutschland gehört trotz relativ hoher Löhne und Gehälter mit dem höchsten Export und dem

höchsten Außenhandelsüberschuss der Welt zu den wettbewerbsfähigsten Ländern überhaupt.“

Weiterhin heißt es:

„Die Kehrseite dieser anhaltend hohen internationalen Wettbewerbsfähigkeit ist die Schwäche der Binnennachfrage, die durch einen wachsenden Bereich prekärer Arbeit mit Niedriglöhnen verstärkt wird.“

Diese Zusammenhänge werden von den Unternehmerverbänden nach wie vor heftig bestritten und auch von der Bundesregierung permanent missachtet. Die Landesregierungen tun ihr Übriges.

So sieht Sachsens Ministerpräsident in seinem Papier in der aktiven Sozialhilfe eine große Chance, vor allem Langzeitarbeitslose in ein geregeltes Arbeitsverhältnis zu führen. Man könnte auch sagen: Erhöhung des Arbeitswillens durch Druck. Um den besser ertragen zu können, empfehlen andere wiederum, Sport zu treiben. Also Jogging für den Job, damit man sich frisch trainiert dem neuen Chef vorstellen kann, um dann festzustellen, erwerbslos zu sein ist doch eigentlich wie kuren.

(Frau Fischer, Merseburg, CDU: Wie?)

- Wie kuren, also eine Kur zu machen.

Der Kündigungsschutz soll nur noch für Unternehmen mit mehr als 20 Beschäftigten gelten. Wie viele Unternehmen haben wir eigentlich, die mehr als 20 Beschäftigte haben? Das wirkliche Ziel ist, mit geringem Aufwand die Beschäftigten heuern und feuern zu können.

Auch das Teilzeit- und Befristungsgesetz sollte nur in Betrieben mit mehr als 20 Mitarbeitern gelten und nur für die Zeit der Kindererziehung und der Pflege naher Angehöriger. Wer hat eigentlich lange Zeit gebetsmühlenartig mehr Teilzeit für mehr Beschäftigung gefordert, mit der Begründung, dann könnten sich mehrere Arbeitnehmer einen Arbeitsplatz teilen und schon würde sich die Zahl der Arbeitsplätze verdoppeln bzw. die Arbeitslosenquote halbieren? - Das ist wohl auch nicht ganz aufgegangen.

Nun zu der Mär vom unflexiblen Tarifvertrag, der Einstellungen behindert und die Tarifautonomie infrage stellen soll. Einmal unabhängig davon, dass diese politische Verlautbarung ein unentwegter Eingriff in die Tarifautonomie ist, ist sie auch nicht richtig. Die Gewerkschaften haben gerade im Osten entsprechend der wirtschaftlichen Entwicklung Abschläge bei den Tarifangleichungen, bei der Verkürzung der Arbeitszeit, bei den Urlaubsregelungen sowie bei den Zuschlägen und anderem vereinbart.

Noch etwas: Wenn die Gewerkschaften mit ihren Mitgliedern in den vergangenen Jahren nicht so kompromissbereit gewesen wären und sich nicht aktiv in Unternehmensentwicklungen eingebracht hätten, gäbe es manches Unternehmen nicht mehr.

Meine Damen und Herren! Manchmal ist es gut, sich sachkundig zu machen und zur Kenntnis zu nehmen, dass am Verhandlungstisch bei Tarifverhandlungen immer mehrere Verhandlungspartner sitzen, die durch ihre Unterschrift einen Kompromiss anerkennen. Das soll heißen, dass nicht nur Gewerkschaften beteiligt sind, sondern auch Arbeitgeber, Arbeitgeberverbände und - bei Tarifverträgen für den öffentlichen Dienst - Politiker. Nur so sind die Tarifverträge entstanden, die heute ständig unter Kritik stehen.

