Protokoll der Sitzung vom 29.05.2008

- Nein, aber Sie haben die nicht genannt. Ich halte sie für die problematischste Gruppe.

(Zuruf von Frau Feußner, CDU)

Wir arbeiten im Moment auch an einer Antwort der Landesregierung auf Ihre Große Anfrage, sodass ich gern bereit bin, den Stand dieser Überlegungen und auch die verschiedenen Alternativen darzustellen, zumindest aber die Grundsätze eines solches Projektes zur Diskussion zu stellen. Das betrifft neben einer Ausarbeitung vor allem der pädagogischen Ansprüche an ein solches Konzept natürlich auch seine personellen, qualifikatorischen, organisatorischen und schließlich auch sächlichen Voraussetzungen.

Ich mache gar keinen Hehl daraus, dass in SachsenAnhalt der Anteil an Förderschülern in der Tat erstaunlich hoch und die Förderquote im gemeinsamen Unterricht bundesweit gesehen die geringste ist. Die Zahl der Förderschüler ist von dem Schuljahr 1996/1997 bis zum Schuljahr 2007/2008 von 5,4 auf 7,8 % gestiegen. Ganz fraglos muss uns das stutzig und aufmerksam machen.

(Beifall bei der SPD)

Aber daraus, verehrte Frau Bull, auf Ausgrenzung zu schließen, finde ich den Kindern gegenüber, um die es geht, nicht gerecht

(Herr Borgwardt, CDU: Abenteuerlich!)

und auch den Lehrerinnen und Lehrern der Förderschüler sowie den Eltern gegenüber eigentlich respektlos.

(Beifall bei der CDU - Zuruf von Frau Feußner, CDU)

Wer einmal Förderschulen und Förderzentren besucht hat - Sie haben das gemacht -, der weiß, wie liebevoll, wie aufmerksam und wie konzentriert sich dort das Personal, die Eltern und alle Beteiligten um diese Kinder kümmern, um sie bei ihren Stärken wirklich anzusprechen und sie zu Leistungen und auch zu einer Selbstgewissheit hinzuführen, die nötig ist - -

(Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Sie haben keine Ah- nung! - Frau Bull, DIE LINKE: Das ist ein Miss- verständnis! - Weitere Zurufe von der LINKEN)

- Nein. Im Kontext Ihrer Rede, liebe Frau Bull, ist mir das wie eine Alibi-Bemerkung vorgekommen; denn ich will einmal Folgendes fragen: Wer stigmatisiert denn die Kinder eigentlich? Wer hat denn die Schulabschlüsse in Verlierer- und Gewinnerabschlüsse aufgeteilt und tut das immer wieder?

(Frau Feußner, CDU: Wir nicht!)

Das waren wir nicht. Ich habe großen Respekt vor einem Kind mit Lernbeeinträchtigungen, das es schafft, den Hauptschulabschluss zu erwerben oder das mit Stolz - -

(Beifall bei der CDU - Frau Bull, DIE LINKE: Wir machen das nicht!)

- Sie haben von Ausgrenzung - - Entschuldigung, wenn ich das auch ein bisschen leidenschaftlich mache, weil

das Wort „Ausgrenzung“ an dieser Stelle wirklich falsch ist.

(Frau Feußner, CDU: Stigmatisierung, Ausgren- zung, ich habe alles hier! - Zurufe von Frau Bull, DIE LINKE, und von Herrn Höhn, DIE LINKE)

Es war von Stigmatisierung und von Ausgrenzung - -

(Zurufe von der LINKEN)

- Entschuldigung, aber irgendeiner muss

(Zurufe von der LINKEN)

- darf ich das bitte einmal zu Ende sagen - doch die Stigmatisierung und die Ausgrenzung der Kinder machen.

(Frau Bull, DIE LINKE: Wer denn wohl?)

