Die soeben geführte Debatte hat bereits einen wichtigen Aspekt des nun auf der Tagesordnung stehenden The
mas angerissen. Anders als in der medialen Widerspiegelung stellt sich für uns die Frage nach der sozialen Polarisierung in der Bundesrepublik und insbesondere in unserem Land sowohl vor dem Hintergrund der Koalitionsverhandlungen in Berlin als auch vor den aktuellen Ereignissen in Frankreich.
Ich habe mich wiederum in den letzten Tagen am meisten über die Fragestellung gewundert, was diese beiden Dinge miteinander zu tun hätten. Die einen haben ihre Probleme in Frankreich und wir haben unsere Probleme in Berlin. Aber wenn wir aufgeklärte EU-Bürger uns die Situation innerhalb der Europäischen Gemeinschaft anschauen, dann müssen wir sehr wohl Verbindungen sehen, und die werde ich hier auch herstellen.
Innerhalb der Bundesrepublik haben wir es bei der Reaktion auf die Ereignisse in Frankreich meist mit solchen Erklärungsmustern zu tun wie: Das kann bei uns hier nicht passieren; wir haben nicht dieses Migrationsproblem. Oder Äußerungen wie zum Beispiel von Herrn Schäuble: Das kann bei uns nicht passieren; bei uns ist die Polizei besser, sie würde es in den Griff kriegen.
Oder eine weitere Alternative, die zurzeit diskutiert wird, gibt es seit vorgestern. Professor Simon von der hiesigen Fachhochschule sagte in einem Interview, die Dinge würden bei uns nicht so passieren, weil sich traditionell solche Gewaltexzesse nicht gegen den Staat oder die da oben richten würden, sondern gegen andere benachteiligte Gruppen in unserer Bundesrepublik. - Da haben wir in Sachsen-Anhalt tatsächlich schon erschreckende Beispiele erlebt.
All diese Bewertungen gehen jedoch am Kern der Dinge vorbei, die wir zurzeit teilweise wohl fassungslos am Fernseher beobachten müssen. Die Ereignisse in Frankreich sind eben nicht in erster Linie ein Problem der inneren Sicherheit, sondern sie sind Ausdruck sozialer Verwerfungen, Polarisierungen und Spannungen, die sich in den letzten Jahren in bisher unbekannter Weise innerhalb der vermeintlichen Wohlfahrtsländer aufgebaut haben und immer mehr aufbauen.
Die fast beschwörenden Formeln, man solle eine solche Situation bei uns nicht herbeireden, helfen an dieser Stelle wenig. Das französische Problem besteht nämlich darin, dass man genau an der Stelle, an der man solche Entwicklungen hätte verhindern können, es nicht getan hat. Das, was wir dort erleben, ist der Ausbruch eines extremen Gewaltpotenzials, der sich deswegen entwickelt, weil wir uns in Frankreich in vielen Regionen hinter dem so genannten Point of no Return befinden.
Die Entwicklungen, die dort zum Ausdruck gebracht werden, die dort explodieren, hätte man noch vor Jahren verhindern können. Jetzt übt sich dort der Staat in martialischen Gesten und will die harte Hand ausführen. Klar, damit kann man möglicherweise die Gewaltexzesse in den nächsten Tagen beseitigen; die sozialen Problemlagen, die dahinter stehen, wird man so nicht in den Griff bekommen.
Das Bedenkliche an unserer heutigen Situation ist, das eine Reihe von Indikatoren für eine solche soziale Polarisierung auch bei uns in eine ähnliche Richtung zeigen. Natürlich wissen wir: In Sachsen-Anhalt gibt es nicht dieses Migrationsproblem. Wir haben es allerdings deshalb nicht, weil wir einfach keine Einwanderung in die
sem Land haben, was wiederum zur Verschärfung der sozialen Problemlage in Zukunft beitragen wird, weil wir ganz einfach dadurch die demografischen Probleme in unserem Lande verschärfen. Aber wir haben natürlich nicht solche großen und betroffenen Migrationsgruppen.
Es gibt eine Ausnahme, die sich langsam entwickelt, aber bei weitem nicht die französische Dimension erreicht. Das ist die Gruppe von deutschstämmigen Auswanderern aus Osteuropa, bei denen sich in kleinen Nuancen solche Wechselbeziehungen zwischen Isolation und Selbstisolation herausbilden. Aber, wie gesagt, das ist nichts, was sich auch nur annährend mit den französischen Problemen deckt.
Wir haben aber trotzdem sehr gefährliche Prozesse in unserem Land, und zwar deswegen, weil eine immer größer werdende Gruppe von Menschen seit zehn oder 15 Jahren entweder vollständig aus dem Erwerbsleben ausgeschlossen worden ist oder nur sehr stark unterbrochene Erwerbsbiografien hat. Sie werden aufgrund ihrer sozialen Situation immer stärker von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgeschlossen und - so ehrlich muss man auch sein - viele von ihnen sehen in dieser Gesellschaft keine Perspektive mehr und sie versuchen auch gar nicht mehr, sie zu erringen. Dazu haben sie in den letzten Jahren viel zu viele Misserfolge erleiden müssen.
