Protokoll der Sitzung vom 11.11.2005

Menschen handeln in der Regel rational, wägen ihre Vor- und Nachteile ab. Ganze Berufsgruppen leben davon, gesetzliche Möglichkeiten randvoll auszuschöpfen. Ich würde Ihnen vorschlagen: Lassen Sie die Kirche an dieser Stelle im Dorf und lassen Sie uns wieder auf das Wesentliche kommen.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Lassen Sie uns ein solches Stammtischniveau der Debatte zurückweisen. Ich fände es auch gut, wenn die SPD-Fraktion ihrem Wirtschaftsminister gegenüber diese Größe aufbrächte.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Wesentlich ist, meine Damen und Herren: Das Institut für Arbeits- und Berufsforschung hat in einer Studie die Daten der ehemaligen Arbeitslosenhilfeempfänger untersucht. Das sind ungefähr 83 % der jetzt Betroffenen. Von diesen 83 % sind es 65 %, die zu den Verlierern gehören, im Osten, wohlgemerkt. Es sind bundesweit 65 %, die im Durchschnitt mit 20 % Einkommenseinbußen rechnen müssen.

Die restlichen 35 % - so viel zum Thema Kostenaufwuchs; das hat das IAB festgestellt - gehören zu denjenigen, die höchstwahrscheinlich Einkommen bezogen haben, die unterhalb des Sozialhilfesatzes lagen, die also genau genommen ein Recht hatten und dieses nicht in Anspruch genommen haben, das aber jetzt tun. Das ist mit Sicherheit auch ein wesentlicher Faktor dafür, dass die Kosten angestiegen sind.

Das EU-definierte Existenzminimum liegt bei 942 € pro Mensch. Das macht eine Tendenz deutlich. Auch aus der besagten IAB-Studie geht hervor, dass es 942 € monatlich sind, die eine Bedarfsgemeinschaft zur Verfügung hat. Es mag sein, Herr Scharf, dass Sie nicht in das Mitzeichnungsverfahren der EU-Kommission eingebunden sind.

(Herr Scharf, CDU: Noch nicht!)

Ich finde es auch bedauerlich, dass Sie nicht gefragt haben, was die EU unter Armut versteht. Dass Sie darüber auch sauer sind, das kann ich alles gut verstehen.

Angesichts der heute von Ihnen abgegebenen, wie ich finde, wenig qualifizierten Bewertung dessen, was hoch dotierte Sozialforscher im Rahmen der Bundesberichterstattung geleistet haben, weiß ich gar nicht, ob ich darüber so doll traurig wäre.

(Herr Gürth, CDU: Ich fand, das war das Qualifi- zierteste, was ich zu dem Thema je gehört habe! - Zuruf von Herrn Tullner, CDU)

Meine Damen und Herren! Es wird eine Tendenz deutlich. Man kann sich trefflich über die Armutsquote streiten, man kann sich trefflich über die Zahl streiten, die nun die Grenze sein soll, aber eines wird dennoch deutlich, auch wenn man die Zahlen nicht liebt: Die Zahl der Haushalte, die sich an der Schwelle befinden, hat in den letzten zwei Jahren drastisch zugenommen.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

14,4 % der Wohnbevölkerung in Sachsen-Anhalt sind von Hartz IV betroffen, bei den Kindern und Jugendlichen sind es 26,7 %.

Der Armutsbericht der Bundesregierung - ich habe es vorhin in meiner Anfrage bereits erwähnt - setzt die bundesweite Armutsquote auf 13,5 % - also ein bundesweiter Zuwachs von reichlich einem Prozentpunkt - herauf. Bei den bis 15-Jährigen beträgt der Zuwachs ebenfalls etwa einen Prozentpunkt, bei den 16- bis 24-Jährigen 4 Prozentpunkte. Schaut man sich die neuen Länder an, dann liegen wir mit 19,3 % satte 5 Prozentpunkte über der Quote der alten Länder.

