Protokoll der Sitzung vom 17.02.2006

Dies haben viele Menschen in vielen Ländern Europas auch so gesehen. 30 000 Gewerkschafter aus mehreren Ländern der EU haben am Dienstag in Straßburg genau dafür demonstriert, wie schon zuvor am Samstag in Berlin 40 000 Menschen gegen den ursprünglichen Entwurf demonstrierten.

Wir erlebten in den letzten Tagen und Wochen eine regelrechte Politisierung in Europa durch dieses Thema. Die zahllosen Proteste, Kritiken und Bedenken zu dem Richtlinienentwurf haben maßgeblich dazu beigetragen, dass zwischen Christdemokraten und Sozialisten ein Kompromiss gefunden wurde, in dem das ursprüngliche Herkunftslandprinzip nicht mehr enthalten ist.

Wenn die Richtlinie in dieser Form endgültig beschlossen werden sollte, wäre das Ziel erreicht, die notwendige Freizügigkeit in der EU zu sichern und gleichzeitig die Rechte der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zu wahren sowie die Qualität und die Umwelt zu schützen.

Meine Damen und Herren von der Linkspartei.PDS, Sie sprechen dabei von einem „faulen“ Kompromiss. Wir Sozialdemokraten sehen das vollkommen anders. Es ist mit diesem Kompromiss ein gutes Ergebnis erzielt worden, das natürlich noch den Praxistest zu bestehen hat.

Frau Dr. Klein, ich stimme mit Ihnen nicht überein. Auch die Gewerkschaften sind mit dem erreichten Kompromiss zufrieden. Ich habe Dienstagnacht in Vorbereitung auf diese Debatte Berichte aus Brüssel gesehen, bei denen Demonstranten von Journalisten befragt wurden. Alle Demonstranten, die befragt wurden, haben sich positiv geäußert.

Franz-Josef Möllenberg, der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten, zeigte sich am gleichen Abend mit diesem Ergebnis ebenfalls sehr zu

frieden. Auch der Europäische Gewerkschaftsbund unterstützt diesen Kompromiss. Eine einzige kritische Stimme war aber dabei und das war die von Herrn von Lambsdorff, FDP. Insofern befindet sich die linke und die rechte Seite des Parlaments in großer Übereinstimmung.

Meine Damen und Herren! Wenn ich richtig informiert bin, sind in dem Verfahren insgesamt 1 600 Änderungen beraten worden. Was das im Einzelnen alles beinhaltet, kann man heute noch gar nicht einschätzen. Entscheidend ist unter dem Strich, dass das Herkunftsland durch das Zielland ersetzt worden ist. Im Ergebnis soll jeder, der in seinem Heimatland dafür zugelassen ist, seine Dienste überall in der EU anbieten dürfen. Dabei soll die Erbringung von Dienstleistungen jedoch nicht nach den im Heimatland geltenden Regelungen erfolgen. Demnach würden nach wie vor die deutschen Standards für alle Anbieter auf dem deutschen Markt gelten. Die Ausübung wird gewährleistet, die Ausführung unterliegt den Regelungen des jeweiligen Landes. Man könnte es mit einem Beispiel sagen: Man kann mit einem deutschen Führerschein in England Motorrad fahren, darf aber natürlich nichts rechts fahren.

(Herr Scharf, CDU: Nicht lange!)

- Ja, richtig. Wir hatten gestern bereits in einem anderen Zusammenhang über Geisterfahrer gesprochen.

Wichtig ist auch, dass einige Bereiche wie Zeitarbeitsfirmen, Dienstleistungen von allgemeinem Interesse und Gesundheitsdienstleistungen aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie ausgenommen sind. Die Liste der Ausnahmen ist inzwischen relativ lang geworden.

Wenn man sich ernsthaft mit den ganzen Änderungen auseinander setzen will, müsste man diese in Ruhe durcharbeiten und nicht nur einzelne Punkte herauspicken, die falsch sind. Eine Aktuelle Debatte am heutigen Tage kann dem auf keinen Fall gerecht werden. Wir müssen aber aufpassen, meine Damen und Herren, dass wir mit solchen Diskussionen nicht noch mehr Schaden anrichten, als es schon geschehen ist. Ich habe gestern gelesen, dass mittlerweile zwei Drittel aller Deutschen befürchten, dass die EU ihre sozialen Standards ruinieren könnte.

(Zuruf von der Linkspartei.PDS: Das wird sie auch!)

Meine Damen und Herren! Gestern fand die Abstimmung im Europäischen Parlament statt. Jetzt geht der Entwurf der Richtlinien an die Kommission und den Ministerrat. Was durch die Mitgliedstaaten noch an Änderungen kommen könnte, lässt sich heute noch nicht abschätzen. Die neuen Mitgliedstaaten aus Osteuropa machen erneut einen Liberalisierungsdruck auf. Entscheidend wird dann die zweite Lesung im Parlament sein.

