Nur eines möchte ich grundsätzlich sagen: Ich habe die Tarifautonomie überhaupt nicht infrage gestellt. Ich habe auch nicht vorgeschlagen, dass die Tarifautonomie jetzt von der Politik geregelt werden sollte. Es ging nur um die Mindestlohndebatte. Diese Debatte sollten wir im Wirtschaftsausschuss führen. Deswegen nehme ich den Vorschlag an, über den Antrag nicht direkt abzustimmen, sondern ihn in den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit zu überweisen. - Danke schön.
Vielen Dank, Frau Rogée, damit vereinfacht sich das Verfahren. - Die Fraktionen signalisierten Einigkeit, was eine Überweisung in den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit betrifft. Ich lasse trotzdem darüber abstimmen.
Wer einer Überweisung in den Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit die Zustimmung gibt, den bitte ich um das Zeichen mit der Stimmkarte. - Zustimmung bei allen Fraktionen. Gegenstimmen? - Keine. Enthaltungen? - Keine. Damit ist die Überweisung einstimmig beschlossen worden.
Einbringer für die PDS-Fraktion ist der Abgeordnete Herr Dr. Eckert. Herr Dr. Eckert, Sie haben das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit ihrem Antrag fordert die PDS-Fraktion die Landesregierung auf, zunächst im Grundsatz ein Programm „Barrierefreies Sachsen-Anhalt“ zu erarbeiten, dieses in den Ausschüssen vorzustellen und dann auch umzusetzen. Im zweiten Teil des Antrags werden einige Bereiche genannt, aber nicht alle, die aus der Sicht der PDS Bestandteil eines derartigen Programms sein sollten.
Erstens. In dem kürzlich erschienenen Report 2003 zur Lebenslage behinderter Menschen wird dargestellt, dass nur 6 % der befragten behinderten Menschen der Meinung sind, dass sie im öffentlichen Leben gleichberechtigt behandelt werden. 36 % können dieser Auffassung überhaupt nicht zustimmen.
Die Autoren des Reports konstatieren, dass dieser Befund ein deutliches Signal hinsichtlich der nicht erfolgten bzw. nicht erfolgenden Integration setzt. Barrieren werden als Ungleichbehandlung empfunden.
Zweitens. Die Prognose zur demografischen Entwicklung im Land Sachsen-Anhalt. Wenn prognostiziert wird, dass der Anteil der über 65-Jährigen im Land von gegenwärtig etwa 18 % auf ca. 27 % bis 28 % im Jahr 2020 ansteigen wird, beinhaltet diese Entwicklung sowohl ein Problem als auch eine Chance.
Zähle ich zu diesem Anteil die behinderten Menschen hinzu, so ist mindestens ein Drittel der Menschen in Sachsen-Anhalt direkt betroffen. Unter Berücksichtigung der Verwandten und Freunde ist dann sogar mehr als die Hälfte der in Sachsen-Anhalt lebenden Menschen von mangelnder Zugänglichkeit öffentlicher Gebäude und von kommunikativen Barrieren betroffen.
Drittens. Es ist eine Tatsache, dass wir in SachsenAnhalt eine betonierte, sprich stationär basierte Pflege- und Betreuungslandschaft und damit deutlich zu wenig ambulante Angebote haben. Auch die Chance, ambulante Angebote wahrzunehmen, ist relativ gering.
Viertens. Die von Herrn Hoffmann durchgeführte Untersuchung öffentlicher Gebäude in Sachsen-Anhalt. Die uns nun vorliegenden Ergebnisse sind erschreckend. Allein die Feststellung, dass von den untersuchten Objekten kein Gebäude den Anforderungen sinnesbehinderter Menschen entspricht, ist ein öffentlich bisher noch nicht reflektierter Skandal und es ist eigentlich nicht hinnehmbar. Nur 25 % der öffentlichen Gebäude sind für Rollstuhlfahrerinnen zugänglich, aber nicht barrierefrei - nur um diese Zahl noch zu nennen.
Klar ist hierbei aber auch: Die von mir skizzierte Situation ist nicht allein oder gar ausschließlich der gegenwärtigen Landesregierung anzulasten. Anzulasten ist ihr höchstens, dass zu wenig passiert, dass inkonsequentes Handeln vorherrscht und beinahe keine Koordinierung festzustellen ist. Nach unserer Auffassung liegt im Zusammenführen und im Abstimmen der Maßnahmen der
einzelnen Ressorts die Chance, die wenigen Mittel zukunftsfähig und mit höchstem Effekt einzusetzen.
Am 5. Mai haben die Behindertenverbände des Landes im Landtagsrestaurant eine Veranstaltung aus Anlass des europäischen Protesttages zur Gleichstellung behinderter Menschen durchgeführt. In der Diskussion wurden vielfältige, scheinbar ausschließlich individuelle Probleme angesprochen. Herr Schwenke sagte daraufhin, dass ihm durch diese Veranstaltung erneut bewusst geworden ist, welche Probleme behinderte Menschen haben, die er als Nichtbehinderter so bisher nicht gesehen hat.