Meine Damen und Herren! Die Einführung eines Mindestlohngesetzes ist nach wie vor umstritten. Dennoch werden immer deutlichere Signale gesetzt, alternativ darüber nachzudenken. Selbst die Bündnisgrünen auf der Bundesebene, die das vor zwei Jahren noch strikt abgelehnt haben, haben umgedacht. So hat Herr Bütikofer festgestellt, Mindestlohn würde sicherstellen, dass nicht Lohndumping zum neuen Sozialstandard wird.

Ich finde, das ist eine kluge Erkenntnis. Sicher weiß ich, dass das Mindestlohngesetz auch bei den Gewerkschaften mit der Begründung, dieses sei ein Eingriff in die Tarifautonomie, umstritten ist. Deswegen betone ich ausdrücklich, dass es der PDS-Fraktion nicht darum geht, die Tarifautonomie auch nur anzutasten.

Für die Gestaltung einer gesetzlichen Regelung für Mindestlohn können wir uns folgende Eckpunkte vorstellen:

Erstens. Die Höhe ist entsprechend der Europäischen Sozialcharta festzulegen.

Zweitens. Der Mindestlohn muss für sämtliche Auftragnehmer im Gebiet der Bundesrepublik Deutschland bindend sein.

Drittens. Andere Gesetze und Mindestlohnregelungen wie etwa für die Bauwirtschaft werden durch das Gesetz nicht berührt und sind grundsätzlich zuzulassen.

Viertens. Der Mindestlohn ist jährlich an die Tarifentwicklung anzupassen, also entsprechend der jährlichen Nettolohnentwicklung zu dynamisieren.

Fünftens. Eine deutliche Unterschreitung des gesetzlichen Mindestlohns ist unter Strafe zu stellen. Den Gewerkschaften ist für die Ahndung das Verbandsklagerecht zu gewähren.

Sechstens. Eine Mindestlohnregelung setzt die Tarifautonomie nach Artikel 9 Abs. 3 des Grundgesetzes nicht außer Kraft.

Ich bedanke mich für Ihre Geduld und möchte Sie bitten, unserem Antrag zuzustimmen.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung von Herrn Reck, SPD, und von Herrn Metke, SPD)

Vielen herzlichen Dank, Frau Rogée, für die Einbringung. - Wir treten nun in eine Debatte mit fünf Minuten Redezeit je Fraktion ein. Für die FDP-Fraktion erteile ich als erstem - -

(Minister Herr Dr. Rehberger meldet sich zu Wort)

- Ich bitte um Entschuldigung. Herr Dr. Rehberger hat für die Landesregierung um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Minister.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man wie Sie, Frau Kollegin Rogée, ich und die Damen und Herren hier einem gesetzgebenden Organ angehört, dann ist man vielleicht geneigt zu glauben, dass durch Gesetze vieles geregelt werden könne, auch dann, wenn die ökonomischen Rahmenbedingungen anders sind. Ich meine, diese Gefahr sollten wir gerade bei der Forderung nach gesetzlich geregelten Mindestlöhnen sehen und ihr nicht anheim fallen.

Ich kenne aus meiner saarländischen Tätigkeit sehr gut die Regelungen in den benachbarten Ländern Frankreich oder Luxemburg. Ich kann nur sagen: Die Unternehmen und die Unternehmer sowie die Arbeitnehmer sind dort findig genug, um unendlich viele Wege zu entdecken, wie man bestimmte gesetzliche Regelungen unterlaufen kann. Das ist einfach etwas, was Sie selbst mit strafbewehrten Normen nicht verändern können. Es ist auch sinnvoll, glaube ich, dass man denen, die am Arbeitsmarkt tätig sind, den Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die Möglichkeit nicht nimmt, über die Höhe der Löhne zu entscheiden.

Wir haben in der Bundesrepublik übrigens einen interessanten Einzelfall, in dem es faktisch einen gesetzlichen Mindestlohn gibt: Das ist nämlich die Baubranche. Dort gibt es einen tarifvertraglich fixierten Mindestlohn. Dieser ist kombiniert mit einer Allgemeinverbindlichkeitserklärung des Bundeswirtschaftsministers, sodass das faktisch einer gesetzlichen Regelung entspricht.

Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen; wie auch immer - haben wir gerade in der Baubranche nicht nur in Größenordnungen Jobverluste, sondern auch Schwarzarbeit, und in vielen Fällen, meine Damen und Herren, wird auch das, was tarifvertraglich geregelt ist, dann doch wieder unterlaufen. Also kurz und gut: Ich bin der festen Überzeugung, dass das gutgemeinte Instrument hier nicht greifen wird und dass es sinnvoller ist, auf die Tarifautonomie zu setzen, und zwar gerade auch hier im Osten.

Frau Rogée, ich muss es hier ganz offen sagen: Ich habe in den letzten anderthalb Jahren wieder den einen oder anderen Fall gehabt, dass Unternehmen in der Krise waren, dass nicht nur die Geschäftsleitung bei mir vorstellig geworden ist, sondern sie kamen mit dem verantwortlichen Gewerkschaftsrepräsentanten, dem Gewerkschaftssekretär und den Leuten aus dem Betriebsrat. Darunter gab es Fälle, in denen Belegschaften oder bestimmte Teile von Belegschaften kollektiv Lohnverzicht geübt haben, zum Teil möglicherweise in Größenordnungen, die von Ihrem Gesetz nicht mehr gedeckt wären.

Gott sei Dank war dieser Lohnverzicht - er war ein vorübergehender, aber immerhin - in dem einen oder anderen Fall ein wesentlicher Beitrag dazu, dass die Unternehmen wieder in ruhigere Fahrwasser gekommen sind, dass sie in die schwarzen Zahlen gekommen sind. Die Arbeitnehmer und insbesondere auch die Betriebsräte haben gesagt: Es nützt uns nichts, wenn wir irgendwie formal hohe Löhne bekommen und genau wissen, dass in Kürze unser Unternehmen den Bach runtergeht.

So gibt es viele Beispiele, die deutlich machen, dass es sinnvoller ist, wenn die unmittelbar Beteiligten und Betroffenen über diese Dinge entscheiden und nicht der Gesetzgeber. Gerade bei bestimmten Gruppen wie Jugendlichen Berufswiedereinsteigern oder Langzeitarbeitslosen kann ich mir vorstellen, dass der Einstieg mit einem relativ niedrigen Lohn oder einem relativ niedrigem Gehalt durchaus ein sinnvoller Weg sein kann.

Also alles im allem: Ich glaube nicht, dass das ein probater Weg ist.

Es kommt noch eines hinzu. Wir haben am 1. Mai die EU-Osterweiterung erlebt. Sie wissen, dass die Bundesrepublik und die benachbarten westlichen Staaten beim Lohnniveau nicht sehr weit auseinander liegen, aber es gibt sehr wohl erhebliche Unterschiede zwischen der

Bundesrepublik und den Beitrittsländern. Auch wenn wir in der Bundesrepublik Mindestlöhne gesetzlich festlegen, werden wir nichts daran ändern können, dass die Unternehmen aus den Beitrittsländern mit ihren Arbeitnehmern auch bei uns auf dem Markt erscheinen - selbstverständlich mit den Löhnen, die dort vereinbart worden sind; alles andere würde gegen EU-Recht verstoßen.

Wenn man jetzt Ihren Weg wählen würde, dann würde das bedeuten, dass die deutschen Firmen durch die Bank nicht mehr konkurrenzfähig wären, etwa im Baubereich. Deswegen meine ich, dass gerade auch die jüngste Entwicklung eine gesetzliche Normierung eines Mindestlohnes nicht geraten erscheinen lässt.

Ich bin gern bereit, meine Damen und Herren, darüber im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit vertieft mit Ihnen zu diskutieren.

Ich nehme an, dass die Gewerkschaften auch einen entscheidenden Beitrag leisten können; aber - generell und schon an dieser Stelle, damit Sie wissen, was meine Position ist -: Ich glaube nicht, dass gesetzliche Regelungen hierbei zum Ziel führen. - Herzlichen Dank.

(Zustimmung bei der FDP und bei der CDU)