Protokoll der Sitzung vom 08.07.2004

In Artikel 61 unserer Verfassung steht, dass der Landtag einen Petitionsausschuss bestellt, dem die Behandlung der nach Artikel 19 der Verfassung und nach Artikel 17 des Grundgesetzes an den Landtag gerichteten Bitten und Beschwerden obliegt.

Nun gibt es den einen oder anderen, der sagt, wir seien die Klagemauer. Das möchte ich nicht so sagen. Ich sehe uns eher als Seismografen für die Probleme, die es im Lande gibt. Gelegentlich, leider viel zu selten, gibt es auch einmal jemanden, der danke schön sagt, wenn er bei uns Recht bekommen hat. Davon gibt es eine ganze Menge.

Innerhalb des Berichtszeitraumes vom 1. Dezember 2003 bis zum 31. Mai 2004 haben wir elf Sitzungen durchgeführt. Das ist relativ viel. Wir haben insgesamt 294 Petitionen behandelt, 311 abschließend. Das muss Sie nicht wundern, weil wir aus den vergangenen Zeitabläufen immer noch Petitionen mitschleppen. Wir haben manche Petitionen drei-, vier- und fünfmal behandelt. Insgesamt hat sich die Zahl der Petitionen aber vermindert. Wir sehen allerdings nicht, dass dies auf weniger Probleme hinweist, sondern eigentlich eher, dass in unserem Land eine ganze Reihe Probleme besteht. Allerdings gibt es auch eine Reihe sehr fleißiger Petitionsschreiber. Der Rekordhalter hat es mittlerweile auf etwa 50 Petitionen gebracht. Über die Qualität ist an dieser Stelle nicht zu diskutieren.

Es gibt sehr unterschiedliche Dinge. Ich möchte das nicht im Einzelnen referieren, sondern nur einige Stichpunkte nennen. Es haben sich Esoterikgruppen an uns gewandt, Leute, die schreiben, wir sollten die Rechtschreibreform wieder zurückdrehen.

(Zustimmung von Herrn Kosmehl, FDP, und von Frau Röder, FDP - Herr Gallert, PDS: Das kam sicherlich aus Preußen!)

- Nein, Herr Gallert, das kam nicht aus Preußen, sondern das war eine große Gruppe von Professoren. Das Material liegt jetzt im Ausschuss für Bildung und Wissenschaft. Er kann sich damit beschäftigen. Wir waren so nett und haben das dorthin überwiesen.

Die wichtigsten Dinge waren Petitionen zur Abwasserproblematik, zur Schulentwicklungsplanung, zur Regenwasserversickerung. Eine ganze Reihe dieser Dinge ist in die Fachausschüsse übergegangen oder der Landes

regierung als Material überwiesen worden, sodass diese Dinge dort auch aufgenommen werden konnten.

Vielleicht noch etwas Lustiges: Es hat einen Antragsteller gegeben, der ein Krematorium in einem Bereich bauen wollte, in dem es im Umkreis von 30 km schon drei kommunale Krematorien gibt. Der Antragsteller hat erklärt, er wolle das, weil es überregional wichtig ist, auch öffentlich gefördert haben. Zu Ehren von Herrn Dr. Rehberger muss ich sagen, dass man ihn dort gleich hinausgeschmissen hat. Insofern hat das ordentlich funktioniert.

Meine Damen und Herren! Man kann nicht jedem Petenten helfen. Es stehen Gesetze dazwischen, es stehen Urteile und Fristabläufe dazwischen. Aber wir haben uns bemüht, unsere Arbeit mit einer sehr hohen Sachbestimmtheit zu tun.

Ich möchte mich an dieser Stelle ganz ausdrücklich bei meinen Kolleginnen und Kollegen bedanken und auch dem Ausschusssekretariat herzlich Dank sagen; denn dort hat man in ganz besonderer Weise sehr viel gearbeitet und eine gute Vorbereitung gewährleistet, sodass wir unsere Arbeit vernünftig tun konnten. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der SPD, bei der PDS und bei der FDP)

Vielen Dank, Herr Geisthardt. - Möchte dazu noch jemand das Wort? - Das ist nicht der Fall.

Wir stimmen ab über die Drs. 4/1675. Der Ausschuss für Petitionen empfiehlt, die in der Anlage aufgeführten Petitionen mit Bescheid an die Petenten für erledigt zu erklären. Wer stimmt zu? - Alle. Stimmt jemand dagegen? - Niemand. Stimmenthaltungen? - Auch niemand. Damit ist die Beratung darüber abgeschlossen. Der Tagesordnungspunkt 19 ist beendet.