Wir haben es also in Sachsen-Anhalt damit zu tun, dass sich diese Situation langsam in einer sozial manifesten Gruppe ausdrückt. Wir haben es langsam mit einer sozialen Verfestigung dieser Gruppe zu tun.
Und wir haben es mit einer zweiten großen Risikogruppe in Sachsen-Anhalt zu tun, die dadurch charakterisiert wird, dass ehemals existenzsichernde Beschäftigungsverhältnisse in prekäre Arbeitsverhältnisse umgewandelt werden. Ehemals Festangestellte müssen jetzt mit Mini- und Midijobs, mit Zeitarbeitslohn, mit Scheinselbständigkeit versuchen, sich in irgendeiner Art und Weise über Wasser zu halten. Sie leben in einer permanenten Angst vor dem Abstieg in den Hartz-IV-Bereich.
Ich sage ausdrücklich: Wenn man eine Gesellschaft reformieren will - und das müssen wir -, ist Angst ein verdammt schlechter Ratgeber in dieser Gesellschaft. Wir werden diese Reform nicht schaffen, wenn wir diese Angst nicht beseitigen können.
Eines der alarmierendsten Signale ist jedoch die in verschiedenen Studien schon vielfach belegte beginnende Vererbung prekärer sozialer Verhältnisse. Das war gerade Thema. Dazu gehören sowohl die eben diskutierten Zusammenhänge zwischen bildungsfernen Elternhäusern und schwächeren schulischen Leistungen als auch die Ergebnisse von Gesundheitsstudien.
Die erst kürzlich veröffentlichte Studie zum Gesundheitszustand von Kindern im Einschulungsalter in Magdeburg belegt einen unleugbaren Zusammenhang: Kinder von arbeitslosen Eltern haben schlechtere Zähne, ein schlechteres Sprachvermögen und mehr motorische Defizite.
Meine Damen und Herren! Auch bei uns beginnt die Armut, sich zu vererben. Dabei ist es aus der Sicht der Kinder völlig egal, ob daran der Staat oder die Eltern schuld sind.
Das ist aus der Sicht der Kinder völlig egal. Sie sind die Betroffenen. Wir können uns hier nicht hinstellen und schulterzuckend sagen: Darum hätten sich die Eltern kümmern müssen.
Was machen wir denn aber, wenn sie es aus welchen Gründen auch immer nicht tun? Können wir dann zugucken und sagen, das sei doch deren Schuld?
(Frau Feußner, CDU: Aber Sie beleidigen dieje- nigen, die es tun! Sie beleidigen sie, weil Sie alle über einen Kamm scheren! - Frau Bull, Linkspar- tei.PDS: Das stimmt doch nicht! Das sind öffentli- che Studien! Die belegen das!)
- Lesen Sie doch die Studien erst einmal. Ich weiß doch ganz genau, dass es viele Eltern in diesem Bereich gibt, die alles daransetzen, die zum Teil selbst auf das Lebensnotwendigste verzichten, um ihren Kindern überhaupt noch eine Chance zu geben. Das wissen wir doch alles.
Wir wissen aber auch, dass das nicht überall so ist. Wir wissen auch, dass selbst diejenigen Eltern, die das machen, nämlich zum Teil wirklich auf das Wichtigste, auf das Lebensnotwendigste verzichten, trotzdem nicht in der Lage sind, ihren Kindern die gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen, die sie für eine optimale Entwicklung brauchten.
Ich sage deswegen ausdrücklich vor dem Hintergrund der Koalitionsverhandlungen in Berlin: Wir befinden uns in einer ausgesprochen schwierigen Situation. Langsam beginnt sich das von Herrn Koch angekündigte Heulen und Zähneklappern zu konkretisieren. Das große Problem in der Bundesrepublik ist nur, dass diejenigen, die das am nötigsten haben, am wenigsten die Chance haben, sich gesellschaftlich zu artikulieren.
Wenn wir heute hören, dass im Bereich des Arbeitslosengeldes II 4 Milliarden € eingespart werden sollen, dass die Absenkung der Beiträge zur Arbeitslosenversicherung durch Einsparungen bei der Bundesanstalt für Arbeit aufgebracht werden soll, so wissen wir, dass es wieder genau diesen Personenkreis trifft. Wir wissen das und sehen zu. Auch wir wissen, dass die realen Kosten für das ALG II die Finanzplanungen faktisch weggesprengt haben. Das ist alles klar. Aber, liebe Kollegen, die Ursache dafür ist nicht Missbrauch, sondern Armut in diesem Land.
Wenn wir vor diesem Hintergrund sowohl bei den Lebenshaltungskosten als auch bei den Arbeitsmarktmaßnahmen sparen, beschleunigen wir die soziale Entwicklungen, die wir verhindern müssen. Darüber hinaus haben wir es mit der Situation zu tun, dass die Lockerung des Kündigungsschutzes einer weitgehenden Außerkraftsetzung gleichkommt. Die Angst, demnächst ebenfalls in Hartz IV abzusteigen, wird selbst bei denjenigen, die noch in Arbeit sind, erhöht.
