Protokoll der Sitzung vom 17.09.2004

Um zum wiederholten Mal mit einem gern gepflegten Missverständnis aufzuräumen: Auch die PDS sah und sieht die Notwendigkeit einer Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe. Ab und an wird immer noch behauptet: Alle sind dafür, nur die PDS ist dagegen. Hierzu gab es tatsächlich einen Parteien übergreifenden Konsens; nur bezüglich der Frage, auf welchem Niveau das passieren sollte, gingen die Meinungen weit auseinander.

Meine Damen und Herren! Noch am 24. April 2002 hat der Bundeskanzler Schröder anlässlich der Pressekonferenz zur Vorstellung des Wahlprogramms der SPD beteuert: Es werde keine Absenkung der Leistungen auf das Sozialhilfeniveau geben. Das war im Übrigen auch eine zentrale Aussage der Wahlpapiere der SPD. Nur ein Jahr später, nämlich nach der Wahl, kommt die Kehrtwende. In der Regierungserklärung am 14. März 2003 kündigte der Bundeskanzler die Zusammenlegung beider Systeme an, und zwar einheitlich auf einer Höhe, die in der Regel dem Niveau der Sozialhilfe entsprechen würde.

Meine Damen und Herren! Das hatte ich im Übrigen persönlich auch nicht für möglich gehalten.

Bei den Krokodilstränen der CDU, meine Damen und Herren, möchte man heutzutage am zweckmäßigsten fortlaufend mit dem Eimer daherkommen;

(Zustimmung bei der PDS)

denn Ihre Wünsche hatten ganz andere Dimensionen. Das Existenzgrundlagengesetz sah vor: keine Rentenversicherungspflicht für die Betroffenen, sonstige Alterssicherungen waren eine Kannleistung, keine verbindliche Mitgliedschaft in der gesetzlichen Krankenversicherung, Vermögensschutz bestand nur für kleinere Beiträ

ge, für Einkommen unter 400 € gab es keinen Selbstbehalt und bei Fehlverhalten drohte der vollständige Entzug.

Der Spruch „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ ist mir schon zu DDR-Zeiten auf die Nerven gegangen.

(Herr Gürth, CDU: Warum eigentlich nicht? - Zu- ruf von Herrn Schomburg, CDU)

Damit wäre der Charakter der Grundsicherung, meine Damen und Herren, flöten gegangen.

Die in den SPD-Entwurf auf Druck der so genannten Abweichler aufgenommene Einschränkung der Zumutbarkeit auf tarifliche oder wenigstens ordentliche Bezahlungen ist durch die CDU kassiert worden. Auch die Freibeträge bei Erwerbstätigkeit sind auf Betreiben der CDU reduziert worden. - So viel, meine Damen und Herren, zum Thema Populismus.

(Zustimmung bei der PDS)

Ich will keineswegs behaupten, Populismus sei ein Alleinstellungsmerkmal der SPD oder ein Alleinstellungsmerkmal meinethalben der CDU oder der FDP, weil ich Sie gerade sehe. Es ist aber eben auch keines der PDS. Es ist ein Alleinstellungsmerkmal, will ich einmal so provokant sagen, von Parteien überhaupt.

Ich sage Ihnen: Es nervt, wenn immer wieder nur aufgrund der Tatsache, dass man anderer Meinung ist oder dass man grundsätzlich andere Konzepte vertritt, mit der Ideologiekeule oder mit der Populismuskeule gewunken wird. Meine Damen und Herren! Das ist nicht unbedingt ein Ausdruck von geistiger Freiheit.

(Lebhafter Beifall bei der PDS)

Über Armut lässt sich streiten, vor allen Dingen dann, wenn der Abstand dazu recht groß ist. Ich habe mich deshalb streng an die offizielle Statistik gehalten. Das Statistische Bundesamt legte im Jahr 2002 die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung vor. Darin werden unter anderem auch die verfügbaren Nettoeinkommen aufgezeigt. Man hat sie dort nach Haushaltsgruppen differenziert. Zum Beispiel wird zwischen Selbständigenhaushalten und Arbeitnehmerhaushalten unterschieden, darunter Beamte, Arbeiter und Angestellte. Es werden Nichterwerbstätigenhaushalte aufgeführt, also Arbeitslosengeldbezieher, Sozialhilfeberechtigte etc. Aufgezeigt wird dort das durchschnittliche Nettoeinkommen je Haushaltsmitglied, eben unterteilt nach diesen Haushaltsgruppen.

