Das Problem ist in der Tat, dass die Förderschule als die letzte Station am vorläufigen Ende einer Bildungsbiografie erscheint, die von Misserfolg, Stigmatisierung und Ausgrenzung geprägt ist. Einmal eben nicht mehr gehänselt zu werden,
(Frau Feußner, CDU: Schämen Sie sich denn nicht für das, was Sie hier vortragen? Das ist ja unmöglich, was Sie hier vortragen!)
einmal nicht mehr stigmatisiert zu werden, einmal Erfolg zu haben. Das ist legitim. Das Problem ist vielmehr, dass diese Stigmatisierungen oft in unseren Regelschulen stattfinden.
(Beifall bei der LINKEN - Frau Feußner, CDU: Das ist wirklich das Allerletzte! Wer stigmatisiert denn hier? - Minister Herr Prof. Dr. Olbertz: Wer macht denn das? Wer stigmatisiert denn diese Kinder?)
Damit wären wir nach meinem Dafürhalten beim Kernproblem: Die Kritik - das will ich an dieser Stelle noch einmal ganz deutlich sagen - ist nicht an die Arbeit der Förderschulen adressiert und auch nicht an die Arbeit der dortigen pädagogischen Kräfte. In der Kritik muss aber, denke ich, die mangelnde Integrationsfähigkeit der Regelschule hier in Deutschland stehen.
Das Förderschulsystem entspricht aus meiner Sicht sehr wohl der Logik des gegliederten Schulsystems und ist insofern auch folgerichtig und konsequent, weil dieses System der Philosophie folgt: Wir brauchen homogene Lerngruppen, weil homogene Lerngruppen die zentrale Voraussetzung für eine optimale Förderung in der Schule sind. - Das ist legitim.
Eine andere Möglichkeit des Herangehens wäre aber eben die, Vielfalt als Voraussetzung, als Vorgabe zu sehen und zu gucken, wie man das durch eine individuelle Förderung auch produktiv machen kann, ja, für soziales Lernen, weil Schülerinnen und Schüler damit nicht nur immer einen Ausschnitt von Leben erfahren, sondern auch erleben können, wie andere Schülerinnen und Schüler, auch die mit Behinderungen, lernen, welche Zugänge sie haben.
Ich will aber auch sagen: Ich denke, dass in der Art, wie man mit Vielfalt umgeht, auch viele Potenziale für die individuelle Leistungsförderung sowohl der vermeintlich Starken als auch der vermeintlich Schwachen zu finden sind.
Sie haben es erkannt - deswegen auch die Unruhe -: Genau genommen sind wir hier an einem Punkt, an dem die Gefahr groß ist, dass wir uns in der jeweils gegenüberliegenden bildungspolitischen Furche wiederfinden, meine Damen und Herren. Ich halte es dennoch für möglich, dass wir uns an dieser Stelle eine kleine gemeinsame Schnittmenge erarbeiten können. Nur aus diesem Grunde haben wir auch den Antrag gestellt. Ich denke, das gemeinsame Anliegen, das wir fraktionsübergreifend teilen sollten, ist, so viele Schülerinnen und Schüler wie möglich mit und ohne Behinderung im gemeinsamen Unterricht an der Regelschule zu unterrichten.
Nach meiner Auffassung ist das der kleinste gemeinsame Nenner zwischen uns, den wir aber trotz der unterschiedlichen Herangehensweise in dem Bereich der Bildungspolitik haben. Ich finde, das hat schon Charme, weil es die Möglichkeit eröffnet, den ersten Teil eines Weges gemeinsam zu gehen.
Wie wäre ein solches Ziel zu bewerkstelligen? Ich will Ihnen zwei Vorschläge vorstellen, die dem Antrag meiner Fraktion zu entnehmen sind.
Die Landesregierung hat im Jahr 2004/2005 das Konzept der Förderzentren entwickelt. Ziel war - zumindest habe ich es damals so verstanden -, dass die Zahl der Schülerinnen und Schüler im gemeinsamen Unterricht an der Regelschule erhöht werden soll, mit anderen Worten, die Integrationsfähigkeit der Regelschule zu verbessern. Ich finde, das ist begrüßenswert. Auf der Habenseite dieser Förderzentren steht sehr wohl, dass sie Bewegung ins System gebracht haben. Es hat ein Kompetenztransfer zwischen der Regelpädagogik und der Sonderpädagogik stattgefunden. Es ist auch Verständnis gewachsen, und zwar auf beiden Seiten, für die doch unterschiedliche Arbeit. Ich finde außerdem auch, dass die Sonderpädagogik einen Zuwachs an berechtigter Anerkennung erhalten hat.
Aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern muss man sagen, dass die so genannten „integrationsfähigen“ Schülerinnen und Schüler durchaus eine Chancen im gemeinsamen Unterricht bekommen haben, nämlich zum einen die, gemeinsam zu lernen. Schülerinnen mit und ohne Behinderung hatten die Chance, ihre Lebenslagen kennen zu lernen und andere Lernformen von Kindern mit und ohne Behinderung zu erfahren. Zum anderen besteht für diese so genannten „leichten“ Fälle auch eine verbesserte Chance, den Regelschulabschluss zu erwerben.