Ich habe vorhin Professor Simon von der Fachhochschule zitiert. Ich glaube, das ist eines der großen sozialen Sprengfelder, die wir uns in Zukunft antun. Denn wir haben genau zwei Gruppen, die beide sozial an den Rand gedrängt werden, die sich aber nach den Erfahrungen vor dem deutschen Hintergrund die Auseinandersetzung sicherlich eher untereinander liefern werden.
Darüber hinaus werden wir es in den folgenden Jahren auch im Osten verstärkt mit dem Problem der Altersarmut zu tun haben. Verstehen Sie mich nicht falsch: Die jetzige Rentnergeneration in Sachsen-Anhalt ist zum großen Teil sehr einkommensstabil. Wenn man es in Relation zu den Arbeitseinkommen, die bei uns erzielt werden, setzt, sind sie sogar relativ einkommensstark.
Dies wird sich aber jetzt und in den nächsten Jahren immer mehr ändern, weil immer mehr Menschen in das Rentenalter kommen, die in den letzten zehn bis 15 Jahren eine stark unterbrochene Erwerbsbiografie aufweisen. Sie gehen mit sehr, sehr viel weniger Ansprüchen in die Rente, oft auch mit Abschlägen, beispielsweise wegen des Vorruhestandes.
Jetzt wird angekündigt: Passt auf, Leute, die Renten werden in den nächsten Jahren nicht steigen. Das bedeutet, dass sie zwar nominal gleich bleiben, real aber sinken werden; denn wir werden eine Inflation haben. Wenn wir das wirklich so realisieren, bekommen wir mit der Altersarmut ein Problem im Osten, das wir überhaupt noch nicht kennen.
- Ganz einfach deswegen, weil wir es mit einer neuen Rentnergeneration zu tun haben werden, die eben nicht relativ gut abgesichert ist, so wie es jetzt diejenigen sind, die wir kennen. Diese Dinge werden noch dazukommen.
Eine ähnliche Wirkung werden die beabsichtigten Änderungen im Steuergesetz erzielen. Dabei rede ich nicht über die so genannte Reichensteuer, die in ihrer Substanz wirklich eher eine PR-Aktion darstellt, zwar eine nette, aber sie bleibt es trotzdem. Die Anhebung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte stellt eine substanzielle Belastung, vor allem niedriger Einkommensgruppen, dar.
Wenn wir heute noch darüber abstimmen, ob das ALG II im Osten um 14 € erhöht wird, so muss man berücksichtigen, dass bei einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte davon sofort wieder 10 € weg sind. Gerade dort trifft diese Geschichte besonders zu.
Das Fatale an dieser Entwicklung ist, dass mit dieser Mehrwertsteuererhöhung nunmehr die Haushaltslöcher gestopft werden sollen, die vorher durch die gewaltige Reduzierung im Gewinn-, Kapital- und Einkommensteuerbereich entstanden sind. Im Endeffekt haben wir es mit einer Verschiebung von progressiven Steuern hin zu linearen Steuern zu tun.
Im Enddefekt haben wir es damit zu tun, dass eigentlich jetzt genau das gemacht wird, was die SPD noch im Wahlkampf hart bekämpft hat, nämlich das Umsteuern zum Kirchhof’schen Flatrate-Modell. Denn die Mehrwertsteuer ist eine lineare Steuer. Das, was vorher gesenkt worden ist, waren die progressiven Steuern.
Das ist übrigens ein typisch liberales Finanzierungsmodell. Die FDP hat auf die Finanzpolitik der letzten und wahrscheinlich auch der kommenden Jahre einen ungeheuren Einfluss, obwohl sie nie an der Bundesregierung beteiligt gewesen ist. Aber dazu, liebe Kollegen von der FPD, kann man Ihnen wirklich gratulieren.
Jawohl. - Die Alternativen dazu sind im Wahlkampf im Kontext der „Heuschreckendebatte“ nicht nur von uns, sondern auch von der SPD diskutiert worden, nämlich die reale Erhöhung der Steuereinnahmen aus Gewinnen, Kapital, Vermögen, Erbschaft und die Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
Einen einzigen Satz noch zur Landespolitik. Wir haben sonst mehr Zeit, darüber zu diskutieren. Natürlich gehören die Frage der sozialen Benachteiligung gerade im Kindergartenbereich und die Frage der Schulsozialarbeit zu den wichtigsten Fragen, die wir uns stellen müssen, wenn wir verhindern wollen, dass sich die sozialen Prozesse vererben und dass wir in zehn bis 15 Jahren bei uns vielleicht eine ähnliche Situation bekommen, wie sie uns in den französischen Vorstädten vorgeführt wird. - Danke.
Danke, Herr Gallert. - Seitens der Landesregierung hat der Ministerpräsident um das Wort gebeten. Doch zuvor möchte ich Schülerinnen und Schüler der Fachschule für Agrarwirtschaft Haldensleben bei uns begrüßen. Seien Sie herzlich willkommen!