Ich hoffe sehr, dass der mühsam ausgehandelte gute Kompromiss Bestand haben wird und wir am Ende eine Dienstleistungsfreiheit mit klaren Regeln und weniger sinnlosen Barrieren haben werden. Was bei Waren und Kapital sehr gut funktioniert, muss auch bei Dienstleistungen funktionieren können. Ich gehe davon aus, dass dies auch gelingen wird.

Seien wir froh darüber, dass aus dem neoliberalen Entwurf doch noch ein vernünftiger Entwurf geworden ist, mit dem bürokratische Hemmnisse abgebaut werden und vor dem kein Arbeitnehmer in Europa Angst haben muss.

Meine Damen und Herren! Die SPD-Europaabgeordnete und für die Dienstleistungsrichtlinie zuständige Berichterstatterin Evelyne Gebhardt sagte gestern in Straßburg: Ich freue mich sehr darüber, dass wir eine Lösung gefunden haben, die die Öffnung des Dienstleistungsmarktes in Europa ermöglicht und gleichzeitig das europäische Sozialmodell bewahrt. - Dem ist nichts mehr hinzuzufügen. Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Danke sehr, Herr Dr. Püchel. - Für die FDP-Fraktion wird die Abgeordnete Frau Röder sprechen.

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Herr Dr. Püchel, ich bin begeistert, wie Sie es gerade geschafft haben, den Spagat zwischen dem Hochhalten der Grundfreiheit der europäischen Verträge und dem Loben dieses Minimalkompromisses, der gestern am Ende herausgekommen ist, zu machen.

Meine Damen und Herren! Das Hohe Haus befasst sich heute zum dritten Mal in dieser Legislaturperiode mit der EU-Dienstleistungsrichtlinie oder vielmehr mit dem, was jetzt noch davon übrig geblieben ist. Der ursprüngliche, sehr weitreichende und sicher in einige Punkten kritikwürdige Bolkestein-Entwurf wurde nach massiver öffentlicher Polemik und Protesten in mehreren EU-Staaten auf ein Minimum zurückgeführt. Diesen kleinen Rest, der übrig geblieben ist, darf man kaum noch mit dem Titel „Dienstleistungsfreiheit“ versehen. Er wird der im EGVertrag festgeschriebenen Dienstleistungsfreiheit kaum noch gerecht. Aus diesem Grund haben gestern im Europäischen Parlament die deutschen liberalen Abgeordneten dem Entwurf nicht zugestimmt.

Meine Damen und Herren! Schauen wir uns an, worum es im ursprünglichen Entwurf ging und was am Ende vom Tage übrig blieb. Geplant war, dass ein Dienstleister, der in einem EU-Staat zugelassen ist, auch in jedem anderen EU-Staat tätig sein kann, ohne weitere Genehmigungen einholen zu müssen und ohne weiter gehende Anforderungen erfüllen zu müssen.

Das war nun das große Schreckgespenst der europäischen Linken und leider haben sich auch Teile der europäischen Konservativen von dieser Hysterie anstecken lassen. Es wurde geschrieben, geredet und demonstriert gegen - ich zitiere - „... Fremdarbeiter, die ohne Ausbildung, ohne Sozial- und Umweltstandards die wehrlosen Großmütter in deutschen Pflegeheimen versorgen sollen“. Das klingt so, als ob wir hierbei von Dritte-WeltStaaten sprechen.

Inzwischen kann man überhaupt nicht mehr von einem Herkunftslandprinzip sprechen. Zwar wird garantiert, was ohnehin schon im EG-Vertrag festgeschrieben ist: Dienstleister sollen in der gesamten EU tätig werden können. Die Nationalstaaten dürfen sie nicht durch Anforderungen oder Vorschriften diskriminieren. Das ist das absolute Minimum, weniger geht nicht.

(Zuruf von Frau Dr. Klein, Linkspartei.PDS)

Trotzdem wird den Nationalstaaten die Möglichkeit gegeben, Umweltstandards, Sozialstandards usw. festzuschreiben. Zudem wurden von Sitzung zu Sitzung immer mehr Bereiche aus dem Anwendungsbereich der Richtlinie herausgenommen: Gesundheitsdienstleistun

gen, Daseinsvorsorge, audiovisuelle Dienste, Finanzdienstleistungen usw.

(Frau Dr. Klein, Linkspartei.PDS: Das ist doch nur ein Minimum, Frau Röder!)