Auf der einen Seite wird im gemeinsamen Unterricht natürlich immer noch nach unterschiedlichen Lernprogrammen unterrichtet. Ich finde auch, dass sie nicht sonderlich kompatibel sind. Ich finde aber, dass es auf der anderen Seite trotzdem ein Fortschritt ist, wenn dadurch Lernanregungen auch für Schülerinnen und Schüler mit Behinderungen im gemeinsamen Unterricht gegeben werden.
Auf der Sollseite der Kritik - das will ich dazu sagen - steht allerdings, dass es momentan noch eine Insellösung ist. Nach wie vor - das ist meine Erfahrung aus einer ganzen Reihe von Gesprächen in Förderzentren, die ich besucht habe - gilt der Grundsatz: sich schulischer Integration zu verweigern, bleibt nahezu folgenlos.
Sich für schulische Integration zu engagieren, bleibt eben nicht folgenlos, meine Damen und Herren! Der Preis ist zusätzliche Arbeit und oft zehrendes Engagement. Mit anderen Worten: Wenn man sich zurücklehnt, dann lebt man mitunter ruhiger.
Ich finde auch, dass die Ressourcen, die für schulische Integration zur Verfügung stehen, eher einen Tropfen auf den heißen Stein darstellen. Darüber müsste man diskutieren. Will sagen: Die Gefahr des Ausbrennens in den Förderzentren und die Gefahr der Resignation sollten wir nicht unterschätzen.
Hinzu kommt ein strukturelles Problem: Je mehr gemeinsamer Unterricht auch von den Förderschulen und Förderzentren gefördert wird, desto mehr schwindet für diese Lehrkräfte, zumindest aus ihrer Sicht, ihre eigene Perspektive. Man könnte auch sagen, sie nehmen es zumindest so wahr, als sägten sie an ihrem eigenen Ast. Ein kleines Indiz ist beispielsweise: Je weniger Förderschüler an einer Förderschule unterrichtet werden, desto stärker ist das Einkommen beispielsweise der Schulleitung in Gefahr. Die Schulleitung hat die Regie im Förderzentrum, zumindest bei der Basisförderschule. Ich finde, dass das ein ernst zu nehmendes Signal ist. Das mag derzeit nur eine kleine Größe sein. Meine Erfahrung ist aber die, dass es in den Förderzentren wahrgenommen wird und dass es auf lange Sicht ein grundsätzliches und ernst zu nehmendes Problem ist.
Was ist nun unser Vorschlag? - Unser erster Vorschlag ist, ein flächendeckendes System an Förderzentren in Sachsen-Anhalt zu installieren, in das alle Schulen eingebunden sind. Nach unserer Auffassung braucht es die Bündelung multiprofessioneller Kompetenzen, also von Förderpädagogen, Schulsozialarbeiterinnen, pädagogischen Mitarbeiterinnen, Therapeuten, Integrationshelferinnen und dergleichen. An dieser kleinen exponierten Stelle wird zum Beispiel schon klar, dass so etwas durchaus ein Gewinnmodell für alle Schülerinnen und Schüler sein kann.
Meine Fraktion ist durchaus bereit, darüber zu streiten, ob wir das weiter im Rahmen der Freiwilligkeit tun wollen - dann bedarf es stärkerer Anreizsysteme - oder ob wir nach der Phase des Modellprojekts zum Regelfall übergehen.
Der zweite Vorschlag: Ich bin Anfang Februar mit mehreren Kollegen im Förderzentrum in Weißenfels ins Gespräch gekommen, einfach um ihre Erfahrungen kennen zu lernen. Die dort anwesende Leiterin der Grundschule aus Hohenmölsen hat zu mir gesagt: Wissen Sie, eigentlich muss kein Schüler und keine Schülerin während der
Grundschulzeit in die Förderschule. Eigentlich können die alle mindestens bis zum Ende der Grundschulzeit gemeinsam lernen, und zwar in der Grundschule.
Dieser Vorschlag ist öfter angeklungen, aber zu keiner Zeit so direkt ausgesprochen worden. Davon war ich überrascht. Wir diskutieren bei uns in der Fraktion über diesen Vorschlag seitdem sehr kontrovers und hin und her. Ich will auch sagen, dass es sehr viele schwierige Stellen bei dieser Frage gibt. Eine ist die Gefahr der Überforderungssituation für Kolleginnen und Kollegen, weil es neu ist. Das will ich gern einräumen. Das will ich umso mehr einräumen, als wir für so eine Reform sowohl Förderschul- als auch Grundschullehrerinnen und -lehrer als strategische Partner brauchen.
Ein Argument dafür ist, dass die Grundschule am ehesten den Charakter einer gemeinsamen Schule hat. Dort gehen leistungsstarke Schülerinnen und Schüler noch gemeinsam mit den anderen zur Schule. Sie sind quasi anwesend. Außerdem gelten Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer erfahrungsgemäß - das will ich gern freimütig gestehen - als sehr reformfreudig.
