Protokoll der Sitzung vom 07.07.2006

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Ganz zum Anfang, Herr Paqué: Ich trinke keinen Alkohol und treibe mich grundsätzlich nicht an Stammtischen herum. Wer mich kennt, der weiß, dass das nicht so locker dahingesprochen ist, sondern dass mich nur eines umtreibt: Wie kriegen wir die jetzige Situation, die nicht mehr akzeptabel ist, so reguliert, dass das Sozialversicherungssystem, dass das Sozialstaatssystem der Bundesrepublik Deutschland nicht grundsätzlich infrage gestellt wird? - Denn wenn wir diese Diskussion erst einmal aufgedrängt bekommen, dann haben wir gerade auch in Sachsen-Anhalt in erheblichem Maße die Konsequenzen zu tragen.

Aber jetzt konkret zu Ihrem Antrag. Ich unterstütze ausdrücklich die Behandlung des komplizierten Themas, was die Hartz-IV-Bilanz nach knapp anderthalb Jahren für Sachsen-Anhalt, aber auch generell für Deutschland aussagt. Ich muss in diesem Zusammenhang für Sachsen-Anhalt Folgendes konstatieren:

Erstens. Trotz der zurückgehenden Zahl der Arbeitslosen mussten wir feststellen, dass in weiten Phasen auch in diesem Jahr die Zahl der Bedarfsgemeinschaften schneller gewachsen ist als die Zahl der registrierten Leistungsempfänger im Regelkreis des SGB II. Das ist erst einmal nicht zu erklären.

Zweitens. Der Ombudsrat hat zu Recht festgestellt, dass das gesamte Prozedere, der Bürokratismus und das, was man den Menschen, die langzeitarbeitslos werden oder sind, aufbürdet, von diesen in Größenordnungen nicht zu bewältigen ist. Das gilt aber genauso für die Verwaltung. Sie hat in diesem Zusammenhang fast dreieinhalb Millionen Menschen in Deutschland, egal ob es die optierenden Landkreise oder die Arbeitsgemeinschaften betrifft, zu bewältigen. Jede Änderung, jeder Zuverdienst erfordert sofort das Aufrufen der gesamten Aktenlage und hat - neben der Neuantragstellung und der Weiterbewilligung von Leistungsansprüchen - ein ständiges Nachführen von entsprechenden Verwaltungsvorgängen zur Folge. Das ist nicht zu bewältigen.

Wenn wir den Bericht des Ombrudsrats noch mit den Ergebnissen des Bundesrechnungshofs vom 19. Mai 2006 ergänzen, in dem unter anderem - ich will nicht alles aufzählen - festgestellt wird, dass in sechs von zehn Fällen versäumt wurde, Unterhaltsleistungen von Angehörigen in derselben Haushaltsgemeinschaft bei der Leistungsgewährung nachzugehen, dass in sieben von zehn Fällen Vermögensverhältnisse nicht oder nicht ausreichend geprüft worden sind, dann wissen wir, dass zurzeit der überwiegende Anteil der Leistungsakten nicht regulär bearbeitet wird und nicht bearbeitet werden kann.

Ein zweiter und ein dritter Bericht des Bundesrechnungshofes liegen im Entwurf vor. Sie sollen im Oktober verabschiedet werden. Sie sind im Haushaltsausschuss des Bundestages schon behandelt worden. Ich kann nur sagen: Wenn an diesen Stellen nicht deutlich reagiert wird, dann heißt das ganz konkret, dass wir die finanziellen Auswirkungen in diesem Jahr und im nächsten Jahr nicht mehr beherrschen werden.

In der Extrapolation für das Haushaltsjahr 2007 bedeutet das, dass der gesamte Mehrertrag der Mehrwertsteuererhöhung, der dem Bund erhalten bleibt, vollständig für die Mehrkosten für Hartz IV zur Verfügung gestellt werden muss. Das heißt, die Maastricht-Kriterien können nicht erfüllt werden und die Diskussion wird auf einem noch heißeren Niveau zulasten der eigentlich Betroffenen fortgesetzt, die mehrheitlich auf diese Leistungen ganz klar angewiesen sind und für die es zu großen Teilen keine Alternative gibt.

Da sich die Zahl der Fachminister und Fachkollegen auch auf der Arbeitsebene mehrt, die sagen: „Dieses System ist generell nicht mehr reformfähig, es muss auf null gestellt werden und man sollte darüber nachdenken, ein völlig neues System in den Raum zu stellen“, weiß ich, was die Konsequenz wäre: Vor dem Hintergrund der aktuellen Finanzmöglichkeiten dieser Bundesrepublik wäre das ein gravierender Leistungseinbruch für die Betroffenen. Ich denke, das können wir den in diesen Be

darfsgemeinschaften lebenden Menschen nicht wünschen, nicht einmal andeutungsweise.

