Protokoll der Sitzung vom 19.07.2002

- Ich will nicht behaupten, dass alle Eltern das tun, Herr Böhmer, aber sie können.

(Zustimmung bei der PDS)

Vielen Dank. - Herr El-Khalil.

Sie haben einiges an statistischem Material erwähnt. Können Sie so freundlich sein und mir sagen, wo das steht, damit ich das nachlesen kann?

Sie können das in den Kommentaren zum JGG nachlesen. Dort wird auf alle diese Studien verwiesen. Das kann ich Ihnen aber auch gern geben.

(Herr El-Khalil, CDU: Ich habe nämlich genau das Gegenteil gelesen!)

Vielen Dank. Das kann auch außerhalb der Sitzung geklärt werden. - Für die Landesregierung spricht nun Herr Minister Becker.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst darf ich mich bei Ihnen, Frau von Angern, für das Seminar zum Jugendstrafrecht bedanken.

(Heiterkeit und Zustimmung bei der CDU und bei der FDP - Frau von Angern, PDS: Hab‘ ich doch gern gemacht!)

Das war interessant, und es war sicherlich gut, dass Sie uns noch einmal darauf hingewiesen haben. Ich kann das, was Sie gesagt haben, eigentlich nur unterstützen.

Auch die CDU geht beim Jugendstrafrecht immer vom Erziehungsgedanken aus. Sie hat ihn nie infrage gestellt. Deshalb war es gut, dass Sie die CDU im Zusammenhang mit dem Entwurf eines neuen Jugendstrafrechts zitiert haben, in dem auch dieser Gedanke ganz offensichtlich zum Ausdruck gekommen ist. Darin liegen wir überhaupt nicht auseinander.

Ich kann die ganze Aufregung nicht verstehen. Da sagt ein Justizminister, er wolle die Diversionsrichtlinien aufheben, weil sie den tatsächlichen Gegebenheiten nicht gerecht werden, und schon brennt die Prärie.

Meine Damen und Herren! Ich werde mich dadurch wirklich nicht beeindrucken lassen. Die Richtlinien vom 18. August 1997 werden aufgehoben, komme was da wolle.

(Zustimmung bei der CDU)

Aber ich sage Ihnen auch ganz deutlich ein Weiteres: Die Diversion als solche, die in § 45 und § 47 des Jugendgerichtsgesetzes verankert ist, wird von uns natürlich akzeptiert.

Ich will Ihnen ein Weiteres sagen: Wir haben die Diskussion mit den Vertretern der Justiz innerhalb unseres Geschäftsbereichs aufgenommen. Dort wird mir gesagt, die Richtlinien vom 18. August 1997 seien in der Tat reformbedürftig.

Ich darf nur daran erinnern, dass im Landtag bereits eine Diskussion darüber stattgefunden hat und der Altkollege Remmers dazu sehr kluge Ausführungen gemacht hat, in denen er angemahnt hat, die Dinge, die damals, 1997, auf den Weg gebracht worden sind, noch einmal zu überdenken.

Die Probleme sind seither nicht geringer geworden, sondern in der Praxis hat sich herausgestellt, dass es eine Vielzahl von Fragen gibt, die neu überdacht werden müssen. Ich komme auf die einzelnen Fragen noch zu sprechen.

Wir werden das, was sich bisher bewährt hat, belassen. Aber wir werden all das, was änderungsbedürftig ist, in neue Richtlinien gießen; denn es scheint - davon bin ich aufgrund der vielen Gespräche, die wir geführt haben, nunmehr doch überzeugt -, dass wir wieder Richtlinien schaffen müssen. Ich glaubte - dies gebe ich zu -, man könnte ganz ohne Richtlinien auskommen. Ich habe mich diesbezüglich jedoch eines Besseren belehren lassen müssen.

Mir kommt es mit der Neufassung vor allen Dingen darauf an, aus erzieherischen Gründen den straffällig gewordenen Jugendlichen eindeutige Grenzen aufzuzeigen.

(Zustimmung bei der CDU und von Frau Röder, FDP)

Aus der Praxis - jetzt, Frau von Angern, müssen Sie einmal zuhören - wissen wir, dass sich zum Beispiel nicht selten jugendliche Täter, die straffällig geworden sind, die Wiederholungstäter geworden sind, vor Gericht auf - ich zitiere - „das Grundrecht auf Bewährung“ berufen oder auf eine Richtlinie, die es im Lande gäbe, nach der Jugendliche unter 16 Jahren nicht inhaftiert werden könnten. - Ein Leitender Oberstaatsanwalt hat mir berichtet - ich darf zitieren -:

„Unter den Jugendlichen hat sich die Meinung verfestigt, dass zunächst Ermittlungsverfahren mehrfach nach § 45 Abs. 1 JGG seitens der Staatsanwaltschaft eingestellt werden müssten, bevor überhaupt an eine Sanktion gedacht werden kann.“

Er fährt fort:

„Sie gehen weiterhin davon aus, dass erst bei mehrfacher staatsanwaltschaftlicher Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG bzw. § 47 JGG eine Inhaftierung - U-Haft, Jugendstrafe ohne Bewährung - in Betracht kommen könne.“

Ein Irrglaube, so schreibt der Leitende Oberstaatsanwalt weiter, der offensichtlich durch die bisherige Praxis gefördert wurde.

Genau diesem Irrglauben muss entgegengewirkt werden. Dazu hat meines Erachtens der Umstand beigetragen, dass die Einstellung des Verfahrens nach § 45

Abs. 1 JGG mehr und mehr die Oberhand gewonnen hat und die Einstellung nach § 45 Abs. 2 JGG ins Hintertreffen geraten ist.

