Meine Damen und Herren Abgeordneten! Ich begrüße Sie zu der 44. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt in der vierten Wahlperiode.
Meine Damen und Herren! Das Mitglied des Landtages Herr Erich Reichert hat heute Geburtstag. - Herr Reichert, wir wünschen Ihnen alles Gute, Gesundheit und Erfolg.
Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest. Wir setzen nunmehr die 23. Sitzungsperiode fort. Wir beginnen die heutige Beratung vereinbarungsgemäß mit den Tagesordnungspunkten 3 bis 5; danach folgen die Tagesordnungspunkte 14,15 und 7.
In der Aktuellen Debatte - das wissen Sie - beträgt die Redezeit zehn Minuten je Fraktion; die Landesregierung erhält ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Die Debatte wird in folgender Reihenfolge durchgeführt: PDS, FDP, SPD und CDU. Zunächst erteile ich dem Antragsteller, der PDS, das Wort. Herr Gallert, bitte sehr.
- Man sagt, dass 9 Uhr eigentlich noch keine Zeit für die Abgeordneten wäre. Aber man sieht, dass die Aktivitätskurve selbst am zweiten Tag einer solchen Sitzungsperiode schon sehr früh ansteigen kann.
Die Sitzungsperiode des Landtags, die kurz vor der Sommerpause im Jahr 2004 durchgeführt wird, ist reich an historisch genannten Ereignissen und an besonderen Höhepunkten. Während wir gestern zum ersten Mal im Land Sachsen-Anhalt das Einbringen eines Gesetzentwurfs durch ein Volksbegehren erlebt haben, behandeln wir heute in dieser Aktuellen Debatte einen Gesetzentwurf, der, verglichen mit den politischen Entscheidungen der letzten zehn Jahre, die mit Abstand tiefgreifendsten sozialen und ökonomischen Veränderungen in diesem Land strukturieren wird, die zumindest ich seit meiner Anwesenheit in diesem Landtag erlebt habe.
Dabei handelt es sich zwar um ein Bundesgesetz, aber wir erleben die entsprechende Entscheidung dazu heute im Bundesrat und wir wissen, dass die Auswirkungen dieses Gesetzes auf das Land Sachsen-Anhalt eine andere Dimension haben werden, als dies zum Beispiel in Bayern oder in Baden-Württemberg der Fall sein wird.
Hartz-IV-Gesetz geprägt. Sie waren aber in erster Linie durch die Auseinandersetzungen zwischen kommunalen Spitzenverbänden und den Ländern auf der einen Seite und dem Bund auf der anderen Seite sowie durch die Auseinandersetzung um möglicherweise zusätzliche Personalkosten bei der Bundesanstalt für Arbeit oder den Kommunen geprägt.
All das ist aber nicht der Anlass und nicht die Ursache für die Beantragung der heutigen Aktuellen Debatte in diesem Hause. Das, was in den letzten Wochen - besser gesagt: in den letzten Monaten - so gut wie keine Rolle gespielt hat, das, was bei der Entscheidungsfindung offensichtlich vollständig aus dem Blick der Entscheidenden gerückt ist, ist die individuelle Situation der Betroffenen, ist die Situation derjenigen, die ab dem 1. Januar 2005 mit hoher Wahrscheinlichkeit von diesem Arbeitslosengeld II leben müssen. Deren Sicht ist es, die wir heute darstellen wollen; deren Lebensumstände sind es, die wir in den Mittelpunkt dieser Debatte rücken wollen.
Bevor wir das tun, möchte ich kurz etwas zu der Dimension des Gesetzes und seinen Auswirkungen auf die Bevölkerung von Sachsen-Anhalt sagen. Bisher haben wir im Land Sachsen-Anhalt eine Sozialhilferate von etwa 3,3 % - das kann man sich relativ schnell ausrechnen. Etwa 80 000 Menschen leben in diesem Land schon jetzt von Sozialhilfe. Diesen Status werden ab dem 1. Januar 2005 sage und schreibe etwa 15 % der Bevölkerung Sachsen-Anhalts haben.
Zum einen ist es so, dass es im Land Sachsen-Anhalt schon jetzt etwa 193 000 Arbeitslosenhilfeempfänger gibt. Von diesen haben bisher schon etwa 20 000 Personen ergänzende Sozialhilfe erhalten, sind also diesem Armenrecht bereits unterworfen. Insgesamt bleibt also ein neuer Personenkreis von sage und schreibe 170 000 Menschen übrig, für den sich die soziale Situation am 1. Januar 2005 radikal verschlechtern wird.
Aber nicht nur diese Personengruppe von etwa 170 000 Menschen, sondern darüber hinaus weitere etwa 100 000 Menschen, die in den so genannten Bedarfsgemeinschaften leben, meistens als Lebenspartner von Arbeitslosengeld-II-Empfängern, die ebenfalls ihre Dinge offen zu legen haben, werden davon betroffen sein. Insgesamt ist es also ein Personenkreis von etwa 250 000 bis 300 000 Menschen zusätzlich zu denjenigen, die bisher schon Sozialhilfeempfänger waren. Diesen gewaltigen Einfluss wird dieses Gesetz auf Sachsen-Anhalt haben.
