Protokoll der Sitzung vom 11.10.2007

Meine Damen und Herren! Ich eröffne die 27. Sitzung des Landtages von Sachsen-Anhalt der fünften Wahlperiode.

(Unruhe)

- Ich bitte Sie, den Lärmpegel etwas zu senken. - Ich möchte Sie, meine Damen und Herren, herzlich begrüßen.

Ich stelle fest, dass das Hohe Haus beschlussfähig ist.

Ich komme nun zu den Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung für die 15. Sitzungsperiode des Landtages. Es liegen folgende Entschuldigungen vor: Ministerpräsident Professor Dr. Böhmer bittet seine Abwesenheit am 11. Oktober 2007 ab ca. 16 Uhr und am 12. Oktober 2007 ganztägig zu entschuldigen. Er wird am heutigen Tag die 40. Woche der Welthungerhilfe in Magdeburg eröffnen. Am morgigen Tag, dem 12. Oktober 2007, nimmt er an der Sitzung des Bundesrates in Berlin teil.

An eben dieser Sitzung des Bundesrates nehmen auch Ministerin Frau Professor Dr. Kolb und Minister Herr Dr. Daehre teil; beide entschuldigen sich deshalb für den 12. Oktober 2007.

Herr Minister Bullerjahn wird am heutigen Tag an der Sitzung der Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung in Berlin teilnehmen und entschuldigt sich aus diesem Grund für den heutigen Tag ab 12 Uhr.

Frau Ministerin Wernicke bittet ihre Abwesenheit am Freitag ab ca. 11 Uhr zu entschuldigen; sie nimmt an einer Sitzung der Jury zur Wahl der 59. Deutschen Weinkönigin in Neustadt an der Weinstraße teil.

(Unruhe)

- Meine Damen und Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe, damit wir die Tagesordnung ordnungsgemäß verabschieden können.

Wir kommen zur Tagesordnung für die 15. Sitzungsperiode. Im Ältestenrat wurde vereinbart, den Tagesordnungspunkt 2 - Aktuelle Debatte - sowie die Tagesordnungspunkte 14, 9 und 10 am Freitag früh in der eben genannten Reihenfolge zu behandeln.

Gibt es weitere Anmerkungen zur Tagesordnung? - Das sehe ich nicht. Dann kommen wir zur Abstimmung über die Tagesordnung. Wer der Tagesordnung zustimmt, den bitte ich um das Kartenzeichen. - Ich sehe bei allen Fraktionen Zustimmung. Damit ist die Tagesordnung die Geschäftsgrundlage für die 15. Sitzungsperiode.

(Unruhe)

- Meine Damen und Herren, es ist zwar verständlich, dass man sich viel zu erzählen hat, wenn man sich lange nicht gesehen hat, aber wir wollen jetzt anfangen zu arbeiten.

Ich komme zum zeitlichen Ablauf. Die heutige Sitzung wird gegen 19.30 Uhr beendet. Gegen 20 Uhr beginnt die parlamentarische Begegnung mit dem Deutschen Bibliotheksverband in der „Sicht-Bar“ in der Leiterstraße/ Ecke Otto-von-Guericke-Straße. Wir freuen uns schon darauf. Ich bitte um zahlreiche Teilnahme.

Meine Damen und Herren! Ich komme zum Tagesordnungspunkt 1:

Regierungserklärung des Ministerpräsidenten Professor Dr. Böhmer zum Thema: „Sachsen-Anhalt auf dem Weg in eine offene Gesellschaft“

Es ist die Redezeitstruktur E vereinbart worden, also eine Debatte mit 130 Minuten Redezeit. Diese verteilt sich wie folgt auf die Fraktionen: DIE LINKE 24 Minuten, SPD 23 Minuten, FDP zehn Minuten und CDU 37 Minuten.

Ich erteile dem Ministerpräsidenten Herrn Professor Dr. Böhmer zur Abgabe der Regierungserklärung das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! 17 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands und damit 17 Jahre nach der Wiedererrichtung des Landes Sachsen-Anhalt ist die Nähe zu unserem Nationalfeiertag eine verständliche Gelegenheit zu fragen, wo wir stehen und wie wir diese Zeit genutzt haben. Dabei hätten wir durchaus auch einen anderen Bezugspunkt wählen können.

