Ca. 90 % der heute mobilitätseingeschränkten Personen wären bei entsprechenden barrierefreien Angeboten voll reisefähig, und das bei einem Potenzial von ca. zehn Millionen Menschen. Im Hinblick darauf, dass im Jahr 2010 ca. 35 % der mobilitätseingeschränkten Personen aufgrund der soziodemografischen Entwicklung Barrierefreiheit benötigen, wird deutlich, dass der Bereich der Gleichbehandlung innerhalb des Tourismus noch auf eine ganz andere Weise betrachtet werden muss.
Im Tourismus steckt ein großes wirtschaftliches Potenzial, auch im Land Sachsen-Anhalt. Nur muss dieses
Potenzial auch von allen Seiten entdeckt und entwickelt werden. So ist es, meine Damen und Herren, eine Aufgabe der touristischen Leistungsträger vor Ort, sich auf die unterschiedlichen Zielgruppen mit ihren entsprechenden Bedürfnissen einzustellen und ihr Angebot danach auszurichten. Deshalb ist Tourismus für alle nicht nur eine soziale Frage, sondern auch ein wichtiger Marketing- und vor allem ein wirtschaftlicher Aspekt. Zitat:
„Wenn das ökonomische Interesse bei den Anbietern geweckt ist, ist dies die beste Voraussetzung für den Ausbau der bestehenden Angebote.“
Das, meine Damen und Herren, ist der eigentliche Schlüssel zum Erfolg; denn mit Ausgaben von deutschlandweit rund 1,5 Milliarden € im Tagestourismus und von 1,6 Milliarden € für Übernachtungen - und das bei ca. zwei Millionen Urlaubsreisen von durchschnittlich 14 Tagen - bilden hierbei Zielgruppe und Wirtschaftlichkeit keine Gegensätze. Somit sollte es unsere gemeinsame Aufgabe sein, das ökonomische Potenzial dieses Marktes der Zukunft - Sie haben es bereits angesprochen - zu verdeutlichen, um über die Leistungsträger die Chancengleichheit, welche in Barrierefreiheit steckt, zum Erfolg zu bringen.
Die Unterschiede der jeweils benötigten Barrierefreiheit sind erheblich. Allein wenn wir uns die Vielzahl unterschiedlicher Handicaps ansehen, wird deutlich, dass es schwierig oder gar unmöglich ist, Angebote zu schaffen, die allen gerecht werden können. Somit kann es meines Erachtens d a s barrierefreie Angebot oder d e n barrierefreien Tourismus für alle nicht geben, da wir das Versprechen, allen Gruppen Angebote zu unterbreiten, nicht einhalten können. Vielmehr ist es deshalb wichtig, zu sensibilisieren, anzuregen, darüber nachzudenken, Angebote zu schaffen, die von Menschen mit und ohne Handicap gleichermaßen genutzt werden können.
Ein Beispiel an dieser Stelle soll das verdeutlichen. Mein Sohn besucht seit einiger Zeit einen integrativen Kindergarten. Beeindruckend ist dabei für mich, wie behinderte und nichtbehinderte Kinder sich in einem auf beide Bedürfnisse zugeschnittenen Umfeld ganz selbstverständlich bewegen.
Dieses Beispiel macht deutlich, wie Angebote für Behinderte und Nichtbehinderte geschaffen werden können, ohne dass sich jemand benachteiligt fühlt und ohne dass man ein Angebot ausschließlich für die Ansprüche einer bestimmten Gruppe Behinderter schafft und somit einer touristischen Gettoisierung Vorschub leistet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Minister! Im Bericht wäre meines Erachtens zu hinterfragen, ob die Fokussierung auf Präferenzregionen unter besonderer Berücksichtigung der Barrierefreiheit letztlich dienlich ist oder ob bereits bestehende umfassende Angebote so ausqualifiziert werden können, dass sie der Vorgabe barrierefrei entsprechen. Dann ist es nämlich möglich, dass der gehandicapte Tourist seine Urlaubsentscheidung nach seinen thematischen Wünschen ausrichtet und sich erst in zweiter Linie mit den Gegebenheiten vor Ort beschäftigen muss. Denn in seinen Motiven und Ausrichtungen unterscheidet sich barrierefreier Tourismus nicht vom so genannten normalen Tourismus; Wellness, Erlebnis, Natur und Kultur stehen auch dort im Vordergrund.
Meine Damen und Herren! Sehr geehrte Frau Kollegin Kachel, wir hätten diesen Antrag sicherlich auch als Selbstbefassungsantrag im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit in genau derselben Intensität und Deutlichkeit behandeln können. Gleichwohl gehen wir mit Ihrem Antrag mit und stimmen als CDU-Fraktion zu. - Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Zimmer. - Für die PDS-Fraktion erhält nun das Wort Herr Dr. Eckert. Bitte sehr, Herr Dr. Eckert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Mit dem Antrag greift die SPD-Fraktion das von der PDS-Fraktion im Jahr 2000 eingebrachte Thema „Barrierefreier Tourismus in Sachsen-Anhalt“ wieder auf. Wir hatten damals die damalige Landesregierung aufgefordert, zu den Potenzen, Möglichkeiten und Chancen eines barrierefreien Tourismus in Sachsen-Anhalt zu berichten. Bei den Diskussionen in den verschiedenen Ausschüssen deutete sich dann ein Wandel in den Auffassungen der Landesregierung an: weg von der sozialpolitisch dominierten und hin zu einer wirtschaftspolitischen dominierten Argumentation und Motivation.