Das machen wir immerfort, indem wir deren Anstrengungen und vor allem deren Abschlüsse, die sie mit Stolz vorweisen, nicht anerkennen. Das nächste Problem spielt sich dahinter in der Gesellschaft ab - da haben Sie wieder Recht -,

(Frau Bull, DIE LINKE: Ach!)

dass nämlich diese Abschlüsse dann nicht so gehandhabt und anerkannt werden, wie wir das nutzen könnten. Ich denke mir nur das Ganze vom Kind aus. Ich denke zunächst einmal an das Kind. Wie geht das Kind damit um,

(Beifall bei der CDU)

dass sein Abschluss auch von uns, von Ihnen als Abgeordnete, von Politikern so gering geschätzt wird? Wie geht das Kind damit um? Dann hole ich tief Luft. Dann frage ich danach, was gesellschaftliche Aufgabe und öffentliche Anerkennung anbelangt. Zunächst rede ich davon, was wir mit unserem guten Namen in welchen Zusammenhängen eigentlich sagen und wie wir Abschlüsse kommentieren. Das finde ich schon grenzwertig, auch diese Aufteilung der Welt.

Man darf noch etwas nicht vergessen. Ich habe diese Initiative dem Bildungskonvent gegenüber mit einigen Kollegen zusammen keineswegs um eines schnellen politischen Effektes wegen ergriffen, sondern um dieser Kinder willen; denn ich sage Ihnen eines: Für eine Integration um jeden Preis und so schnell wie möglich werden die Schwächsten den höchsten Preis bezahlen. Das steht auch fest.

(Beifall bei der CDU)

Deswegen möchte ich gern das ganze Konzept, das ich im Kern begrüße und wofür ich selbst aktiv geworden bin, mit allergrößter Sorgfalt und auch mit größtem Respekt gegenüber den Kindern, die es betrifft, und den Erwachsenen, die sich um sie bemühen, vorbereiten.

Das ist nämlich auch deswegen wichtig, weil jeder weiß, dass sich dort, wo Integration formal gemacht wird, aber die qualifikatorischen, die sächlichen und die organisatorischen Voraussetzungen nicht wirklich durchdacht sind, Ausgrenzung nur subtiler, aber manchmal umso brutaler als in Systemen vollzieht, wo alles wunderbar aussieht, weil alle gemeinsam lernen.

Wir wissen aber gar nicht, wie es um das Schicksal und die Seele des Einzelnen bestellt ist, der sich immerfort in Misserfolg erlebt, geschnitten wird oder gar gehänselt wird von Kindern, die darauf nicht vorbereitet sind. Also

bitte ernsthaft und langsam genug vorgehen, damit wir das auch gut vorbereiten können.

Deswegen schlage ich übrigens vor, dass wir das in Pilotphasen und Modellprojekten machen und die Förderzentren, die wir im Moment bereits genau in diese Richtung entwickeln, intensiv einbeziehen. Denn dort ist die Expertise. Sie ist nicht bei uns, auch das sollten wir einmal ganz deutlich sagen. Wir tun immer so, als ob wir etwas von Integration verstünden. Dazu braucht man eine fachliche Expertise, die kaum einer von uns aufbringt. Die müssen wir einbinden, sonst schwingen wir nämlich nur kluge Reden. Jeder weiß, wie wichtig es ist, das wirklich mit größter Sorgfalt zu machen.

(Zustimmung bei der CDU)

Deswegen gibt es drei Handlungsansätze, über die wir uns verständigen könnten. Der erste Schritt ist tatsächlich ein Ausbau des Systems der Kooperationsklassen, also den gemeinsamen Unterricht zu stärken, wofür die Förderzentren gute strukturelle Voraussetzungen haben und im Übrigen auch die Kompetenz und inzwischen die Bereitschaft, solche Projekte zügig weiter zu entwickeln.

Das Zweite ist in der Tat eine sonderpädagogische Unterstützung im flexiblen Schuleingang ohne eine eigene Feststellung von sonderpädagogischem Förderbedarf. Das heißt aber nicht, dass der nicht bemerkt wird, sondern nur, dass er in den Schulen aufgegriffen wird. Dafür brauchen wir qualifiziertes Personal. Zum Teil kann man das aus den Förderschulen selbst rekrutieren, wenn im Zuge dessen die Zahl der Förderschulen im Grundschulbereich natürlich abnimmt. Das ist ja auch gewollt.

Und dann natürlich eine Zuweisung von sonderpädagogischen Grundversorgungen im ersten Schulbesuchsjahr mindestens, um diese Integration auch gelingend einfädeln zu können.