Am 21. Juli 1947, also vor 60 Jahren, wurde, wie manche von Ihnen wissen, auf einen Befehl der sowjetischen Militärverwaltung hin aus der Preußischen Provinz Sachsen und dem Freistaat Anhalt das Land Sachsen-Anhalt gegründet. Andere Länder wie Bremen, Hessen, Nordrhein-Westfalen oder Niedersachsen haben ihre 60-jährigen Gründungsjubiläen mit einem großen Festakt begangen.

Wenn uns nicht die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ - übrigens als Einzige in Deutschland - daran erinnert hätte, hätten wir selbst es nicht einmal zur Kenntnis genommen. Wir haben dafür gemeinsam an den 60. Jahrestag der Konstituierung unseres Landtages im November 2006 gedacht.

Sie wissen auch, dass im Juli 1952 die Länder in der inzwischen gegründeten DDR aufgelöst und 48 Jahre danach, am 14. Oktober 1990, zum zweiten Mal gegründet wurden. In diesen sechs Jahrzehnten sind in dieser Region Deutschlands sechs Kreisgebietsreformen durchgeführt worden, zwei davon seit der Wiedergründung des Landes.

Insofern ist es eher erstaunlich, dass uns aus Umfragen berichtet wird, das Zusammengehörigkeitsgefühl in unserem Land sei während der letzten Jahre doch deutlich gewachsen. Die Ergebnisse dieser Meinungsumfrage sind es, aus denen sich aus der Sicht Landesregierung Konsequenzen und Aufgaben ergeben, denen wir uns stellen müssen.

Wir wissen, dass wir noch vor einer unverzichtbaren Reform der Kommunalstrukturen stehen. Die Landesregierung legt großen Wert darauf, diese Reform unter möglichst großer Beteiligung der kommunalen Verantwortungsträger zu organisieren und Strukturen zu finden, die für eine längere Zeit effektiv und ausreichend sind.

Es kann nicht unsere Aufgabe sein, uns unentwegt nur mit den eigenen inneren Strukturen zu beschäftigen. Dies trifft sowohl auf die Kommunalpolitik als auch auf die Bildungspolitik zu, in der die Länder ebenfalls eigene

Kompetenzen besitzen. Den Vorwurf, dass die Länder ihre föderalen Kompetenzen als politische Spielwiese für Parteien missbrauchen könnten, wollen wir alle nicht bestätigen.

Ich widerspreche auch dem Vorwurf, die Landesregierung würde mit der kommunalen Gebietsreform das demokratische Engagement in den Gemeinden aushöhlen. Ich möchte an Folgendes erinnern: 68,5 % aller Gemeinden in Sachsen-Anhalt haben weniger als 1 000 Einwohner, 39,6 % haben sogar weniger als 500 Einwohner. In den beiden Altmarkkreisen haben 63 % bzw. 67 % aller Gemeinden weniger als 500 Einwohner. Nach der letzten Gemeinderatswahl im Jahr 2004 blieben in 360 Gemeinden - dies entspricht einem Anteil von immerhin 32 % - nach der Wahl Ratssitze aufgrund fehlender Kandidaten unbesetzt; dies war zum größten Teil in den sehr kleinen Gemeinden Fall.

Nach der Organisation zukunftsfähiger Untergliederungen und Strukturen brauchen wir Verlässlichkeit und Sicherheit, um uns konzentriert anderen wichtigen Aufgaben der Zukunftssicherung zuwenden zu können. Dabei spüren wir jetzt, dass es wohl ein Fehler war, beim Rückblick auf eigene Erfahrungen immer erst bei der Wiedervereinigung Deutschlands und der Wiedergründung unseres Bundeslandes anzufangen. Wir werden die Erfahrungen der davor liegenden Jahrzehnte für die Lösung der Probleme der Zukunft noch brauchen, und sei es nur, um die damals gemachten Fehler nicht zu wiederholen.