Herr Dr. Rehberger verwies heute noch einmal dankenswerterweise genau auf diesen Punkt. Es geht um wirtschaftspolitische Entscheidungen und um wirtschaftspolitische Ressourcen, die aufgedeckt und natürlich genutzt werden sollten.
Auf Antrag der SPD-Fraktion wurde Anfang des Jahres 2002, gewissermaßen als ein Ergebnis der Diskussion, das Kriterium Barrierefreiheit als wesentliches Kriterium einer möglichen öffentlichen Förderung der touristischen Infrastruktur definiert. Als weiteres Ergebnis - darauf wurde schon hingewiesen - ist das Handbuch „Barrierefreier Tourismus oder Tourismus für alle“ zu betrachten.
Was danach auf dem Gebiet des barrierefreien Tourismus im Land Sachsen-Anhalt passierte, ist leider Gottes nicht so erwähnenswert, weil sich zu wenig, bisweilen gar nichts mehr bewegte. Der Allgemeine Behindertenverband in Sachsen-Anhalt bilanzierte am 8. Mai dieses Jahres auf seiner Mitgliederversammlung einige Aktivitäten zum Aspekt Barrierefreiheit. Ich möchte drei Beispiele aus dieser Bilanz anführen:
Erstens. Die Landesgartenschau in Zeitz. Der Vorsitzende des Behindertenverbandes Dessau kritisierte, dass bei den geforderten Einsparmöglichkeiten als Erstes - -
Meine sehr geehrten Damen und Herren! - Herr Dr. Eckert, entschuldigen Sie bitte, dass ich unterbreche, aber der Schallpegel ist mittlerweile nicht mehr erträglich. - Ich bitte Sie, Ihre Gespräche etwas zu mäßigen.
Ich habe gerade festgestellt, dass ich auch immer lauter werde. - Der Vorsitzende des Behindertenverbandes Dessau kritisierte, dass bei den geforderten Einspar
maßnahmen bei der Landesgartenschau als Erstes der Aufzug in der Moritzburg gestrichen wurde, sodass man nur bedingt von einer barrierefreien Gestaltung sprechen kann.
Zweitens. Aus Roßlau wurde berichtet, dass die Stadt zwar im Wettbewerb auf dem Wege zur barrierefreien Kommune ausgezeichnet wurde, das ausgelobte Preisgeld aber nicht abrufen kann, weil die Stadt nicht über die geforderten Eigenmittel verfügt.
Drittens. Vor zwei Jahren unternahm der Behindertenverband Weißenfels einen Stadtrundgang. Dabei wurden erhebliche Mängel hinsichtlich der Zugänglichkeit der touristisch interessanten Innenstadt konstatiert. Nach einer Prüfung in diesem Jahr muss festgestellt werden, dass fast alle Mängel heute noch bestehen.
Ich könnte weitere Beispiele dafür anführen, die zeigen - ganz vorsichtig formuliert -, dass die Landesregierung die Bedeutsamkeit und die Zukunftsfähigkeit eines barrierefreien Tourismus für das Land unterschätzt. Im Unterschied dazu messen andere Bundesländer wie Thüringen oder Mecklenburg-Vorpommern den Fragen eines barrierefreien Tourismus wesentlich mehr Aufmerksamkeit zu.
Auch auf Bundesebene zeigt sich eine verbesserte Aufmerksamkeit. Zur Unterstützung und zur Orientierung der Tourismuswirtschaft stellte das Bundeswirtschaftsministerium im Dezember 2003 die Ergebnisse einer Untersuchung zum Thema „Ökonomische Impulse eines barrierenfreien Tourismus für alle“ vor. Nach meinem Eindruck hat unser Wirtschaftsministerium keine Kenntnis von der Studie. Im Bedarfsfall würde ich sie dem Ministerium selbstverständlich zur Verfügung stellen; denn ich bin schon daran interessiert, dass die Schlussfolgerungen der Studie auch in Sachsen-Anhalt berücksichtigt werden können.
Nicht ganz Ihrer Meinung, Herr Minister, bin ich, dass keine zwingenden Regeln notwendig sind. Sie verwiesen zwar auf die USA, aber genau in den USA und in Kanada gibt es die zwingenden Regeln. Da kann zumindest seit dem Jahr 1990 zum Beispiel keine Gaststätte mehr aufmachen, ohne eine entsprechende Sanitäranlage vorweisen zu können. Anders ist es, wenn sie vorher eine Konzession erhalten hat. Dieses Zwingende vermissen wir. Dieses Zwingende würde auch dazu beitragen, den Wirtschaftsstandort nach vorn zu bringen und das Alleinstellungsmerkmal tatsächlich zu regeln.
