Protokoll der Sitzung vom 08.07.2004

Anstatt nun aber solche Nachteile auszugleichen und die Chancengleichheit der Kinder zu verbessern, macht die Landesregierung den Umfang der Förderung und Betreuung der Kinder genau an diesem Punkt fest, an der Erwerbstätigkeit der Eltern.

(Unruhe)

Schlimmer noch: In den Städten und Gemeinden stehen die Jugendklubs vor dem Aus und öffentlich geförderte und deshalb noch bezahlbare Freizeitangebote werden verdrängt.

(Zurufe von der CDU)

Sachsen-Anhalt beschreitet den Weg: Wer etwas hat, bekommt etwas; wer nichts hat, bekommt auch nichts.

(Herr Kosmehl, FDP: Oh! - Zurufe von der CDU)

Soziale Benachteiligungen werden von der Landesregierung eher verschärft als ausgeglichen, Risikogruppen werden an den Rand gedrängt.

(Beifall bei der PDS - Zustimmung bei der SPD)

Die Landesregierung orientiert sich mit ihrer Familienpolitik lieber an den Bundesländern mit noch schlechteren Bedingungen,

(Herr Gürth, CDU: Sie tun sich keinen Gefallen mit solcher Polemik!)

als EU-weit nach vorn zu schauen zu den Ländern, die Bildung und Förderung der Kinder als Zukunftsinvestition betrachten.

(Zuruf von Herrn El-Khalil, CDU)

Mit dem Gesetzentwurf, den wir am heutigen Tage einbringen, wollen wir diese haarsträubende Entwicklung rückgängig machen,

(Lachen bei der FDP - Zuruf von Herrn Kosmehl, FDP)

da dem Gesetz der Landesregierung trotz anders lautendem Namen der kinderbezogene Förderansatz fehlt.

(Beifall bei der PDS)

Nur jeder zehnte Schüler ist in der Lage, sehr schwierige Texte zu verstehen, sie zu analysieren und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Kein anderes Industrieland hat so viele Kinder, die nicht gelernt haben zu lesen, also einfachste Informationen aus einem Text zu entnehmen. Die Ursachen der Ergebnisse des PisaTests sind so vielfältig wie die Versuchungen, die Verantwortung zu delegieren.

(Herr Kosmehl, FDP: Das liegt am KiFöG, ja? Nach einem Jahr? - Unruhe)

Halbherzige Lippenbekenntnisse und Aktionismus waren und sind diesbezüglich an der Tagesordnung. Ihr Kinderförderungsgesetz reiht sich da nahtlos ein.

(Zustimmung bei der PDS - Herr Kosmehl, FDP: Voll daneben! - Herr Gürth, CDU: Kein anderes Land in Europa fördert Kinder so wie Sachsen- Anhalt! Kein anderes Land tut das so wie wir!)

§ 5 Ihres Gesetzes formuliert einen konkreten Bildungsanspruch, der von allen begrüßt wurde. Der Blick hinter die Kulissen offenbart jedoch mehr Schein als Sein.

Weniger qualifizierte Hilfskräfte ersetzen pädagogisches Fachpersonal.

(Herr Kosmehl, FDP: Mein Gott, das ist ja un- glaublich! - Zurufe von der CDU)

Sie entlassen Erzieherinnen im Kindergarten gerade in der Altersgruppe der Kinder, die auf die Schule vorbereitet werden sollen.

Herr Papenroth, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage der Abgeordneten Frau Brakebusch zu beantworten?

Herr Papenroth:

Ja, aber bitte am Ende.

Am Ende, Frau Brakebusch.

Herr Papenroth:

Sie entlassen Erzieherinnen im Kindergarten gerade dort, wo Sie Ihren Bildungsauftrag formulieren, und schreiben verkürzte Arbeitszeiten bei den Erzieherinnen fest, die noch weiter arbeiten dürfen.