Im Klartext heißt das für diejenigen, die mit diesen Paragrafen nichts anzufangen wissen: Die Einstellung erfolgt nach schriftlicher Ermahnung, quasi mit einem blauen Brief, ohne dass es zu einem Erziehungsgespräch kommt. Diesbezüglich - das sage ich ganz offen - habe ich eine andere Vorstellung; denn man muss natürlich dem Jugendlichen mittels des Staatsanwalts vor Augen führen, was es für eine Konsequenz haben kann, wenn er sich jetzt nicht zur Umkehr entscheidet.

Insoweit haben Sie völlig Recht, wenn Sie ausführen - auch das unterstreiche ich -, dass bis zu 90 % der jugendlichen Straftäter einfache Gelegenheits- und Konflikttäter sind, die einfach einmal mitmachen, die einfach einmal eine Gelegenheit ausnutzen. Dass die Anzahl der Entwicklungstäter sich um die 10 % oder darunter bewegt, wissen wir.

Aber man muss natürlich, um kriminelle Karrieren zu vermeiden, diesen jungen Menschen die Tragweite ihres Verhaltens bewusst machen. Dies ist nicht nur mit einem blauen Brief getan, den man dann zu den Akten legt - wir wissen ja, wie junge Leute gerade mit amtlichen Schreiben umzugehen pflegen -, sondern es muss im Regelfall ein Erziehungsgespräch stattfinden. Davon gehen wir aus.

(Beifall bei der CDU - Zustimmung bei der FDP und von Minister Herrn Dr. Daehre)

Die schriftliche Ermahnung hinterlässt wenig Spuren. Sie ist im Regelfall, wage ich zu behaupten, in den Wind geschrieben.

Was kritisiere ich vor allen Dingen noch an diesen Richtlinien? - Im Abschnitt 2 Nr. 4 a ist festgelegt, dass ein Staatsanwalt, wenn er Anklage erhebt, begründen muss, warum er von den Diversionsrichtlinien keinen Gebrauch macht. Es muss umgekehrt sein: Wenn er von der Anklage und damit von der Strafe Abstand nehmen will, dann muss er begründen, warum er in die Diversion hineingeht. Das ist das Entscheidende, und das werden wir auch zu ändern wissen.

Es besteht im Übrigen - das ist ein weiterer Kritikpunkt an diesen Richtlinien - der Verdacht, dass gewaltbereite Täter durch die Diversionsrichtlinien nicht herausgefiltert werden, sondern dass sie sich geradezu schützend in diesen Diversionsrichtlinien eingraben können. Genau das ist die Gefahr: Es macht doch keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn man jugendlichen Tätern, und seien sie erst 15 Jahre alt, zum Beispiel nachdem drei junge Burschen einen vierten unter Gewaltandrohung gezwungen haben, irgendeinen Gegenstand oder ein Kleidungsstück herauszugeben, nur den blauen Brief schickt und sagt: Du, du, du, beim nächsten Mal kann dir etwas passieren.

Meine Damen und Herren! Ich habe eine andere Vorstellung von Jugenderziehung. Ich meine, es ist wichtig, dass den Jugendlichen ganz klar die Grenzen aufgezeigt werden

(Zustimmung bei der CDU, von Frau Röder, FDP, und von Minister Herrn Dr. Daehre)

und dass man nicht irgendwo ein Phantom einer künftigen Bestrafung in den Himmel schreibt. Ähnliches gilt übrigens auch für Mehrfachtäter.

Ich meine, wir haben Grund genug, auf die Diversionsrichtlinien einzugehen und diese dort, wo sie nicht gewirkt haben, aufzuheben und neue zu schaffen. Nicht mehr ist mein Ziel. Und dafür, meine Damen und Herren, bin ich sehr gern bereit Kritik einzustecken, weil ich glaube, dass wir uns in diesem Bereich auf dem richtigen Weg befinden.

Im Hinblick auf die Anträge meine ich, dass wir keine Anhörung im Ausschuss brauchen. Ich bin aber jederzeit bereit, darüber im Ausschuss zu berichten, wie wir uns die Änderungen vorstellen und wann wir sie vornehmen werden. Das können wir bereits in der nächsten Ausschusssitzung tun.

Ich meine, dass uns eine Anhörung nicht weiterbringt; denn die Probleme; die sich seit dem Jahr 1997 aufgebaut haben, kennen wir zur Genüge. Das wissen wir. Deshalb werden wir sie in die neuen Richtlinien mit hineinnehmen und zu berücksichtigen wissen. - Ich danke Ihnen.

(Zustimmung bei der CDU)

Herr Minister Becker, möchten Sie eine Frage des Abgeordneten Herrn Dr. Püchel beantworten?

Jawohl.

Bitte schön.

Herr Minister, kann ich Ihren Worten entnehmen, dass Sie seit dem uns alle so aufwühlenden Interview im Juni einen Erkenntnisprozess durchgemacht haben?

Nein, den habe ich nicht durchgemacht. Ich habe dieselbe Erkenntnis wie damals. Ich habe gesagt, die Richtlinien werden aufgehoben.

Das klang eben etwas anders. Aufheben wollen Sie sie schon. Aber ich habe Ihren Worten entnommen - das hat mir sehr gefallen -, dass Sie die Richtlinien weiterentwickeln wollen.

(Zustimmung von Frau von Angern, PDS)

Ich hebe die Richtlinien auf und wir schaffen neue Richtlinien. Nun können Sie das philologisch interpretieren wie Sie wollen, Herr Püchel. Aber Sie wissen, es besteht schon ein Unterschied zwischen Aufheben, Weiterentwickeln und Neuschaffen. Aber ich habe gleichzeitig auch gesagt: Auf Bewährtem werden wir natürlich aufbauen.

(Herr Dr. Püchel, SPD: Wunderbar! Jeder Mensch ist lernfähig!)