Betroffene bis 15 Jahre liegen mit 22,5 % Anteil an der Armutsquote um 8,7 Prozentpunkte höher als in den alten Bundesländern. Bei den 16- bis 24-Jährigen liegt der Anteil immer noch 4,3 Prozentpunkte höher, nämlich bei 22,4 %. Wenn man davon ausgeht - das will ich an dieser Stelle polemisch sagen -, dass die 20 % sehr hoch angesetzter Missbrauch im Sozialhilfebereich ein Massenphänomen sind, wer will dann noch in Abrede stellen, dass Armut in diesem Land bereits ein Massenphänomen ist?

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Meine Damen und Herren! Die Diagnose ist eindeutig: Armut wird zu einem zentralen Problem, mit dem wir uns auseinander zu setzen haben. Dazu will ich klar sagen: Das Problem ist nicht eine Episode im Leben, in der man einmal mit relativ wenig Geld auskommen muss. Eine solche Episode wird man nie verhindern können. Das stärkt unter anderem - so weit würde ich auch gehen - soziale Kompetenzen. Das ist gar nicht die Frage.

Das Problem ist die chronifizierte Armut. Heute früh in der Aktuellen Debatte wurde es schon gesagt: Die vererbte, soziologisch von einer Generation zur anderen Generation vererbte Armut, das ist das Problem, meine Damen und Herren, weil damit hochproblematische Kreisläufe in Gang gesetzt werden. Damit ist die ganze Debatte um den Missbrauch so weit am Leben und so weit am wirklichen Problem vorbei, dass es den Hund samt Hütte jammert.

(Zustimmung von Frau Dirlich, Linkspartei.PDS)

Ein parteiübergreifendes Trostpflaster im Wahlkampf war, die Regelsätze Ost an das Niveau West anzugleichen. Darin waren sich alle Volksparteien einig, wenn ich es recht in Erinnerung habe. Ich muss sagen, zwischenzeitlich habe ich gedacht, es ist in Ordnung. Die Meldungen waren so, dass man tatsächlich davon ausgehen konnte, dass diese Wahlversprechen eingehalten werden. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, dass der Punkt 1 und der Punkt 2 unseres Antrages obsolet geworden sind. Gestern, als die Änderungsanträge eingingen, habe ich gedacht: Aha, ertappt, meine Damen und Herren!

Jetzt gibt es eine ganz andere Wende. Es gibt ein paar ganz Schlaue, die halten die Kürzung der Regelsätze auf Ostniveau für eine hochinnovative Angelegenheit,

darunter, wenn mich nicht alles täuscht, der Staatssekretär Haseloff. Der will auch nicht in den Westen gewählt werden. Meine Damen und Herren! Das ist außerordentlich mutig, die Ossis gegen die Wessis, und zwar unterste Schublade.

Man muss sich fragen, hatten Sie den Eindruck - all diejenigen, die jetzt über die Höhe der Regelsätze diskutieren und die unterschiedlichsten und innovativen Vorschläge machen -, dass die Festsetzung der Regelsätze eine politische Größe war? Ich will zugeben, dass ich diesen Eindruck mitunter auch hatte. Man hatte schon mitunter das Gefühl, dass die Steuerersparnis der Bundesregierung irgendwie refinanziert werden musste - gar keine Frage.

Diese Systematik kann man kritisieren, und trotzdem ist es eine. Das ist nämlich auf der Basis der Einkommens- und Verbraucherstatistik erstellt worden. Die ist zugegebenermaßen alt. Die ist nämlich schon sieben Jahre alt. Aber jetzt zu sagen, wir machen mal diesen Vorschlag, wir machen mal jenen Vorschlag, dann treffen wir uns in der Mitte und dann sagen wir, die Wessis sollen sich an die Ossis anpassen - - Meine Damen und Herren! Das macht den Eindruck, als hätte sich Politik auch vorher keine Platte darüber gemacht, wie Arbeitslosengeld-IIEmpfänger mit ihrem monatlichen Einkommen auskommen sollen.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Ich habe der Presse entnommen, dass sogar das Fraunhofer-Institut diagnostiziert hat, dass die Sozialhilfeempfänger seit den 90er-Jahren - damals waren es noch Sozialhilfeempfänger und Sozialhilfeempfängerinnen - mit 20 % Einkommenseinbußen leben mussten. Wenn man sich überlegt, dass selbst die Berechnung aus dem Jahr 1998 aus meiner Sicht eine hochproblematische war, das bereits sieben Jahre her ist und wir alle miteinander die Preissteigerungen kennen, dann ist das keine verwunderliche Diagnose. Um diese Entwicklung zu stoppen, fordern wir statt der Kopplung an die Rente die Kopplung an den Inflationsausgleich.