Ich rufe als letzten Tagesordnungspunkt heute den Tagesordnungspunkt 20 auf:

Erste Beratung

Legalisierung der anonymen Geburt in Deutschland

Antrag der Fraktion der PDS - Drs. 4/1673

Ich bitte Frau Ferchland, diesen Antrag einzubringen.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Bundesrepublik Deutschland ist mit einer Vielzahl von Hilfsorganisationen und Vereinen ausgestattet. Dennoch gibt es auch in diesen Hilfsorganisationen oder Wohlfahrtsnetzen Lücken - Lücken, die einige das Leben kosten.

Die PDS ist der Auffassung, dass jedes Hilfsangebot so funktionieren sollte, dass es auch für jede und jeden erreichbar ist. Darin verbirgt sich auch die Zusage nach Anonymität der Betroffenen im Zuge einer Beratung oder einer Inanspruchnahme einer Hilfeleistung. Jedes Ausfüllen von Fragebögen oder das Einsammeln von Versicherungskarten stellt für die von einer extremen Notsituation Betroffenen eine zu große Hürde dar mit der

Folge, dass die Schwelle zur Beratung oder Hilfeleistung zu hoch erscheint und ungenutzt bleibt.

Pro Jahr werden in Deutschland 50 bis 60 Kinder ausgesetzt. Auch wenn es bereits in mehreren Städten die Möglichkeit gibt, das Kind in einer Babyklappe geordnet abzugeben, ist der Weg oft zu weit und das Wissen darum nicht vorhanden. Sachsen-Anhalt als Flächenland hat nur eine Babyklappe.

Ich glaube, niemand von uns kann sich ernsthaft vorstellen, in diese Situation zu geraten. Deshalb sollten wir diese Frauen auch nicht verurteilen, sondern ihnen helfen.

Babyklappen oder Babynester, wie sie auch genannt werden, sind ein Angebot der extremen Hilfe, wenn diese Hilfe erforderlich ist. Aber es gibt noch mehr extreme Notlagen, die auch einer extremen Hilfeleistung bedürfen. Diese Hilfsangebotslücken in Deutschland weiter zu schließen würde bedeuten, die anonyme Geburt in Deutschland zu legalisieren.

Neugeborene, die in Babyklappen übergeben, ausgesetzt oder sogar getötet werden, wurden von ihren Müttern oftmals heimlich, also auch ohne medizinische Betreuung, geboren. Die tatsächliche Entwicklung in den letzten Jahren zeigt aber auch ein offensichtlich starkes Bedürfnis einzelner Frauen nach Anonymität in Zeiten der Geburt, welches als sozialer Faktor hingenommen werden muss. Diese Erkenntnis wird bestätigt durch die Erfahrungen in anderen europäischen Ländern, in denen die anonyme Geburt möglich ist und von einer beträchtlichen Anzahl von Frauen in Anspruch genommen wird, wie zum Beispiel in Luxemburg und in Frankreich. Dort ist die anonyme Geburt seit 1941 straffrei möglich und wird jährlich von ca. 600 Frauen in Anspruch genommen.

Wenn dieses Bedürfnis und die Anerkennung einer extremen Notsituation nicht rechtlich geregelt und angemessen berücksichtigt werden, sondern vom Recht gleichsam verdrängt und in einer rechtsfreien Zone belassen werden, stehen die betroffenen Frauen weiterhin unter extremem psychischen Druck. Für die Kinder besteht die Gefahr, dass ihre Mütter in Extremfällen auf die heimliche Geburt mit anschließender Aussetzung oder sogar Tötung ausweichen müssen.

Die Erfahrung der Babyklappe zeigt, dass die Hilfsangebote nicht ausreichend sind und weiter gefasst werden müssen. Es gilt, ein Betreuungsangebot für Schwangere zu schaffen, das bereits Wochen vor der Geburt und auch nach der Geburt anonym angenommen werden kann. Die Erfahrungen aus den Projekten Sternipark e. V. aus Hamburg oder auch „Moses“ aus dem Freistaat Bayern zeigen, dass Frauen aufgrund umfassender anonymer Beratung eben nicht heimlich ihr Kind gebären, und sie zeigen, dass die Zahl derjenigen reduziert wird, die anschließend ihr Kind aussetzen.