Schauen wir uns bitte einmal an, was ab 1. Januar 2005, so dieses Gesetz in Kraft tritt, bei 15 % der Bevölkerung passiert. Zum einen werden sich die Bezüge dieser Personengruppe radikal verringern. Im Durchschnitt aller Betroffenen gibt es je nach Berechnungsart Zahlen zwischen 130 € und 200 €. Nun haben wir gestern schon in der Debatte gehört, was 40 € ausmachen, ob das viel oder wenig Geld ist. Das ist eine sehr unterschiedliche Betroffenheit. Für die Menschen, für die das aber zutrifft, bedeutet das eine Einkommensreduzierung um bis zu 30, 40, 50 % ihres bisherigen Lebensunterhaltes. Das ist ein radikaler sozialer Abstieg, der mit der dieser Einkommenseinbuße verbunden ist.
Zum anderen werden die 170 000 Arbeitslosengeld-IIEmpfänger, die jetzt noch Arbeitslosenhilfe bekommen, in eine vollständige Abhängigkeit von der so genannten Bedarfsgemeinschaft kommen, im Normalfall vom Le
benspartner, egal ob verheiratet oder nicht. Es wird nämlich eine vollständige Anrechnung nicht nur der Einkommen geben, so wie das zurzeit zum Teil schon bei den Sozialhilfeempfängern der Fall ist, nein, sämtliche Vermögenswerte werden bis zu bestimmten Schwellen angerechnet und reduzieren die Leistungen, die diese Menschen bekommen werden. Dies bedeutet, dass praktisch das gesamte Vermögen von 15 % der Bevölkerung aufgebraucht werden wird, bevor sie überhaupt noch soziale Unterstützung in diesem Land bekommen werden.
Darüber hinaus wird es eine vollständige Abhängigkeit der Betroffenen von den auszahlenden Stellen geben. Die auszahlenden Stellen werden darüber entscheiden, welche Kapitalanlage wann veräußert werden muss, welches Grundstück, das sich eventuell noch im Besitz desjenigen befindet, veräußert werden muss, ob er sich die Wohnung, in der jetzt noch zur Miete wohnt, leisten kann. In einzelnen Fällen wird es auch darum gehen, ob selbstgenutztes Wohneigentum verkauft werden muss, wenn es bestimmte Schwellenwerte übersteigt.
Alle diese Menschen werden in diese vollständige Abhängigkeit geraten und werden von den Entscheidungen der auszahlenden Stellen abhängig sein. Ich glaube, dass dies auch unter dem Aspekt von Liberalität in der Gesellschaft eine der gravierendsten Veränderungen in Sachsen-Anhalt sein wird.
Die sozialen Folgen für eine so große Bevölkerungsgruppe lassen sich dann aber auch fast mit mathematischer Genauigkeit voraussagen. Die Chancen auf Eingliederung in den Arbeitsmarkt in Sachsen-Anhalt sind verschwindend gering. Selbst die Bundesagentur glaubt übrigens nicht daran. Während sie vorher für Arbeitslose im Durchschnitt 4 600 € für die aktive Eingliederung in den Arbeitsmarkt zur Verfügung gestellt hat, werden es ab 1. Januar 2005 nur noch 2 000 € für alle Arbeitslosen sein. Das bedeutet, selbst die Bundesagentur für Arbeit geht überhaupt nicht davon aus, dass es wirklich gelingen kann, Arbeitslosengeld-II-Empfänger in großer Zahl Arbeit zu bringen.
Wir werden es also mit einer riesengroßen Zahl von Arbeitslosen zu tun haben, die allerdings ihre Ansprüche nicht realisieren können, sondern die jede angebotene Arbeit, zumindest im kommunalen Bereich, die so genannten Arbeitsgelegenheiten, annehmen müssen, ob sie es wollen oder nicht. Wer dies nicht tut, dem werden sofort 100 € abgezogen, wenn er über 25 Jahre alt ist, und er bekommt eine vollständige Leistungssperre, wenn er unter 25 Jahre alt ist.
Was bedeutet dies? Welche Bedeutung hat die massive Ausweitung eines Billiglohnsektors? Das bedeutet, dass Kommunen dazu übergehen werden, für den so genannten Mehrbedarf, der noch nicht definiert ist - 1 € oder 2 € pro Stunde -, Arbeitslosengeld-II-Empfänger in entsprechenden Bereichen einzusetzen. Das bedeutet, dass diese Menschen für das Arbeitslosengeld II von 331 € auch noch arbeiten werden. Sie werden das Geld nicht, wie bisher, dafür bekommen, allein ihre Existenz zu sichern.