Vergleicht man das Nettoeinkommen eines Familienmitgliedes aus einer Arbeiterfamilie - das ist ohnehin schon nicht allzu hoch, das ist in der Skala der Arbeitnehmerfamilien das unterste - mit dem aus einer Sozialhilfefamilie, dann stellt man fest, dass das Haushaltsmitglied der sozialhilfeberechtigten Familie im Jahr 2002 50 % des Einkommens der Arbeiterfamilie zur Verfügung hatte - in einem Zwei-Personen-Haushalt. In einem Drei-Personen-Haushalt sind es 51,8 %. In einem Vier-PersonenHaushalt sind es 53,1 %.

Seit Dezember 2001 verfügt die EU über eine Armutsrichtlinie. Die EU hat festgelegt: Bei 60 % des durchschnittlichen nationalen Pro-Kopf-Einkommens liegt die Armutsgrenze. Der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung hat sich daran gehalten. Der Armuts- und Reichtumsbericht Sachsen-Anhalts geht ebenfalls von 60 % aus.

Das Nettoäquivalenzeinkommen - das ist die Basis - lag im Jahr 2002 laut der Angabe des Bundesamtes für Statistik bei rund 1 200 € im Westen und etwas mehr als 1 000 € im Osten. Wenn wir bei den neuen Bundesländern bleiben und rechnen, bei 60 % dessen liegt die Armutsgrenze, kommen wir bei rund 605 € an. 605 € sind gemäß den Berechnungen des Bundesamtes für Statistik die leider nicht politisch deklarierte, aber offizielle Armutsgrenze in Deutschland.

Jetzt kann jeder rechnen: 331 € Regelsatz plus 248 € Miet- und Heizkosten - das sind im Übrigen Schätzungen des Bundeswirtschaftsministeriums - sind unter dem Strich rund 580 €. Damit fehlen 25 € bis zu der Marke.

Was einen Teil der Betroffenen noch eine Weile retten wird, sind erstens die Übergangsregelungen - das ist wohl wahr - und zweitens die Möglichkeiten des Dazuverdienens aus den Eingliederungshilfen.

Was man aber mit Fug und Recht sagen kann, meine Damen und Herren, ist Folgendes: Nach dem Auslaufen der Übergangsregelung, wahrscheinlich schon nach dem ersten Jahr, werden all diejenigen unter die Armutsgrenze fallen, die eben nur auf diese Regelsätze angewiesen sein werden. Das wird ein beträchtlicher Teil sein. Nach Schätzungen des Bundeswirtschaftsministeriums wird ca. ein Drittel Eingliederungshilfe erhalten. Somit bleiben immer noch 70 %.

Natürlich haben die Betroffenen auch die Möglichkeit, in einen Niedriglohnjob zu gehen; denn Zuverdienstmöglichkeiten räumt das Gesetz ein. Aber wenn man sich vor Augen hält, was für ein gewaltiger Druck damit auf das Einkommensgefüge gerade in den unteren Bereichen ausgeübt wird, wird einem Himmelangst und Bange.

(Beifall bei der PDS)

Mit dem Sozialhilfeniveau auskommen muss damit künftig eben nicht mehr nur eine so genannte Randgruppe von 3 bis 4 % - diese kleine Gruppe hätte in Magdeburg niemals den Domplatz voll bekommen. Das Problem ergreift jetzt die, die sich noch vor einigen Jahren sicher geglaubt haben und die die Armut lediglich in den Plattenbauten verortet sahen. Die Gefahr der Verarmung ist kein Randgruppenproblem mehr, meine Damen und Herren.

Fazit: Mag die Formel auf den PDS-Plakaten „Armut per Gesetz“ vielleicht die exakte sozialwissenschaftliche Berechnung schuldig bleiben -

(Zuruf von der SPD: Das ist der Populismus!)

Hartz IV setzt nicht nur einen Prozess des sozialen Abstiegs in bisher unbekanntem Maße in Gang, Hartz IV wird zum Stigma, zum sozialen Stigma, das Menschen in sehr unangenehmer Weise zu pädagogischen Objekten macht.

(Beifall bei der PDS)

Das Problem sind nicht - das habe ich an dieser Stelle schon einmal gesagt - Lebensepisoden, die mit geringem Einkommen zu bewältigen sind. Krisen sind immer auch wichtig für die Lebensbewältigung. Ein Problem entsteht vielmehr, wenn sich Armut manifestiert, wenn Armut chronisch wird.

Zum Problem wird es dann, wenn in den neuen Ländern bereits zwei Drittel der Leistungsempfängerinnen potenzielle Betroffene sind, wenn die Betroffenen keine ver

nünftige Alternative haben, weil in den neuen Ländern auf einen freien Arbeitsplatz 33 potenzielle Bewerber kommen - in Sachsen-Anhalt sind es 37 -, wenn allein der damit verbundene Kaufkraftverlust nahezu garantiert ist, wenn sich an diesem Verhältnis in absehbarer Zeit auch nichts ändern wird und wenn die andauernde Erwerbslosigkeit den Verlust des sozialen Status mit sich bringt. Es ist ja nicht nur der ökonomische Verlust, sondern es ist der Verlust des sozialen Status in einer Arbeitsgesellschaft, der sehr stark an das Erwerbseinkommen oder an den Erwerbsstatus gebunden ist.