Diese Aussage deckt sich mit der Äußerung des Vorsitzenden der Landesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte Berlin Herrn Schmidt. Er sagte - ich zitiere -:
„Menschen ohne Behinderungen haben allgemein Zugang zu allen Gebäuden, zu Gaststätten und zu Toiletten. Sie können Züge, Busse und Bahnen benutzen, haben tatsächlich freie Arztwahl. Jede Arztpraxis ist zugänglich, weil sie nicht auf Sonderfahrdienste angewiesen sind. Und einen Geldautomaten zu benutzen ist für die meisten Leute etwas völlig Normales. Uns als behinderten Menschen bleiben sie oft versperrt.“
Hinzu kommen, Herr Schwenke, Herr Scholze und auch Herr Bischoff - ich hoffe, Sie erinnern sich -, Probleme bei der Kommunikation und Information. Wenn wir also als Land die Zukunft menschenwürdig meistern wollen, dann sind jetzt konzentrierte, abgestimmte Maßnahmen notwendig. Jedes unabgestimmtes Herangehen der einzelnen Ressorts an die Aufgabe Barrierefreiheit verschenkt Chancen, mindert die Effektivität und mindert damit auch die Möglichkeiten des Landes, zukunftsfähig vorweg zu gehen.
Meine Damen und Herren! Die PDS-Fraktion hält es deshalb für unbedingt erforderlich, dass die Landesregierung ein Programm „Barrierefreies Sachsen-Anhalt“ gemeinsam mit den Betroffenen und ihren Organisationen erarbeitet, in den Ausschüssen vorstellt und diskutiert, die Ziele und den Zeitraum bestimmt und diese natürlich mit Maßnahmen untersetzt. Aus unserer Sicht heißt das nicht, mehr Geld oder Ressourcen einzusetzen, sondern es heißt, die verfügbaren Ressourcen, die verfügbaren Maßnahmen zu bündeln und optimal zu nutzen. Was spricht also für ein Programm?
Erstens. Die Landesregierung und der Landtag würden öffentlich und eindeutig Position beziehen und der Barrierefreiheit im Bewusstsein der Menschen, vor allem der Verantwortungsträger, einen völlig neuen, öffentlich wahrgenommenen Stellenwert geben.
Ich stimme den Regierungsfraktionen, in vielfältigen Diskussionen geäußert, völlig zu, dass es sehr wichtig ist, die Barrieren in den Köpfen zu beseitigen. Diese Barrieren sind aber mindestens so hoch und so fest wie die Barrieren in Beton und Stahl. Mit einem Programm gäbe es gute Möglichkeiten, diese besonders in den Ressorts außerhalb von Sozial- und Bauministerium noch alltäglichen Barrieren zu durchlöchern und abzubauen.
Der Alternativantrag der CDU und der FDP verfestigt dagegen die Auffassung, dass die Schaffung von Barrierefreiheit eine marginale, eigentlich nebenbei zu erledigende Aufgabe sei.
Ein Beispiel: Ich kann die Tatsache, dass die Landesregierung sich in ihrer Antwort auf eine Kleine Anfrage des Kollegen Radschunat auf eine nicht mehr gültige Landesbauordnung bezieht, als einen kleinen Irrtum bewerten. Kann passieren! Ich kann aber auch sagen: Der Alternativantrag schützt und verteidigt Beamte, die keine Kenntnis der gültigen Landesbauordnung haben und zudem für die Umsetzung dieser Landesbauordnung Verantwortung tragen. Denn der Antrag bagatellisiert die Aufgabe, die eigentlich vor uns steht.
Zweitens. Wir sind nicht der Auffassung, dass es neuer Gesetze oder Regelungen bedarf. Die bestehenden Gesetze geben einen akzeptablen Rahmen, in dem Barrierefreiheit zu schaffen wäre. Zu nennen wären hierbei das Landesentwicklungsprogramm, das Landesgleichstellungsgesetz, die neue Landesbauordnung oder das ÖPNV-Gesetz. Das Problem ist, dass diese Gesetze nicht bzw. völlig ungenügend umgesetzt werden. Auch haben Fehlentscheidungen und damit verbundene Nachbesserungen - zumindest nach meiner Kenntnis - bisher noch zu keinen Konsequenzen geführt. Beispielsweise wurden Mehrkosten für die Nachbesserung an einer Kreuzung in Quedlinburg übernommen. Es waren ja auch nur 40 000 €.
Wir benötigen also eine konsequente Umsetzung bestehender Gesetze. Das ist - so meinen wir - Aufgabe der Landesregierung. Die Landesregierung sollte sich deshalb an die Spitze einer Bewegung für Barrierefreiheit stellen. Deshalb sollte sie die Maßnahmen in ein Programm fassen und auch beschließen.
Drittens. Unsere Untersuchung erbrachte, dass keine der untersuchten Städte in ihren Internetpräsentationen Belange behinderter Menschen berücksichtigt oder Informationen über bestehende barrierefreie Angebote enthält. Das ist ein weiteres Indiz für die Unterschätzung der Aufgabe Barrierefreiheit.