Was sind die Folgen? Die Folgen werden zum einen sein, dass wir es mit einer extremen Ausweitung von sozialen Verwerfungen zu tun haben werden. Die Folgen werden sein, dass diese Bevölkerungsgruppe territorial
konzentriert sein wird, weil die Kommunen, die ja das Unterkunftsgeld zahlen, versuchen werden, diese Personengruppe in bestimmten Räumen zu konzentrieren, wo das Wohnen noch relativ billig ist.
Eine der schlimmsten Folgenwirkung wird sein, dass etwa ein Viertel aller Kinder in Sachsen-Anhalt in dieser Armutsgruppe aufwachsen werden. Sich darüber Gedanken zu machen, was das für Folgen für die nachfolgenden Generationen hat, war unter anderem Thema in der gestrigen Diskussion zur Kinderbetreuung.
All diese Dinge werden also auf uns zukommen. Darüber hinaus wird es auch ökonomische Folgen geben. Bisher ist es so, dass Arbeitslosenhilfeeinkünfte, die die Betroffenen bekommen, eine untere Lohngrenze darstellten. Das war übrigens vielen schon ein Dorn im Auge nach dem Motto, wenn die schon 400 € bis 500 € Unterstützung bekommen, werden die bei mir nicht für 500 € arbeiten.
Was meinen Sie wohl, was in Zukunft passieren wird, wenn eine Stunde Arbeitszeit von einem Arbeitslosengeld-II-Empfänger nur 1 € oder 2 € kosten wird? Eine solche Auseinandersetzung wie zum Beispiel in der Stadt Magdeburg um die Vergabe von Reinigungsleistungen in den Schulen wird es bald nicht mehr geben. Natürlich werden die Kommunen dann Reinigungsleistungen in den Schulen mit Arbeitslosengeld-II-Empfängern realisieren. Nichts ist billiger, als jemanden für 1 € pro Stunde dort arbeiten zu lassen. Was meinen Sie, was mit dem Grünanlagenbereich passieren wird? Was meinen Sie wohl, was bei Pflasterarbeiten in den Kommunen passieren wird?
Letztlich gehen die ökonomischen Folgen noch weiter für eine Bevölkerungsgruppe, die jetzt noch in Lohn und Brot ist. Wie lange wird sich eine Reinigungsfirma noch am Markt behaupten können, wenn die Kommunen die Leute für 1 € pro Stunde in die entsprechende Arbeit hineinbringen, was ja ausdrückliches Ziel dieses Arbeitslosengeldes II ist? Nicht nur die 220 Millionen € Kaufkraftverlust von direkt Betroffenen werden die Folge sein, nein, darüber hinaus wird es ein umfangreiches Lohndumping in den Bereichen geben, in denen man in Zukunft versuchen wird, Arbeitslosengeld-II-Empfänger hineinzuschieben. Das sind die sozialen und die ökonomischen Folgen dieses Gesetzes und dagegen müssen wir uns auflehnen.
Interessant ist, dass sich schlagartig einige Tage vor der endgültigen Entscheidung, die wir heute im Bundesrat haben werden, das soziale Gewissen innerhalb der politischen Klasse wieder breit macht. Auf einmal kommen wieder die Sichten der Betroffenen zur Geltung. Auf einmal entdecken die ostdeutschen Landesregierungen, dass die Umsetzung dieses Hartz-IV-Gesetzes katastrophale Auswirkungen haben wird. Ich frage Sie: Wo war diese Aufregung eigentlich vor einem halben Jahr, als die politischen Entscheidungen dazu gefallen sind?
Wo sind die Auseinandersetzungen in der SPD in der CDU mit den eigenen Bundestagsabgeordneten gewesen, die dieser Reform zugestimmt haben?
Jetzt auf einmal zu entdecken, welche katastrophalen Auswirkungen dieses Gesetz haben wird, ist eindeutig zu spät.
Sie wissen ausdrücklich, welche politischen Folgen dieses Gesetz haben wird. Es ist jetzt klar, dass die Bevölkerung dies nicht mehr so hinnehmen wird. Jetzt versuchen Sie, von diesem Zug abzuspringen. Was haben Sie vor einem halben Jahr gemacht? Das frage ich Sie. Es wird möglicherweise noch die Chance geben, bestimmte Dinge zu verhindern. Ich weiß nicht, wie die Bundesratsentscheidung ausfällt. Aber ich sage Ihnen: Wer in diesem Land ein politisches Gewissen hat, dem wird auch nach diesem Tag die Aufgabe obliegen, gegen dieses Gesetz und gegen die katastrophalen sozialen und ökonomischen Folgen anzukämpfen, die dieses Gesetz für dieses Land haben wird. - Danke.
Danke, Herr Gallert. - An dieser Stelle hat die Landesregierung um das Wort gebeten. Bitte, Herr Minister Dr. Rehberger, Sie haben das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Lassen Sie mich zunächst einmal sagen, dass es absolut notwendig war und ist, dass man die bisherige Ungleichbehandlung von arbeitslosen arbeitsfähigen Bürgern beendet.