Selbst für Kinder öffnet sich damit ein Teufelskreis, meine Damen und Herren - darüber haben wir an dieser Stelle auch schon mehrfach diskutiert -; denn zum Beispiel der Zusammenhang zwischen Bildungschancen und sozialen Verhältnissen ist in Deutschland hinlänglich bekannt.

Wenn das schon für Betroffene ein sehr schwerwiegendes Problem ist, dann werden Armut und Erwerbslosigkeit auf diese Weise ein gesellschaftliches Problem, und zwar in ganz anderer Weise, als das vielleicht gewünscht ist; denn es besteht die Gefahr, dass sich Toleranz und Gemeinnützigkeit Schritt für Schritt aus dieser Gesellschaft verabschieden werden, dass die Schwelle für Gewalt und Fremdenhass in allen Spielarten sehr deutlich sinken wird. Aus einer liberalen Gesellschaft wird quasi eine neoliberale und das ist so ziemlich das Gegenteil davon.

(Beifall bei der PDS)

Wie soll die künftige Arbeitsgesellschaft aussehen? Dass die alten Formeln mit den Investitionen Wolkenkuckuckswünsche sind, hat die Entwicklung seit der letzten Steuerreform einmal mehr und hinlänglich gezeigt. Ich will auch keineswegs - um Missverständnissen gleich vorzubeugen - behaupten, die PDS hätte die Stellschrauben dafür in der Schublade. Die hat keine Partei. Auch Hartz IV ist keineswegs ein arbeitsmarktpolitisches Problem.

Es erweist sich als grundsätzliches und vor allem schwieriges Problem, ausreichend Beschäftigung zu schaffen. Dem ist nicht mit einfachen Lösungen beizukommen. Ich werbe deshalb dafür, sich auch mit den jeweils anderen Konzepten in der Sache auseinander zu setzen.

Herr Professor Böhmer ist leider nicht anwesend. Gestatten Sie mir an dieser Stelle eine persönliche Bemerkung. Der Spruch mit den Babyvorträgen gehört in dieselbe Mottenkiste wie die meisten Vorträge, die damals gehalten worden sind.

Dazu sage ich Ihnen: Nach meinem Empfinden ist mein „Laden“ - mit Verlaub: meine Partei - auf einem vernünftigeren Weg, weil dort der Fraktionsvorsitzende die Chance hat, ungestraft zu sagen: Lasst uns - wir duzen uns in unserer Partei - doch tatsächlich auch mit Konzepten zum Beispiel à la Weimann auseinander setzen, die nun nicht a priori auf unserer politischen Seite zu finden sind.

(Beifall bei der PDS)

Mit Hartz IV wird lediglich die Frage beantwortet, wie die beiden großen Volksparteien künftig mit Langzeitarbeitslosen umzugehen gedenken. Diesbezüglich sind wir eben grundsätzlich anderer Auffassung - und das nicht erst seit der Erfindung der Montags-, Dienstags-, Donnerstagsdemos.

Der Arbeitsminister von Mecklenburg-Vorpommern, Helmut Holter, hat bereits am 16. August 2002 im Französischen Dom laut und vernehmlich gesagt, was er davon hält.

Meine Damen und Herren! Solange es für Langzeitarbeitslose keine ernst zu nehmende Alternative gibt, kann und darf man das nicht mit Disziplinierung und Drangsalisierung kompensieren.

(Beifall bei der PDS)

Das ist zum einen nicht im Sinne der Betroffenen und zum anderen auch nicht im Sinne eines liberalen Sozialstaates.

Ich bitte Sie deshalb in diesem Sinne, unserem Antrag zuzustimmen. - Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Vielen Dank, Frau Bull. - Meine Damen und Herren! Wir treten jetzt in eine Fünfminutendebatte ein. Zunächst hat für die Landesregierung der Minister für Wirtschaft und Arbeit Herr Dr. Rehberger um das Wort gebeten. Bitte sehr, Herr Dr. Rehberger.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn man in der Logik, in der Gedankenwelt des Sozialismus zu Hause ist, ist das, was Frau Bull eben vorgetragen hat, absolut schlüssig.

(Beifall bei der FDP und bei der CDU - Zurufe von der PDS)

- Sind Sie eine sozialistische Partei oder nicht?