Protokoll der Sitzung vom 13.07.2007

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 24. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt der fünften Wahlperiode und begrüße Sie alle sehr herzlich.

Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

Wir setzen nunmehr die 13. Sitzungsperiode fort und beginnen die heutige Beratung, wie vereinbart, mit dem Tagesordnungspunkt 28.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:

Aktuelle Debatte

Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft

Antrag der Fraktion DIE LINKE - Drs. 5/774

In der Aktuellen Debatte beträgt die Redezeit für jede Fraktion zehn Minuten. Die Landesregierung hat ebenfalls eine Redezeit von zehn Minuten. Die Fraktionen sprechen in der Reihenfolge DIE LINKE, SPD, FDP und CDU.

Ich bitte zunächst Herrn Czeke, für den Antragsteller, die Fraktion DIE LINKE, das Wort zu nehmen. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Kollege Kosmehl hat mir vorhin noch geraten, ich solle mich in Anbetracht der frühen Stunde - noch dazu, weil es an einem Freitag, dem 13. ist - bei allen für das schwierige Thema vorweg entschuldigen. So genau werde ich das nicht nehmen. Aber schau’n wir mal.

(Herr Schwenke, CDU: Schade!)

Meine Damen und Herren! Das halbe Jahr der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist zu Ende. Vor Beginn der EU-Ratspräsidentschaft im Dezember 2006 debattierte der Landtag auf der Grundlage eines Antrages der Kollegen von der Fraktion der FDP über den deutschen EU-Ratsvorsitz. Dies war verbunden mit der Hoffnung auf europapolitische Diskussionen im Land. Diese hielten sich - mit Ausnahme des bundesweiten Schulprojekttages im Januar 2007 - allerdings in Grenzen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft ist Ende Juni 2007 mit einem detaillierten Mandat für eine Regierungskonferenz zu Ende gegangen. Das heißt, bis Ende des Jahres 2007 sollen nun unter portugiesischem Vorsitz die Regierenden bezüglich des EU-Vertrages zu einem Ergebnis kommen. Dieses Hauptergebnis der deutschen EU-Ratspräsidentschaft ist nicht nichts, aber auch nicht genug, um sich den Freudentränen der Mehrheiten im Europäischen Parlament bzw. im Deutschen Bundestag anzuschließen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat unter solchen Bedingungen wie nationalen Machtkämpfen und Egoismen der 27 EU-Mitgliedstaaten einen technisch erfolgreichen und effizienten Vorsitz geführt. Sie wird die Portugiesen und Slowenen in diesem Sinne weiter mit beeinflussen.

Im Rahmen der heutigen Aktuellen Debatte zum Thema „Bilanz der deutschen EU-Ratspräsidentschaft“ sollen weniger die institutionellen Änderungen bezüglich des Europäischen Rates, der Stimmengewichtung im Ministerrat oder der Begrenzung der Mitglieder in Kommission und Parlament diskutiert werden. Diese strukturellen Veränderungen beschäftigen hauptsächlich Expertinnen und Experten. Vor allem betreffen diese Vertragsinhalte die Bürgerinnen nur indirekt. Zudem bleiben auch bei diesen institutionellen Änderungen mehr Fragen offen, als beantwortet werden.

Das betrifft zum Beispiel den europäischen Außenminister. Er wird drei Herren dienen müssen. Die Gewaltenteilung ist außer Kraft gesetzt. Er ist stellvertretender Kommissionschef und damit dem Wohl der gesamten EU verpflichtet. Er ist Mitglied im Ministerrat und von den Regierungschefs im Europäischen Rat gewählt, damit also den einzelnen Nationalstaaten verpflichtet. Wie soll er dann mit einer Stimme für die EU nach außen sprechen?

Ein anderes Beispiel ist die neue EU-Ratspräsidentschaft. Er oder Sie soll für zweieinhalb Jahre die Richtlinienkompetenz der EU haben. Damit bekommt der Europäische Rat nun auch offiziell eine Organfunktion, die er bisher nicht hatte. Aber welche Aufgaben hat er konkret?

Die halbjährliche organisatorische und politische Rotation der Mitgliedstaaten in den Ministerräten bleibt wohl erhalten. Positiv ist die Stärkung des Europäischen Parlaments durch mehr Mitentscheidungsrechte und eine erweiterte Haushaltskompetenz. Das kann aber nicht aufwiegen, dass das Europäische Parlament weiterhin kein Initiativrecht hat. Bei den Themen Beihilfe, Militäreinsätze, Liberalisierung und Landwirtschaft wird es auch weiterhin kein Mitsprachrecht haben.

Die Diskussion über Kompetenzen der EU-Institutionen lenkt von den eigentlichen Fragen ab. Uns geht es um die Fragen: Welche EU bekommen die Bürger und Bürgerinnen? Ist sie für sie verständlich? Ist sie transparent? Finden sich die Interessen der Bürger und Bürgerinnen in dieser EU und in diesem Vertrag wieder? Ist diese EU mit diesem Vertrag friedensorientiert, sozial gerecht und demokratisch?