Die der Sicht unserer Bürgerinnen und Bürger auf ihre eigene Vergangenheit und ihre kritische Bewertung der gegenwärtigen Probleme müssen wir als Landesregierung und, so denke ich, auch als Parlament, zur Kenntnis nehmen und daraus Konsequenzen für unsere weitere gemeinsame politische Arbeit ziehen.

In der vorigen Plenarsitzung hat Ihnen der Finanzminister den Entwurf eines Haushaltsplans für die Jahre 2008 und 2009 vorgelegt. Es handelt sich hierbei um den ersten Haushaltsplan ohne Neuverschuldung seit der Wiedergründung unseres Landes. Völlig zu Recht ist dieser Umstand gewürdigt worden.

Er ist für uns aber auch Verpflichtung. Er ist ermöglicht worden durch eine günstigere wirtschaftliche Entwicklung, die in zeitlichem und ursächlichem Zusammenhang mit sehr grundsätzlichen Reformen steht, die von der damaligen Bundesregierung im März 2003 eingeleitet worden sind.

Zu den vielen unterschiedlichen Wahrheiten, über die wir gegenwärtig sprechen, gehört auch, dass ähnliche mutige Reformen von Ökonomen in der ehemaligen DDR schon in den 70er-Jahren vorgeschlagen wurden. Schon damals war deutlich, dass wir uns in diesem Teil Deutschlands viel größere soziale Leistungen gewährt hatten, als wir aus eigener Wirtschaftskraft erwirtschaften konnten. Aber diese Diskussionen fanden damals hinter verschlossenen Türen statt.

Heute können wir die Protokolle nachlesen. Und heute lesen wir, dass diese Vorschläge damals abgelehnt worden sind mit der Begründung - ich zitiere aus einem solchen Protokoll -:

„... die grundlegende politische Erfahrung, dass der einmal erreichte Stand in der sozialen Versorgung nicht wieder preisgegeben werden darf“.

Die weitere Entwicklung, die Sie alle kennen, führte dann folgerichtig in die eigene Insolvenz, dann in einen notwendigen, weil viel zu spät eingetretenen Strukturwandel und gegenwärtig in eine nebulös-nostalgische Verklärung. Da wir alle von Wunschdenken nicht verschont bleiben, wie wir uns gelegentlich auch bei den Haushaltsberatungen beweisen, ist es hilfreich, uns immer wieder an diese Zeit der eigenen Vergangenheit zu erinnern.

Die gegenwärtige Kommission zur Reform der bundesstaatlichen Ordnung wird ihre Arbeit nicht ohne Ergebnisse beenden. Konsens besteht jetzt schon darüber, dass die Konditionen für weitere Schuldenaufnahmen stringent verschärft werden, wenn auch diesbezüglich bisher keine Konkretisierung erfolgt ist.

Die Bündnispflicht zum solidarischen Ausgleich zwischen den Ländern ist kein ehernes Naturgesetz und wird sicherlich einmal - vermutlich ab 2020 - modifiziert werden. Dass der Solidarpakt II im Jahr 2019 ausläuft und bis dahin stark degressiv gestaltet ist, ist allgemein bekannt.

Die Finanzhilfen aus der EU werden in der Förderperiode nach 2013 noch wesentlich geringer werden. Das heißt, wir sind zunehmend auf die eigene Wirtschafts- und Steuerkraft angewiesen. Deshalb wäre es, denke ich, verantwortungslos, jetzt eine Ausgabenpolitik zu betreiben, die nur auf die Wirtschaftskraft anderer und auf Hilfen von außen setzt. - Es wird nicht einfacher, aber eben deutlicher, wenn wir uns jetzt schon auf bereits bekannte Entwicklungen aufmerksam machen.

Jährlich vermindert sich die Zahl der Einwohner unseres Landes aus unterschiedlichen Gründen um durchschnittlich zwischen 25 000 und 26 000 Personen. Das bedeutet Mindereinnahmen aus dem Länderfinanzausgleich in Höhe von etwa 70 Millionen bis 80 Millionen € jährlich.

Lediglich 17 Jahre nach der Wiedergründung unseres Landes gehört das Land Sachsen-Anhalt zu den am höchsten verschuldeten Ländern in Deutschland. Gegenwärtig - das sind die Zahlen für das Jahr 2006 - beläuft sich die Verschuldung auf 9 152 € pro Einwohner, was eine Zinslast von knapp 1 Milliarde € bzw. von 440 € pro Einwohner bedeutet. Diese Zinsen müssen wir jährlich zahlen, bis wir diese Schulden los sind.