Wir sind deshalb der Auffassung, dass ein Startup-Projekt in dieser Form möglich ist, um einen qualitativen Sprung hin zu einer inklusiven, soll heißen, gemeinschaftlichen Schule zu befördern.
Ein letztes Wort noch zu der Ausnahme, die Sie dem Antrag entnehmen können. Da ist die Rede von besonders begründeten Ausnahmen und spezifischen Behinderungen. Das war in meiner Fraktion ein ausgesprochen heißes und sehr umstrittenes Thema. Ich will auch gern offen bekunden, dass darüber mit knapper Mehrheit abgestimmt wurde.
Ich finde diese Frage berechtigt und legitim. Auf der einen Seite - das habe ich schon gesagt - brauche ich Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer sowie Förderschullehrkräfte als strategische Partner bei einer solchen Reform. Ich darf sie nicht überfordern und muss sie Schritt für Schritt dafür gewinnen. Deswegen ist die Frage, ob man über eine kategorisierte Ausnahme nachdenkt, umstritten. Darüber kann diskutiert werden.
Auf der anderen Seite muss ich natürlich auch einräumen, dass es ein glatter Diskriminierungstatbestand wäre, nicht die individuelle Ausnahme zu begründen, sondern praktisch eine ganze Kategorie auszuschließen. Sie erinnern sich sicherlich, Frau Feußner, dass wir auf dem Podium des Behindertenforums auch darüber diskutiert haben.
Ich war mir, ehrlich gesagt, unsicher. Ich habe mich deshalb noch einmal mit mehreren Praktikern darüber unterhalten und habe übereinstimmend die Botschaft gekriegt, dass Grundschullehrerinnen und Grundschullehrer die eigentlichen Schwierigkeiten eher mit Schülerinnen und Schülern haben, die sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich des Verhaltens haben. Dort besteht also die größere Herausforderung. Man kann nun darüber streiten.
Wie auch immer: Nach meiner Auffassung darf es unser gemeinsames Ziel nicht nur sein, die Zahl der Förderschülerinnen und -schüler zu senken, sondern das Ziel muss es sein, meine Damen und Herren, die Schule zu verändern, sie bereit zu machen für Integration, sie bereit zu machen dafür, dass Vielfalt nicht nur ein Gewinn ist, sondern dass man Vielfalt durchaus auch nutzen
kann, nicht nur im sozialen Sinne, sondern auch im Bereich von individueller Leistungsförderung. Integration kann und muss für alle ein Gewinn sein. Ansonsten verspielen wir die Akzeptanz.
Nach unserer Auffassung - diesen Vorschlag unterbreiten wir Ihnen - kann die Grundschule den Anfang machen. Dort könnte man Erfahrungen sammeln. Nach meiner Auffassung ist mindestens dieser Teil einer, den wir fraktionsübergreifend und parteiübergreifend tragen könnten. Wir beantragen deshalb die Überweisung in die Ausschüsse für Bildung und für Gesundheit und Soziales.
Danke sehr für die Einbringung. - Für die Landesregierung spricht der Kultusminister Herr Professor Dr. Olbertz.
Frau Präsidentin! Verehrte Damen und Herren Abgeordnete! Liebe Frau Bull, wenn Sie es mir nicht übel nehmen: Aber nach dieser Rede ist es fast schade um diesen eigentlich guten Antrag;
Zunächst ist dieser Antrag wieder einmal nachgeschoben, um die Herrschaft über eine Initiative zu erlangen, die eigentlich im Bildungskonvent ergriffen und dort auch schon erörtert worden ist,
Das kann man in der Dokumentation mühelos nachlesen. Aber das ist müßig, weil wir in der Tat vor einer sehr ernsthaften Aufgabenstellung stehen, deren Ernsthaftigkeit ich auch anerkenne.
Ich hoffe sehr, dass unabhängig von diesem Dissens, der noch gar nicht die Sache berührt - das kommt dann noch -, das Parlament einen zumindest einigermaßen belastbaren Konsens erzielen kann; denn wir haben in der Tat sehr ernsthaften Handlungsbedarf.
Das ist der Grund, warum die Landesregierung seit einiger Zeit schon an einem Konzept arbeitet, das in der Tat von der Prämisse ausgeht, möglichst keine sonderpädagogischen Feststellungsverfahren vor der Grundschule mehr zu machen, sondern im Regelfall die Kinder alle in die Grundschule einzuschulen - aber bitte erst dann, wenn wirklich die Voraussetzungen dafür geschaffen sind und wir das Ganze in Bezug auf die Möglichkeiten und die Grenzen dieses Ansatzes hin ausgiebig erörtert haben; denn er hat natürlich auch Grenzen.
Nehmen wir nur einmal Kinder mit schwerer geistiger Behinderung. Diesbezüglich muss ich Ihnen ganz ehrlich
sagen, es wäre in erster Linie diesen Kindern gegenüber unfair, so ein Integrationskonzept einmal eben - -
(Frau Feußner, CDU: Ganz genau! Die Kinder werden gar nicht betrachtet! - Zuruf von Frau Bull, DIE LINKE)