Ich finde es auch wichtig, dass wir die Aufnahme von Schülerinnen und Schülern im Grundschulalter in die Förderschule für Sprachentwicklung wirklich so klar an Voraussetzungen binden, dass mit Trennschärfe gesagt werden kann, wo es unumgänglich ist, intensive und demzufolge dann auch nicht integrative Sprachförderung noch zu machen, mit dem Ziel allerdings, die Kinder baldest möglich in das Regelschulsystem einzuschulen, und wo es möglich ist, das integrativ und begleitend zu machen. Das darf man aber nur machen, wenn es dem Spracherwerb dieses Kindes nützlich ist und ihn nicht zusätzlich noch verlangsamt.

Im Grunde kann man es zusammenfassen mit der Idee: Wir müssen die Beweislast umkehren. Es darf im sonderpädagogischen Feststellungsverfahren nicht die Frage gestellt werden: Muss dieses Kind in die Förderschule? Sondern umgekehrt: Kann es in der Regelschule nicht angemessen gefördert werden?

(Zustimmung von Frau Bull, DIE LINKE - Herr Dr. Eckert, DIE LINKE: Dann machen Sie es doch!)

- Ja, das habe ich doch angekündigt. Was soll denn diese Aufforderung? - Lesen Sie die Dokumente des Bildungskonvents, dann sehen Sie, dass wir darüber schon eine ganze Weile nachdenken, dass wir es aber nicht als politischen Schnellschuss machen wollen und schon gar nicht aus einer Theorie der Abgrenzung und Stigmatisierung heraus. Das ist das, was ich beanstande.

(Beifall bei der CDU)

Das ist auch die Art von Respekt und Anerkennung, die diese Kinder und ihre Eltern verdienen, und auch die Lehrerinnen und Lehrer, die sich wirklich mehr als intensiv und leidenschaftlich um sie kümmern. Das stört mich an der ganzen Debatte: Wenn ich nichts anderes damit erreichen will, als Stigmatisierung und Ausgrenzung zu beenden, dann kümmere ich mich überhaupt nicht um die Kinder,

(Frau Feußner, CDU: Genau so ist es!)

dann habe ich irgendetwas völlig anderes im Kopf. Meine Begründung ist so anders, dass ich nicht mehr sicher bin, ob ich wirklich noch freien Herzens empfehlen kann, den Antrag zu überweisen. Denn wenn er ganz anders gemeint ist, als ich ihn gelesen habe, dann stimmt entweder mit mir etwas nicht - das will ich gerne in Betracht ziehen - oder mit unserem Verständnis nicht. Ungeachtet dessen ist der Ausschuss dazu da, solche Missverständnisse auszuräumen, und ich hoffe sehr, dass uns das glücken wird.

Wichtig ist nur eines: Wir müssen Voraussetzungen schaffen, die auch mit Ressourcen verbunden sind; denn wir erwarten von den Grundschullehrerinnen und Grundschullehrern Aufgeschlossenheit und Mitwirkung, aber wir erwarten von denen nicht, dass sie künftig sozusagen nebenbei auch als Sonderpädagogen tätig sind. Das heißt, dort ist eine Menge zu tun, damit das auch funktioniert.

Ich mache kein Hehl daraus: Ich teile das Anliegen. Ich halte es für wichtig, ich halte es für nötig, ich halte es auch für möglich, ein solches Projekt der allgemeinen Integration für die Grundschulen zu machen. Ich halte es für möglich und nötig, die Arbeit der Sonderschulen oder Förderschulen so zu planen und zu konzipieren, dass das Ziel darin besteht, primär nicht die Kinder zu diesem Abschluss zu führen, sondern sie zunächst in das Regelschulsystem einzufädeln. Dort, wo das nicht gelingt, müssen wir die Grenzen der Integration thematisieren, weil wir sonst Schaden anrichten, und dazu haben wir überhaupt keine Berechtigung.

In dem Sinne sollten wir das diskutieren. Ich hoffe, dass die Missverständnisse nicht so tief sind, wie das jetzt eben schien, und bin gespannt auf diese Diskussion. - Vielen Dank.