Ein zweiter Punkt, meine Damen und Herren. Nicht zu vergessen war die Reform der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, das Herzstück der Gemeindefinanzreform. Sie sollte wieder Spielraum für die Kommunen bringen. Gesetzlich verbrieft waren 2,5 Milliarden € Einsparungen. Die Spielregeln für die nun anstehende Revision sind im Gesetz festgeschrieben.

Das Problem ist bloß, sie sind kaum praktikabel, weil ein seriöser Vergleichsfaktor fehlt. Der Vergleichsfaktor sollte sein: Was hätten die Kommunen ausgegeben, wenn das BSHG weiter die Grundlage gewesen wäre? Es ist also ein fiktiver Vergleich, wofür kaum Berechnungen zugrunde liegen, was kaum jemand ermessen kann, was also sehr nahe an den Bereich der Spekulation kommt.

2,5 Milliarden €, die Einsparungen für die Kommunen sein sollen, die sich nun auch in den Änderungsanträgen von CDU und FDP wiederfinden - - Meine Damen und Herren, das müssen wir hier nicht beschließen. Das steht im Gesetz. Das ist auch nicht der Dissens, sondern die Frage, welche Berechnungen nehme ich als Grundlage, damit diese 2,5 Milliarden € unter dem Strich für die Kommunen herausspringen. Da, denke ich, ist es ganz klar eine Milchbubenrechnung zu sagen, Bundesanteil auf null und Rückzahlungen fordern.

(Herr Gürth, CDU: Milchmädchen!)

- Da sind Sie nicht auf dem neuesten Stand, Herr Gürth.

(Herr Gürth, CDU: Nein, das sind die Mädchen gewesen!)

Wir erheben also, wie Sie gut lesen können, nicht die Forderung der kommunalen Spitzenverbände, jetzt gleich bei 34 % oder 34,4 % anzulangen. Ich denke bzw. wir denken, dass diese Verhandlungen im Moment tatsächlich nicht mehr aufgrund von Berechnungen geführt werden können. Das muss vielmehr politisch ausgehandelt werden.

Fakt ist, dass sich der Bund angesichts der derzeitigen finanziellen Belastung der Kommunen mit Sicherheit nicht unter 29 % zurückziehen kann, um wenigstens die 2,5 Milliarden € zu garantieren.

(Zustimmung bei der Linkspartei.PDS)

Unsere Forderung heißt demnach: Rückforderungen kann es nicht geben. Das können die Kommunen gar nicht leisten. Da können die Kommunen zumachen, die meisten jedenfalls. Auch der Bundesanteil kann nicht zurückgefahren werden. - In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung für unseren Antrag.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Vielen Dank, Frau Bull. - Bevor die Fraktionen in die Debatte einsteigen, erteile ich Herrn Minister Dr. Rehberger das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das Thema ALG II ist heute im Rahmen der Aktuellen Debatte zu dem Stichwort „soziale Polarisierung“ schon in vielfältiger Weise angesprochen worden. Deswegen möchte ich mich an dieser Stelle auf drei Bemerkungen beschränken.

Punkt 1. Ich schätze den Kollegen Clement sehr. In aller Regel war es, etwa im Kreis der Wirtschaftsminister des Bundes und der Länder, unabhängig von der politischen Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei fast immer möglich, auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen. Aber das, was Herr Clement im Zusammenhang mit den 6 Milliarden € zusätzlichen Ausgaben im ALG-IIBereich erklärt hat, kann ich nicht nachvollziehen.