Aufgrund der Verringerung der Einwohnerzahl steigt die personenbezogene Schuldenquote auch ohne Neuverschuldung. Wenn wir diese Quote in Anbetracht der demografischen Entwicklung zumindest konstant halten wollen, erfordert dies eine jährliche Tilgung von 180 Millionen bis 190 Millionen €. Erst wenn wir mehr tilgen könnten, würde die eigentliche Entschuldung beginnen - und dies alles bei sinkenden Einnahmen aus den Finanzhilfeprogrammen.

Deshalb sage ich sehr deutlich: Wer jetzt für zusätzliche, auf Dauer angelegte Ausgabenverpflichtungen des Landes wirbt, hat die Lehren aus unserer länger zurückliegenden Vergangenheit noch nicht verstanden.

Durch die geschickte Kombination verschiedener Förderprogramme der EU und des Bundes bemühen wir uns, die zur Kofinanzierung benötigten Landesmittel zu reduzieren. Im Ländervergleich führt dies dazu, dass wir zwar pro Einwohner die höchsten Ausgaben leisten, aber für Investitionen im geringsten Umfang Landesmittel einsetzen. Mit dem Wegfall der Finanzhilfen von

außen käme das Land in eine sehr schwierige Situation, wenn wir für den nichtinvestiven Bereich neue Verpflichtungen begründen würden. Darauf müssen wir uns zumindest aufmerksam machen.

Deshalb wird die Landesregierung auf Vorschlag des Finanzministers mehrere Haushaltsstabilisierungsmechanismen einbauen, für die ich jetzt schon Ihre Zustimmung erbitte. Dazu gehören der aufzubauende Pensionsfonds und die geplante Investitions- und Zukunftsstiftung für unser Land. Mit der letztgenannten wollen wir den Vermögensstatus des Landes stabilisieren und später einmal mehren.

Des Weiteren brauchen wir den Aufbau einer Steuerschwankungsreserve, um nicht bei sinkenden Einnahmen sofort zu einer Neuverschuldung gezwungen zu sein. Die Zinserträge eines solchen Fonds sollen zur Zinszahlung für den Schuldenberg eingesetzt werden und diese erleichtern.

Schwierig ist immer noch die Steuerung der Personalkosten und der großen Personalkörper Polizei und Lehrer. Bei beiden haben wir Überhänge und Defizite, die sich nicht gegenseitig ausgleichen lassen. Bei beiden brauchen wir noch Personalabbau und einen gestaffelten Einstellungskorridor. Dafür wurden mehrjährige Konzeptionen entwickelt. Nach den vom Finanzminister geleiteten Vorgesprächen bestehen berechtigte Hoffnungen, mit den Tarifpartnern - auch für die Lehrer - zu erfolgversprechenden Verhandlungen zu kommen.

Schon die bundesgesetzlichen Pflichten belasten uns. Es gilt als unstrittig, dass die gleichen bundeseinheitlichen Ausgabenverpflichtungen für Länder und Kommunen unterschiedliche Auswirkungen haben. Sie sind abhängig von sozialen Parametern wie der Arbeitslosigkeit und von der demografischen Struktur der Bevölkerung und müssen durch die eigene Wirtschaftskraft ausgeglichen werden.

Beispiele hierfür sind das Ihnen bekannte Wohngeld und die soziale Grundsicherung bei den gebrochenen Erwerbsbiografien der jetzigen und besonders der künftigen Rentnergenerationen im Land Sachsen-Anhalt.

Für uns ist Wirtschaftspolitik deshalb nicht Selbstzweck. Aber die Stärkung der eigenen Wirtschaftskraft ist der einzige Weg in die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Nicht unter den abschirmenden Schutzstrukturen eines abgeschlossenen Wirtschaftsraums mit nicht konvertierbarer Binnenwährung, sondern in einem offenen System globaler Zusammenarbeit und weltweiten Wettbewerbs müssen wir uns bewähren.