- Frau Dr. Klein, das scheint zwar auf den ersten Blick alles sehr schön und bestechend zu sein, aber auf den zweiten Blick offenbart es doch ein tiefes Misstrauen gegen den Geist der europäischen Verträge und auch ein tiefes Misstrauen gegen die europäische Idee selbst.

(Zustimmung bei der FDP - Minister Herr Dr. Reh- berger: Richtig!)

Frau Dr. Klein, Ihr Redebeitrag hat mich in meiner Auffassung bestätigt, dass das insbesondere für die europäische Linke gilt. Sie wollen Marktprotektionismus, den es beim Warenverkehr nicht mehr gibt. Das ist x-mal ausgeurteilt worden. Sie wollen den Marktprotektionismus, den es nach dem Geist der EG-Verträge nicht geben kann. Sie wollen, dass Nationalstaaten weiterhin europäische Anbieter behindern können.

Frau Röder, gestatten Sie eine Zwischenfrage von Frau Dr. Klein?

Am Ende, bitte. - Ich sage Ihnen, dass Deutschland bisher einen sehr lockeren Marktzugang gestattet hat, während andere europäische Staaten zulasten deutscher Anbieter ihren Markt abgeschottet haben. Herr Dr. Püchel hat dazu einige Beispiele genannt; ich brauche deshalb kein weiteres Beispiel hinzuzufügen.

Der jetzige weichgespülte Entwurf wird nur schwerlich dazu beitragen können, deutschen und sachsen-anhaltinischen Unernehmen neue Märkte zu eröffnen.

Meine Damen und Herren! Verschiedene Gutachten von unterschiedlichen Wirtschaftsforschungsinstituten kommen relativ einheitlich zu dem Schluss, dass bei einer Umsetzung des Herkunftslandprinzips in Deutschland ca. 100 000 neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Zwar wäre zu erwarten, dass bei gering qualifizierten Tätigkeiten in Deutschland Arbeitsplätze verloren gehen würden; aber bei qualifizierten Tätigkeiten wie im Bereich der Umwelttechnik, im Bereich von Forschung und Entwicklung, bei Ingenieuren usw. würden zahlreiche neue Arbeitsplätze entstehen.

Das sind doch genau die Tätigkeitsbereiche, in denen wir neue Arbeitsplätze für unsere Menschen brauchen. Sie sprechen die ganze Zeit davon, dass wir qualifizierte Menschen in qualifizierten Berufen brauchen, die dann auch ordentliches Geld verdienen. Genau diesen Menschen wollen Sie in der Europäischen Union Marktchancen verschließen. Dafür habe ich überhaupt kein Verständnis.

(Zustimmung bei der FDP, bei der CDU und von Minister Herrn Dr. Rehberger)

Mit der Dienstleistungsrichtlinie hätte es die Möglichkeit gegeben, für deutsche Unternehmen neue qualifizierte Märkte zu öffnen und neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu schaffen. Ich hoffe wirklich, dass mit diesem Minimalkompromiss, der gefunden wurde, diese Chance nicht völlig vertan wurde. - Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. - Frau Dr. Klein, ich warte auf Ihre Frage.

Frau Röder, Sie dürfen mir glauben, ich habe die Änderungsanträge alle gelesen. Ich habe das nicht aus Pressemitteilungen oder Ähnlichem.

Ich habe aber eine Frage. Würden Sie eine Dienstleistung, die ein Klempner anbietet, und eine Dienstleistung, die ein Lehrer anbietet, in Ihren Regularien gleichsetzen?

(Herr Wolpert, FDP: Wir haben keine Standes- politik!)

Nein, Frau Dr. Klein, das würde ich nicht. Das ist aber auch - -

Das ist aber genau damit passiert. Es geht nicht um sektorale Regelungen, sondern es geht um horizontale Regelungen. Das ist das Grundproblem, das begriffen werden muss.

Ja, Frau Dr. Klein, aber die horizontale Regelung berührt andere Regelungen, die wir in der EU schon haben, in denen zum Beispiel Bestimmungen zu berufsständischen Angelegenheiten auch in einzelnen Nationalstaaten schon getroffen worden sind und niemand weiß es.

Frau Röder, wissen Sie, dass wir eine Niederlassungsfreiheit in der EU haben?

Ja, natürlich.

Wissen Sie, dass wir eine Freizügigkeit der Arbeitnehmer haben,

In Grenzen!

mit Ausnahme der osteuropäischen Arbeitnehmer? Das verlängert sich auf drei Jahre, sie dürfen für Erntearbeiten kommen.

Glauben Sie, dass ein deutscher Klempnermeister mit seinen Arbeitern in Frankreich oder in Polen oder in Lettland zu den Bedingungen der Bundesrepublik arbeiten wird?

(Frau Dr. Hüskens, FDP: Ja, sicher!)