Meine Damen und Herren! Wer von gesetzlich eingeräumten Möglichkeiten Gebrauch macht, der verhält sich legal; das ist erlaubt. Wenn es nicht erlaubt sein soll, dann muss man die Gesetze anders machen. Ich finde es nicht in Ordnung, dass man auf diejenigen schimpft, die die vielleicht nicht beabsichtigten, aber vom Gesetz eingeräumten Wohltaten nutzen.

Nebenbei gesagt: Das ist ja nicht nur ein Thema einer bestimmten Schicht. Steuerliche Abschreibungsmöglichkeiten für Windkraftanlagen - wir werden nachher darüber reden - werden auch in höchstmöglichem Umfang zulässigerweise in Anspruch genommen. Warum auch nicht, wenn man es darf.

Kurz und gut: Wer der Meinung ist, dass bestimmte Verhaltensweisen den Staat nicht belasten sollten, der muss eben die Gesetze so formulieren, dass das nicht möglich ist. Deswegen ist, wie gesagt, diese Missbrauchsdebatte verfehlt.

Ich gehe davon aus, dass die neue Bundesregierung das, was an Novellierungen notwendig ist, durchführen wird und damit das korrigiert, was die alte Regierung offensichtlich nicht ganz richtig gemacht hat.

Zweite Bemerkung: Angleichung des Regelsatzes. Ich halte den Ansatz, dass man in Ost und West in diesem Bereich gleiche Regelsätze haben sollte, für richtig. Ich gehe fest davon aus, dass das in diesen Tagen, vielleicht in diesen Stunden in Berlin abschließend geregelt wird. Ich höre, man hätte sich auf einen Regelsatz von 340 € geeinigt. Ich weiß nicht, ob das tatsächlich zutrifft. Wir werden es morgen oder übermorgen sicherlich über die Medien hören.

Wie auch immer, ich bin schon der Auffassung, dass die Anpassung bundesweit erfolgen sollte, wobei 340 € bedeuten würden, dass man im Westen leicht absenkt und im Osten anhebt. Offenbar ist man unter dem Aspekt der Ausgabenneutralität eben auf die 340 € gekommen.

Dazu möchte ich der Kollegin Bull sagen: So nett es immer ist, wenn Sie hier sprechen und viel mehr fordern, Geld kann man nur ausgeben, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn es irgendwo eingenommen worden ist. Seit Jahren - das ist ja nun bekannt - werden in der Bundesrepublik wesentlich mehr Ausgaben getätigt, als Einnahmen zur Verfügung stehen. Dass das so nicht weitergehen kann, weil es nämlich letztlich zulasten späterer Generationen gehen wird, ist, glaube ich, von den allermeisten akzeptiert.

Kurz und gut: Auch wenn ich einer Partei angehöre, die die künftige Bundesregierung nicht mittragen wird, halte ich es für richtig und unterstützenswert, wenn man dort Dinge macht, die die Einnahmen und Ausgaben wieder ins Lot bringen.

In diesem Zusammenhang bin ich in der Tat der Meinung, dass ein mittlerer Satz durchaus ein vertretbarer Weg ist, vorausgesetzt, meine Damen und Herren, dass man nicht auf der anderen Seite durch solche Maßnahmen wieder gezwungen ist, Steuern stark anzuheben. Ich habe bald das Gefühl, dass genau dieses droht. Insofern ist es dann eine wenig überzeugende Lösung.

Dritter Punkt. Frau Bull hat es mit Recht gesagt: Die Hartz-IV-Reformen sind insbesondere auch unter dem Motto präsentiert worden: Die kommunalen Gebietskörperschaften in Deutschland werden um ca. 2,5 Milliarden € pro Jahr entlastet. Wir haben inzwischen aus Sachsen-Anhalt und auch bundesweit Zahlen und Daten, die deutlich machen, dass diese Entlastung nicht annähernd erreicht worden ist. Wenn überhaupt eine Entlastung eingetreten ist, dann ist sie relativ überschaubar.