Unabhängig davon, ob man mit diesem oder jenem Vorschlag auf der richtigen Linie liegt, müssen wir auf jeden Fall einen Meinungsbildungsprozess nach vorn treiben, der auf die Frage gerichtet ist: Wie kriegen wir diese Probleme gelöst, damit die Bundesrepublik nicht an die Kante der Haushaltsmöglichkeiten geführt wird, was die Finanzierung von Sozialstaatsleistungen anbelangt?

Unsere Aufsichtsfunktionen haben in verschiedener Hinsicht Folgendes zutage gefördert: Wir haben Stichproben in Landkreisen, die optieren, gemacht. Dabei haben wir festgestellt, dass knapp 25 % der Leistungsakten nicht in Ordnung sind. Die Leistungsakten sind stichprobenartig herausgezogen, bearbeitet und einer Klärung zugeführt worden.

Dies ist nur für einen Bruchteil der Akten möglich gewesen. Es zeigt aber, dass die Ressourcen, die in den Arbeitsgemeinschaften und in den optierenden Landkreisen zurzeit vor dem Hintergrund des geltenden Leistungsrechts zur Verfügung stehen, nicht ausreichen, um in dieses System eine Transparenz und auch eine Rechtssicherheit für die Leistungsempfängerinnen und -empfänger zu bekommen. Denn letztlich - Sie sagten es zu Recht, Herr Paqué; da gebe ich Ihnen unumwunden Recht - sind diese 16 Seiten für einen Erstantragsteller nur schwer zu bewältigen.

Der Hinweis des Bundes, man sollte sich Dritter, also außenstehender Beratungsleistungen bedienen, ist an dieser Stelle sicherlich nicht hilfreich. Entweder schaffen wir ein System, das mit klareren Pauschalierungen arbeitet und das von jedem Leistungsantragsteller bewältigt und demzufolge durch die Verwaltungsabläufe geprüft werden kann, oder wir müssen uns fragen, inwieweit die Ursprungssysteme, die vorgeschaltet waren, nämlich das Arbeitslosenhilfesystem und das Bundessozialhilfegesetz, nicht vielleicht doch effizienter gewesen sind.

All das ist zurzeit in der Diskussion von Arbeitsgruppen. Ich will das gar nicht vertiefen. Ich will nur darauf hinweisen, dass wir mit einfachen, kleinen, marginalen Veränderungen diese Problematik nicht gelöst bekommen.

Wenn wir gemeinsam daran arbeiten, zumindest auf der Basis von Aktivitäten in Sachsen-Anhalt, von Recherchen bezüglich der Möglichkeiten innerhalb der Strukturen in Sachsen-Anhalt in dem bundespolitisch laufenden Meinungsbildungsprozess vernünftige Lösungen anbieten zu können, dann ist die Behandlung im entsprechenden Fachausschuss genau das Richtige. Ich bin auch durchaus korrekturfähig, wenn es darum geht, diese oder jene Lösung herbeizuführen.

Zumindest reichen die Ressourcen, so wie sie jetzt sind, auf allen Seiten nicht aus, um Hartz IV weiterhin administrierbar zu halten. Weder die Verwaltungsaufwendungen und die Verwaltungskapazitäten noch die finanziellen Ressourcen reichen aus, um das zu prüfen, was leistungsrechtlich zu prüfen wäre. - Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Vielen Dank, Herr Minister Haseloff. - Für die SPD-Fraktion spricht jetzt die Abgeordnete Frau Hampel. Bitte schön.

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die FDP-Fraktion greift mit ihrem Antrag, die Empfehlungen des Hartz-IV-Ombudsrates für SachsenAnhalt zu prüfen, in der Tat ein Thema auf, das wenige Tage nach der Veröffentlichung des Schlussberichts des Ombudsrates nicht ganz überraschend kommt und auch für uns ein wichtiges Thema ist; denn selbstverständlich wollen und werden wir die Analyse des Ombudsrates sehr ernst nehmen und an der Erarbeitung von Verbesserungsvorschlägen zum SGB II an den aufgezeigten Schwachstellen mitwirken.

An dieser Stelle möchte ich den Mitgliedern des Ombudsrates Dank für die von ihnen in den vergangenen eineinhalb Jahren geleistete Arbeit sagen.

(Beifall bei der SPD)

So haben sie wichtige Empfehlungen für die Lösung konkreter Problemstellungen und für strukturelle Verbesserungen erarbeitet und dabei doch nie den Menschen aus dem Blick verloren.

Dem Ombudsrat ist es zu verdanken, dass mit Wirkung vom 1. Juli 2006 die Angleichung der Regelleistungen in Ost und West vollzogen und ein einheitlicher Regelsatz von 345 € gezahlt wird. So war es im Zwischenbericht eingefordert worden.