Meine Damen und Herren Abgeordneten! Pädagogische Arbeit mit Kindern braucht neben Kontinuität im Tagesablauf und festen Bezugspersonen insbesondere Zeit, nicht nur Zeit für die Arbeit am Kind, sondern auch Zeit zur Vorbereitung von Projekten und Aktionen, Zeit für die Leiterin einer Kindertagesstätte zur Erarbeitung pädagogisch anspruchsvoller Konzepte, Zeit für die Leiterin zur Anleitung ihrer Mitarbeiterinnen und zur Beratung der Eltern, Zeit, die das Gesetz der Landesregierung der Leiterin, den Erzieherinnen und damit auch den Kindern genommen hat.

Stattdessen hat die Leiterin einer Kindertagesstätte in der Praxis genauestens Buch darüber zu führen, welche Eltern gerade wieder arbeitslos sind, welcher Betreuungsanspruch sich daraus ableitet, wann die Eltern ihr Kind bringen und es wieder abholen. Im Kinderförderungsgesetz fehlt ein klar definierter Fortbildungsauftrag an die Erzieherinnen genauso wie die Pflicht der Träger zur Freistellung.

(Zustimmung bei der PDS)

Tagespflege ohne ausreichend formulierte Qualitätsstandards, ohne angemessene Forderungen hinsichtlich der sachlichen Ausstattung und des Bildungsabschlusses der Erzieherinnen soll die öffentlich geförderten Einrichtungen ergänzen bzw. - aus meiner Sicht -, insbesondere im ländlichen Raum, eher ersetzen. Das Kinderförderungsgesetz ist ein Spargesetz, eine bildungs- und sozialpolitische Attrappe zulasten unserer Kinder.

(Zustimmung bei der PDS - Herr Schröder, CDU: Oh, oh!)

Herr Papenroth, ich muss Sie bitten, zum Schluss zu kommen. Ich habe Ihnen schon eine zusätzliche Minute zugestanden.

Herr Papenroth:

Tja.

(Herr Scharf, CDU: Das ist so im Parlament!)

Das lässt sich nicht ändern.

Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Da ich jetzt zum Schluss komme, gestatten Sie mir vielleicht noch eine persönliche Bemerkung. Viele von Ihnen sind in einem Alter, in dem das Recht und vielleicht auch die Pflicht besteht, zurückzuschauen. Früher oder später stellt sich uns die Frage: Was wird letztlich von dem übrig bleiben, was uns bestimmt? Was bleibt von uns? - Materielle Dinge werden es nicht sein, weder im Kleinen noch im Großen. Unser letztes Hemd hat keine Taschen. Das, was wir erbaut haben, fällt irgendwann wieder in sich zusammen. Das, was wirklich von Dauer sein wird, ist das, was wir unseren Kindern auf den immer steiniger werdenden Lebensweg mitgeben,

(Herr Borgwardt, CDU: Schulden!)

an Persönlichkeit, an Erfahrung und an Wissen.

(Zuruf von der FDP: Und Schulden!)

Die 300 000 Bürgerinnen und Bürger unseres Landes, die uns unterstützt haben, betrachten die Förderung und Betreuung der Kinder als Investition in die soziale und kulturelle, aber auch in die wirtschaftliche Zukunft unseres Landes. Sie wollen eine andere Familienpolitik als die, die sich in Ihrem Kinderförderungsgesetz widerspiegelt.

Selbst diejenigen, die dieses einmalige Bürgervotum nicht zum Anlass nehmen, ihren Standpunkt zu überdenken, müssen mit offenen Augen auf die demografische Entwicklung in Deutschland und insbesondere in SachsenAnhalt schauen.

Unsere wenigen Kinder werden in der Zukunft vor Aufgaben stehen, deren Umfang und Tragweite wir heute nur erahnen können. Wir alle aber tragen heute die Verantwortung dafür, mit welchem Rüstzeug wir sie auf diesen Weg schicken. Unsere Kinder lernen heute im Kindergarten. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Starker Beifall bei der SPD und bei der PDS)

Herr Papenroth, Sie haben jetzt die Möglichkeit, zwei Fragen zu beantworten, wenn Sie dazu bereit sind. Frau Brakebusch hatten Sie das bereits zugesagt. Auch Frau von Angern möchte gern eine Frage stellen.

(Ach! bei der CDU und bei der FDP - Herr Gallert, PDS: Jetzt reicht es aber! - Frau Fischer, Naum- burg, SPD: Furchtbar!)

Bitte sehr, Frau Brakebusch.