Im oben schon angeführten „Report 2003“ wird ausgeführt, dass immer mehr Menschen mit Behinderung danach streben, die Möglichkeiten der barrierefreien Information und Kommunikation ganz gezielt als Nachteilsausgleich zu nutzen. Festgestellt wurde auch, dass 78 % der 35- bis 44-Jährigen über einen Computer und 61 % über ein Internetzugang verfügen. Aus diesen Tatsachen, meinen wir, sind Maßnahmen ableitbar. Wir möchten aber nicht - um möglichen Missverständnissen in diesem Fall vorzubeugen -, dass das Land nun für die Fehler und Versäumnisse der Städte aufkommt. Diese Situation sollte jedoch Anlass sein, einen Kampagne zur Sensibilisierung der Verantwortungsträger für die Probleme zu initiieren.
Viertens. Das von der PDS angeregte Programm kann sehr gut an den Wettbewerb auf dem Weg zur barrierefreien Kommune anknüpfen. Wenn es dazu noch gelingen würde, den Stadtumbau Ost ebenfalls mit der Aufgabe der Barrierefreiheit untrennbar zu verknüpfen, wäre das hervorragend.
Die entsprechende Richtlinie allein kann diese Aufgabe nicht befördern. In dieser Richtlinie wird einzig und allein auf Rollstuhlfahrerinnen und Rollstuhlfahrer abgehoben und unter dem Begriff „Barrierefreiheit“ steht: „Die Förderobjekte müssen über einen barrierefreien Zugang
verfügen.“ Das ist schon gut. Aber dann: „Sie sollten barrierefrei erstellt werden.“ - Also, ich komme hinein, aber kann trotzdem nicht zur Toilette gehen. Damit werden erhebliche Möglichkeiten verschenkt.
Ganz nebenbei gesagt, ich habe mir das ausgezeichnete Audimax in Halle angesehen und muss Ihnen sagen: Wenn ich dort parken möchte, finde ich zwei Rollstuhlparkplätze. Für die Straße, die dort sehr hucklig ist, kann man nichts, sie ist nicht neu gemacht. Dann komme ich hoch - die Schräge auch gut. Aber dann, wage ich zu behaupten, kommen sehr viele Rollifahrer nicht mehr drüber; denn es ist ein wunderbares Holperpflaster vor dem Eingang. Das heißt, wenn ich einbezogen worden wäre, wenn die Behindertenverbände einbezogen worden wären, hätte man dort eine tolle Lösung gemacht, die tatsächlich allen Anforderungen genügte.
(Minister Herr Dr. Daehre: Für die Auszeichnung? Da waren alle Verbände dabei, Herr Kollege! Da- für ist auch nicht die Landesregierung verantwort- lich!)
Ich wollte eigentlich nur darauf hinweisen, was man machen müsste, um tatsächlich alle Anforderungen zu beachten. Es müsste ein Programm tatsächlich in die Köpfe gehoben werden, damit man solche Fragen mit beachtet.
Fünftens. Die Berichterstattung des MDR im Ausschuss für Kultur und Medien, wie im Alternativantrag der CDU- und der FDP-Fraktion vorgeschlagen, ist zu begrüßen. Aber zugleich sollte auch konzeptionell die Möglichkeit der Verankerung derartiger Positionen in einem entsprechenden Staatsvertrag nicht ausgeschlossen sein.
Beispielsweise war ich am 3. Mai 2004 im Thüringer Landtag. Dort wurde im Rahmen des dortigen Wahlkampfes Erstaunliches geäußert. Alle Vertreter der Fraktionen äußerten, dass sie sich für die Verankerung solcher Fragen im Staatsvertrag einsetzten. Das heißt, es wäre schon ein Verbündeter da, wenn unsere Landesregierung da mitmachen würde. Dann brauchte man nur noch die Sachsen zu überzeugen.
Meine Damen und Herren! Ich werbe nochmals um Ihre Zustimmung zu unserem Antrag. Der Alternativantrag der CDU und der FDP ist nicht geeignet, die wirklich große Aufgabe, Barrierefreiheit in einem längeren Zeitraum herzustellen, zu lösen. Er nimmt noch nicht einmal das Ergebnis der Aktuellen Debatte vom Januar 2004 zur Kenntnis, in der als ein Mangel der Regierungstätigkeit im Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003 das unkoordinierte Handeln der Landesregierung angeführt wurde. Sie wollen eine Berichterstattung und ich entnehme dem Antrag nicht, dass irgendwelche Konsequenzen für das Handeln der Landesregierung damit gefordert werden.
Nach unserer Auffassung ist eine derartige Analyse und Berichterstattung nur der Ausgangspunkt für die von uns angemahnten Maßnahmen. Von daher bitte ich Sie, Folgendes zu bedenken: Bezeichnen Sie Ihren Antrag ein
fach als Ergänzungsantrag. Wir würden ihn gern als Punkt 2 in unseren Antrag aufnehmen. Das wäre dann tatsächlich das, was Herr Tullner heute Morgen eingefordert hat, das Beschreiten neuer Wege. Bleibt es bei dem Alternativantrag, dann bleiben Sie in alten, ausgetretenen Gleisen, latschen diese noch tiefer und kommen dann später nicht mehr heraus. - Danke.