Es handelt sich oft um sehr junge Frauen, die zum ersten Mal ein Kind bekommen. Sie stehen oft allein, ohne Familie und ohne Partner, da. Sie könnten durch eine anonyme Beratungsmöglichkeit einen Zugang zu ihrem Kind finden.

Ich glaube, es gibt keine schlimmere Vorstellung als die, aus Angst völlig allein in einem Abrisshaus zu entbinden. Es geht um Hilfsangebote für Frauen, die ihre Schwangerschaft verdrängt oder verheimlicht haben. Gründe dafür gibt es viele. Da ist die Angst vor den Eltern, da sind

soziale Notlagen, vielleicht gibt es keine Aufenthaltserlaubnis nach einer Vergewaltigung oder es gibt religiöse Gründe wie Verhütungsverbote. Einige Frauen tun dies, weil sie sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt - aus welchen Gründen auch immer - ein Zusammenleben mit einem Kind nicht vorstellen können oder weil sie sich nicht trauen, in der Umwelt als schwanger aufzutreten.

Die anonyme Geburt, meine Damen und Herren, findet seit langem statt. Es gibt Mütter, die unter Angabe falscher Personalien oder Vorlage einer fremden Versicherungskarte in letzter Sekunde im Krankenhaus entbinden und dieses anschließend verlassen. Das verlangt den Frauen jedoch ein hohes Maß an Stärke ab. Diese Energie und diese Stärke bringen jedoch nur wenige Frauen auf; denn diese Frauen haben sich seit Monaten ängstlich zurückgezogen.

Die Zahl dieser Frauen - so die Statistik - wird für die Bundesrepublik auf 250 geschätzt. In den letzten Jahren hat sich auch deshalb eine Reihe von Kliniken bereit erklärt, anonyme Geburten durchzuführen. Es bestehen diesbezüglich aber noch rechtliche Bedenken und finanzielle Probleme.

Die Vorteile einer anonymen Geburt möchte ich kurz schildern. Das Wissen um die Möglichkeit der anonymen Geburt kann panische Reaktionen, wie die Tötung oder die Aussetzung des Kindes, verhindern. Durch die medizinische Versorgung von Mutter und Kind erhöhen sich die Überlebenschancen des Kindes und die Gesundheitsrisiken für die Mütter werden eingedämmt. Der Krankenhausaufenthalt, anonym, geschützt, fernab von den Alltagsproblemen, kann die Chance eröffnen, dass die Frau durch entsprechende Beratung und Unterstützung eine verantwortliche Entscheidung für das Kind und sich selbst trifft, etwa hinsichtlich der Frage, ob die Anonymität weiter aufrechterhalten wird oder ob sich die Frau sogar für das Kind entscheidet.

Über das Beratungsangebot können soziale Fakten mitgeteilt, medizinische Grunddaten zu Erbkrankheiten der Eltern erhoben und anderes zur Vorgeschichte des Kindes aufgenommen werden. Auch eine persönliche Mitteilung der Mutter an das Kind kann so hinterlassen werden. Dadurch wird die Identitätsfindung des Kindes erleichtert. Außerdem, meine Damen und Herren, wird somit sichergestellt, dass es tatsächlich die Mutter ist, und nicht ein Dritter, der gegen ihren Willen das Kind abgibt.

Es gibt auch Nachteile, die wir durchaus auch benennen müssen. Das Recht des Kindes auf die Kenntnis seiner Abstammung wird verletzt. Mit der anonymen Geburt kann auch das Vorliegen einer Straftat, zum Beispiel Missbrauch oder Inzest, verdeckt werden.

Meine Damen und Herren! Die anonyme Geburt beeinträchtigt zweifellos das Recht des Kindes auf Kenntnis seiner Abstammung. Zu beachten ist hierbei die UNÜbereinkunft über die Rechte der Kinder vom 20. November 1989. Darin ist in Artikel 7 formuliert, dass das Kind ein Recht darauf hat, seine Eltern zu kennen; allerdings gibt es die Einschränkung „so weit wie möglich“.

Die Zulässigkeit der anonymen Geburt ist verfassungsrechtlich umstritten, insbesondere unter dem Gesichtspunkt, in welcher Weise bei einer Rechtsgüterabwägung das Recht des Kindes auf Kenntnis der eigenen Abstammung und das Recht der Mutter auf Achtung ihrer Würde nach den Artikeln 1, 2 und 6 des Grundgesetzes zu bewerten sind.