Notwendig wäre eine verstärkte Werbung für die Möglichkeiten. Da hat Frau Kachel völlig Recht. Wir haben in unserem Land sehr viele barrierefreie Möglichkeiten. Aber sowohl die Landesmarketinggesellschaft - dafür sind Sie zuständig - als auch die Städte machen einfach nichts daraus. Sie bewerben diese Möglichkeiten nicht. Das ist aus meiner Sicht auch der Tatsache geschuldet, dass dem Thema zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet wird, und zwar auch vonseiten der Landesregierung.
Deshalb freuen wir uns, dass jetzt tatsächlich beim Land der Beirat Barrierefreiheit wieder aus seinem Schlaf erwacht ist und möglicherweise etwas dazu beiträgt, dass vorwärtsgeschritten werden kann.
Vieler Dank, Herr Dr. Eckert. - Für die FDP-Fraktion erteile ich dem Abgeordneten Herrn Ernst das Wort. Bitte, Herr Ernst.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Von einer barrierefreien Gestaltung unseres Lebensraumes profitieren nicht nur behinderte und ältere Menschen, sondern auch solche mit vorübergehenden Krankheiten, Menschen mit Übergewicht, mit körperlichen Schwächen, schwangere Frauen, Menschen mit Kleinkindern, Eltern von behinderten Kindern und Personen mit schweren oder sperrigen Gegenständen.
Gehen wir davon aus, dass die demografischen Untersuchungen der europäischen Ministerkonferenz stimmen, dann werden in naher Zukunft 30 % bis 35 % der Bevölkerung kurzzeitig oder dauerhaft behindert sein. Damit ist der Tourismus für behinderte Menschen keine Nische, sondern eine Zielrichtung, ganz besonders auch deshalb, weil Menschen mit Behinderungen gleiche Urlaubsinteressen wie nicht behinderte Menschen haben.
Der Tourismus für alle ist also ein echter Wirtschaftsfaktor. Der barrierefreie Tourismus soll ein Hauptbestandteil des Qualitätstourismus in unserem Land sein, insbesondere unter dem Aspekt, dass die Inlandsreiseziele bei ihrer Beliebtheit auf 29 % gestiegen sind.
Worauf sollte der Tourismus für alle seine Qualitätsmerkmale richten? - Respekt und Würde, auf die Bedürfnisse behinderter Menschen spezialisierte Informationsangebote, genaue und vollständige Informationen über bestehende Dienstleistungsangebote, Kenntnisse der spezifischen Bedürfnisse eines jeden Individuums hinsichtlich der Angebote, Verfügbarkeit von angemessenen und ausreichenden Transportdienstleistungen, Entfernung aller Hindernisse, integrativer Ansatz, Zugang zu allen öffentlichen und touristischen Infrastrukturen wie Verkehrsmitteln, Unterkünften, Freizeit- und Kulturangeboten sowie technischen Geräten, Harmonisierung des Standards, mittels dessen Zugänglichkeit definiert wird, gleiches Marketingverhalten gegenüber Behinderten wie anderen Zielgruppen, Entwicklung von Marketingstrategien, die auf den Bedarf aller Menschen gründen.
Meine sehr geehrten Damen und Herren! Je schneller die Privatunternehmen diese Chance erkennen und ihre Hotels, Gaststätten oder Ferienparks barrierefrei gestalten und dabei die vorgenannten Qualitätsmerkmale beachten, umso schneller kann auch mit der Zielgruppe Geld verdient werden. Aber auch die Träger der öffentlichen Einrichtungen, Museen, Bibliotheken usw., haben noch Nachholbedarf bei der barrierefreien Gestaltung.
Das Ministerium für Wirtschaft und Arbeit hat das Kriterium Barrierefreiheit ausdrücklich in die Förderbestimmungen der Tourismusförderung aufgenommen.
Die Einrichtung einer Modellregion Barrierefreiheit kann nur von den jeweiligen Regionen gewollt und durch die
Hierbei sind die Landesmarketinggesellschaft, die örtlichen Tourismusverbände bzw. die Regionalverbände, der Dehoga, der Heilbäder- und Kurverband, der Verband der Campingplatzbetreiber und alle diejenigen, die den Tourismus vor Ort entwickeln wollen, gefragt.
Dass etwas passiert, darüber werden wir uns mit großem Interesse im Ausschuss für Wirtschaft und Arbeit berichten lassen. Damit möchte ich Ihnen sagen, Frau Kollegin Kachel, dass wir diesen Antrag unterstützen.
Eine kleine Anmerkung. Herr Dr. Eckert hatte mir etwas vorweggenommen. Ich wollte eigentlich als gutes Beispiel die Landesgartenschau Zeitz bringen. Sie haben den fehlenden Aufzug in der Moritzburg moniert. Aber die Gartenschau selbst ist derartig gut barrierefrei angelegt. Die sollte man sich angucken.