Die reale und konkrete Politik der Europäischen Kommission zeigt sich weniger im Vertrag, also in dem so genannten Primärrecht, als in Mitteilungen, Grünbüchern, Richtlinien und Verordnungen, also in dem so genannten Sekundärrecht.

Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind für die Bürger und Bürgerinnen das Arbeitsrecht und die Daseinsvorsorge im Gesundheitsbereich sehr relevant. Mit ihrer „Flexicurity-Formel“ im Arbeitsrecht übertüncht die Kommission den Widerspruch zwischen Flexibilität und sozialer Sicherheit. Mit dem Konzept „Flexicurity“ soll auch nach der Einschätzung von ver.di und des europäischen Gewerkschaftsbundes der Kündigungsschutz gelockert werden, um für Beschäftigung, aber nicht für Arbeitsplatzsicherheit in der EU zu sorgen. Das wichtige nationale Instrument des regulierenden Arbeitsrechts zum Schutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer wird unter dem Label „Flexicurity“ aber unter Rechtfertigungszwang kommen.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft hat für eine sozialere EU keine Impulse gesetzt. Sie ist eine der wenigen

EU-Regierungen, die sich gegenüber einem europäischen Mindestlohn sperrt. Das noch zu Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft angekündigte Protokoll zur Sozialpolitik wurde still und heimlich gestrichen.

Bezüglich der Daseinsvorsorge hat die EU-Kommission kein Interesse daran, sie vom Binnenmarkt auszunehmen. Nur das würde sie vor Einzelurteilen des EuGH sowie vor Wettbewerbs- und Vergaberegeln schützen.

Stattdessen wird auf Druck des französischen Präsidenten Sarkozy kosmetisch der „freie und unverfälschte Wettbewerb“ aus den Zielen des Vertragsdokumentes gestrichen; dies freilich nicht wegen des Schutzes öffentlicher Güter im Sinne des Allgemeinwohls, sondern wegen der heimischen Konzerne. Der „freie und unverfälschte Wettbewerb“ steht aber noch 14-mal an anderen Stellen in dem Reformvertrag, vor allem in einem angehängten Protokoll.

Subventionen, Beihilfen und „nichttarifäre Handelshemmnisse“ wie Umwelt- und Sozialstandards sollen nach einer Interpretation der Kommission den freien Wettbewerb bald nicht mehr verfälschen dürfen.

Inwieweit dieses Protokoll im Widerspruch zum ebenfalls angehängten Daseinsvorsorge-Protokoll steht, wird sich bald zeigen. Nach diesem an sich begrüßenswerten Daseinsvorsorge-Protokoll soll der Wettbewerb der Daseinsvorsorge untergeordnet werden.

Die sozialen Grundrechte sind auch ein Thema in der Grundrechtecharta, die rechtsverbindlich sein soll - von „einklagbar“ ist aber nicht die Rede -, aber nicht Teil des Vertrages ist.

Großbritannien, Irland und Polen haben eine Ausstiegsklausel aus der Grundrechtecharta erstritten, was - wie übrigens auch durch die Möglichkeit einer verstärkten Zusammenarbeit in den Bereichen Inneres, Justiz sowie Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik - einem Kerneuropa neuen Auftrieb gibt.

Der scheidende deutsche Botschafter Dr. Schönfelder äußerte auf einem Treffen mit unserem Europaausschuss in Brüssel, 95 % der Regelungen in dem Verfassungsvertragsentwurf seien in den Reformvertrag übertragen und somit gerettet worden. - Genau darin sehen wir ein Problem. Diese Inhalte - nicht eine Verfassung - haben die Franzosen und Französinnen und die Niederländer abgelehnt. Trotzdem bekommen sie und alle nicht Gefragten all das nun einfach wieder vorgesetzt.

Für die Kanzlerin und die anderen Regierenden ist es sicherlich ein Erfolg, die Substanz des Verfassungsvertragsentwurfes gerettet zu haben. Ob es auch für die Bürgerinnen und Bürger ein Erfolg ist, wird besser nicht gefragt. Denn schon vor dem Gipfel war klar, dass das nicht mehr gewollt ist, außer in Irland, wo man es aufgrund der Verfassung muss.

Der Reformvertrag soll jetzt in Windeseile durchgebracht werden, ohne Volksabstimmungen, aber auch ohne Beteiligung des Bundestages, wie die dortige Debatte am 4. Juli 2007 gezeigt hat. Über die Mitsprachemöglichkeiten des Landtages reden wir besser in einer gesonderten Debatte.

DIE LINKE fordert eine unmittelbare Beteiligung von Bundestag und Landtagen an der Ausarbeitung des Vertrages sowie eine europaweite Volksabstimmung am Tag der Europawahl.