Seit vielen Jahren existieren auch in der Bundesrepublik Bewegungen bzw. Initiativen, die in einer besonderen Art ihre Identitätsprobleme thematisieren. Die anonyme, also namenlose Geburt - das muss hier ebenfalls erwähnt werden - kann für Betroffene ein Leben lang traumatisierend sein.

Aber auch für die Frauen, die anonym gebären, ist die Qual nicht vorbei. Sie beenden zunächst einen Lebensabschnitt, den sie als quälend empfunden haben. Sie benötigen Zeit, um den Entschluss, für ihr Kind unbekannt zu bleiben, zu überdenken. Diese Frauen haben Berührungsängste mit Ämtern und Behörden. Wir sollten ihnen für diese Entscheidung alle Zeit der Welt geben - ich sage einmal acht Wochen - und wir sollten diese Zeit so zivil wie möglich gestalten.

Auch wenn sie sich entschieden haben, erleben sie nur kurzzeitig eine entspanntere Situation. Dies alles sind Erfahrungen, die Sternipark e. V. gesammelt hat. Abgesehen von der Gewissheit, dass sie ihr Kind nie wieder zurückbekommen, leben diese Frauen mit ihrer Schuld, mit Schamgefühlen, mit der verständlichen Angst vor eventuellen bürokratischen Nachweisen über die Berechtigung sowie mit der Frage, ob das Kind zukünftig gut und sicher versorgt wird.

Meine Damen und Herren! Die anonyme Geburt im Krankenhaus wird eine Ausnahme bleiben, weil es den meisten Müttern sehr schwer fällt, sich von ihrem Neugeborenen zu trennen. Die gesetzlichen Regelungen sollten so gestaltet werden, dass die anonyme Geburt nicht als Wahlalternative erscheint, sondern als Hilfe in einer selten auftretenden Notsituation.

Den Ärzten und Hebammen soll die Unsicherheit genommen werden, indem klargestellt wird, dass sie keine Ermittlungspflichten hinsichtlich der Person der Mutter haben. Die Rechtsunsicherheit muss beendet werden, indem die anonyme Geburt zum Schutz des Kindes familienrechtlich in das Bürgerliche Gesetzbuch aufgenommen wird. Gleichzeitig soll die gesetzliche Vormundschaft des Jugendamtes angeordnet werden, das dann auch den Personenstand des Kindes regelt.

Ein Adoptionsverfahren kann ohnehin frühestens nach acht Wochen eingeleitet werden. Die Mutter erhält somit noch Zeit, sich eventuell doch noch für ein Leben mit dem Kind zu entscheiden. Diese Zeit sollte für eine Beratung genutzt werden, die selbstverständlich freiwillig und anonym sein sollte.

Meine Damen und Herren! Wir müssen die Notlagen dieser Frauen ernst nehmen. Auch wenn ich viele der Bedenken verstehe und weiß, dass sie keinesfalls wegzuwischen sind, glaube ich, dass eine anonyme Geburt im Krankenhaus für die Kinder wie für die Mütter eine Alternative zum Abrisshaus ist. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS und bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Ferchland. - Bevor die Fraktionen zu Wort kommen, erteile ich zunächst Herrn Minister Becker das Wort.

Herr Präsident! Meine Damen! Meine Herren! Frau Kollegin Ferchland, niemand möchte diese Frauen verachten. Auch wir als Landesregierung haben Verständnis für dieses Problem. Sie werden gleich sehen, wir haben die

ses Verständnis bereits mit unserem Verhalten im Bundesrat dokumentiert.

Sie haben zu Recht gesagt, Frau Kollegin, dass dies ein sehr komplexes Thema mit vielen Fassetten ist, die wir im Einzelnen sicherlich nicht hier ausdiskutieren können. Gerade deshalb werden wir uns einer Überweisung in den Ausschuss nicht entgegenstellen, obwohl wir der Meinung sind, dass die Angelegenheit, die bereits im Bundesrat behandelt wird, sich möglicherweise schon erledigt haben könnte, wenn sie in den Ausschuss hineinkommt.

Im Bundesrat wird derzeit ein Gesetzesantrag des Landes Baden-Württemberg beraten, der die Legalisierung der anonymen Geburt zum Gegenstand hat. Der Gesetzentwurf sieht ein neu zu regelndes Geburtsberatungsgesetz vor, das eine Beratungspflicht der Mutter als Voraussetzung für die anonyme Geburt vorschreibt.