(Beifall bei der LINKEN)

Für uns ist das eben nicht nur ein „Grundübel“ und ein „Showeffekt“, wie Botschafter Dr. Schönfelder bei unserem Besuch wörtlich meinte.

DIE LINKE hat den Vertrag von Nizza im Jahr 2000 nach einem Abwägungsprozess abgelehnt. Der neue Reformvertrag ist in seiner neoliberalen, friedensgefährdenden und grundrechtseinschränkenden Auswirkung allerdings um einiges brutaler.

(Herr Scharf, CDU: Das ist einfach falsch, was Sie sagen! Einfach falsch!)

- Die Verpflichtung der Mitgliedstaaten zur Aufrüstung und der Militärhaushalt aus dem Verfassungsentwurf bleiben erhalten, Herr Scharf.

(Herr Scharf, CDU: Einfach falsch!)

Mit der Grenzschutzagentur Frontex verstärkt die Europäische Union ihre repressive Innen- und Asylpolitik.

Unter der bundesdeutschen Ratspräsidentschaft haben nicht nur die Beziehungen zu Russland, sondern auch die zu Polen Schaden genommen. Polen ist seit 2004 Mitglied der EU, und zwar ein gleichberechtigtes. Der Beitritt des Landes war kein Geschenk; dafür musste Polen ebenso wie die anderen mittel- und osteuropäischen Staaten hart arbeiten.

Ich werde das Handeln der polnischen Zwillingsbrüder nicht gutheißen. Die Erweiterung war aber politisch gewollt. Dafür müssen die beigetretenen Staaten nicht dankbar sein, sondern, wenn überhaupt, wir alle. Polen hat genau wie alle anderen Mitgliedstaaten das Recht, mit Vorschlägen nicht einverstanden zu sein und eigene Vorschläge zu machen. Vonseiten Polens gab es einen einzigen Änderungswunsch, vonseiten Großbritanniens und anderer Länder weitaus mehr Änderungswünsche. Niemandem wurde gedroht, dass sein Land keine Zahlungen mehr erhalten würde oder gar die EU zu verlassen habe, Polen schon. Was das amerikanische Raketenabwehrschild an den Grenzen Polens und Tschechiens angeht, vermissten wir von Frau Merkel und Herrn Steinmeier im Übrigen eine klare Absage.

In unserer Bilanz darf das zweite große Thema der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, die Klima- und Energiepolitik, nicht verschwiegen werden. Die klimapolitische Performance der selbsternannten Vorreiter EU und Deutschland lässt jedoch mehr als zu wünschen übrig: seit Jahren bestenfalls stagnierende Emissionen, ein Emissionshandelssystem, dessen Ausgestaltung strukturelle Änderungen in der Energiewirtschaft verhindert, und kaum Leistungen zur Unterstützung der Opfer des Klimawandels.

In der „Wirtschaftswoche“ - ich glaube, es war in der vorletzten Ausgabe - war eine Aussage von Bundesumweltminister Gabriel zu dem Thema zu lesen. Er sagte wörtlich:

„Ich kenne genau zwei Menschen, die das Emissionshandelssystem verstanden haben. Der eine ist tot und der andere verrückt geworden.“

(Heiterkeit bei der LINKEN)

Auch die auf dem März-Gipfel erzielte und von Politik und Medien gefeierte Einigung der EU auf ein CO2-Minderungsziel von 20 % bis 2020 bewegt sich am unteren Rand der Forderungen, die die EU noch vor zwei Jahren an alle Industrieländer stellte. Eine konkrete Erklärung,

wie diese Ziele erreicht werden sollen, gab es nicht. Eine Vorreiterrolle sieht anders aus.

Zudem kommt die EU ungeachtet ehrgeiziger Klimaschutzziele bei ihrem Vorhaben der Umsetzung einer schadstoffabhängigen Autobesteuerung nicht voran. Auch der Nabu zieht bei seiner Bewertung der Ergebnisse unter deutschem Ratsvorsitz eine nüchterne Bilanz.

Die Forderung der LINKEN ist, dass sich die Bundesrepublik Deutschland dazu verpflichtet, eine Minderung der Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 40 % bis zum Jahr 2020 und um 80 % bis zum Jahr 2050 zu erzielen. Der Energieverbrauch wird bis 2050 im Vergleich zum jetzigen Wert halbiert. Der Anteil erneuerbarer Energien am Primärenergieverbrauch muss bis zum Jahr 2020 auf 25 % gesteigert werden. Nur so haben wir die Chance auf den Weiterbestand des Planeten Erde, der globalisierten Welt und Europas. Es ist, wie die Kanzlerin sagte: Die EU ist die Antwort auf die globalisierte Welt.

Abschließend möchte ich den luxemburgischen Premier Juncker, einen bekennenden Europäer, zitieren. Er sagte: „Europa wird entweder sozial oder es wird scheitern.“