Der Bericht des Ombudsrates, der uns nunmehr vorliegt, gibt ein unverzerrtes und realistisches Bild von dem wieder, was bei den Argen im Argen liegt. - Übrigens ist dieses Wortspiel keine Erfindung von mir, sondern stammt von dem Leiter einer Arbeitsgemeinschaft, mit dem ich kürzlich gesprochen habe. Er hat mir berichtet, dass er sich tagtäglich mit den immer noch vorhandenen Problemen konfrontiert sieht und dennoch die eigentlichen Aufgaben, nämlich eine optimale individuelle Betreuung, Beratung und Vermittlungsarbeit zu leisten, nicht aus dem Blick verlieren darf.

Wir teilen die Einschätzung des Ombudsrates insbesondere hinsichtlich der Organisationsform der Arbeitsgemeinschaft und ihrer Zuständigkeiten, die - das muss man deutlich sagen - die Folge des Ergebnisses des Vermittlungsausschusses zwischen Bundestag und Bundesrat ist.

Im Übrigen hat auch der Bundesrechnungshof - das wurde auch schon angesprochen -, wie in seinem Bericht vom Mai 2006 nachzulesen ist, Korrekturbedarf gesehen.

Wir unterstützen ebenso die Forderung des Ombudsrates, endlich einheitliche arbeits-, dienst- und tarifrechtliche Regelungen für das Personal in den Verwaltungen der Arbeitsgemeinschaften zu schaffen, da auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die wirklich mit sehr viel Engagement und Fleiß die Bescheide bearbeiten, immer noch Situationen ausgesetzt sind, die so nicht mehr tragbar sind.

Es muss Änderungen geben, damit in der Zukunft eine effektivere Umsetzung der Grundsicherung für Arbeitsuchende ebenso wie eine Gleichbehandlung der Mitarbeiter der Arbeitsgemeinschaften gewährleistet ist.

Eine weitere Einschätzung des Ombudsrates, die wir teilen, betrifft den Leistungsmissbrauch. Das Thema ist angesprochen worden. Es liegt auch Ihrem Antrag zugrunde. Missbrauch liegt nicht vor, wenn die Betroffenen Möglichkeiten nutzen, die das Gesetz zulässt. Deshalb lehnen wir die Beteiligung an einer generellen Miss

brauchsdebatte ab und werden auch die Forderungen des Wirtschaftsministers nicht unterstützen, durch die Einführung eidesstattlicher Erklärungen bei der Beantragung des Arbeitslosengeldes II falsche Angaben künftig mit Haftstrafen zu bedrohen.

(Beifall bei der SPD und bei der Linkspartei.PDS)

Diese Forderung schießt deutlich über das Ziel hinaus.

(Herr Gürth, CDU: Das ist doch merkwürdig! Wenn ich bei der Steuer bewusst eine falsche Angabe mache, hat es eindeutig diese Konsequenz! - Zurufe von der Linkspartei.PDS: Weiterreden!)

- Ich bekomme gerade den Hinweis, ich soll weiterreden. Meine Redezeit läuft auch gleich ab. Also rede ich weiter. Vielleicht haben Sie nachher eine Frage.

Tatsächlich wird die Missbrauchsquote von Experten nur auf 5 % geschätzt. Eine exakte Bezifferung ist nicht möglich. Wir müssen uns - ich denke, darin sind wir uns alle einig - endlich von diesem unerträglichen Vorwurf des Missbrauchs verabschieden und einen unverstellten Blick auf die Realität zulassen.

(Beifall bei der Linkspartei.PDS)

Die politischen Anstrengungen, die jetzt unternommen werden müssen, bestehen darin, den eigentlichen Vermittlungsprozess weiter zu optimieren und sich auf die Bereitstellung neuer, zusätzlicher Arbeitsangebote für die Betroffenen zu konzentrieren. Der Landesregierung obliegt es, sich dafür einzusetzen, die vorhandenen Gesetzeslücken zu schließen.

Davon abgesehen, meine Damen und Herren, Leistungsmissbrauch - wohlgemerkt: in Einzelfällen - hat es immer gegeben und wird es auch weiterhin in Einzelfällen geben. Das Ziel muss es sein, durch geeignete und verhältnismäßige Kontrollinstrumentarien diesem Missbrauch zu begegnen.

Kurz noch zu dem Antrag der FDP: Herr Paqué sagte, er hätte in dem Antrag formuliert, die Landesregierung solle prüfen, ob die Empfehlungen des Ombudsrates für Sachsen-Anhalt anwendbar sind. Das „wie“ steht allerdings nicht in Punkt 1. Insofern haben wir unseren Antrag erweitert. Außerdem geht es darum, Wege und Maßnahmen zu finden, um die Missbrauchstatbestände zu verhindern.

Auch wir sind der Meinung, damit sollen sich die Ausschüsse für Wirtschaft und Arbeit sowie für Soziales genauer beschäftigen. Ich bitte daher um Zustimmung zu unserem Änderungsantrag. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Vielen Dank, Frau Hampel. Möchten Sie eine Frage von Herrn Gürth beantworten? - Sie haben gerade Ihre erste Rede im Landtag gehalten und bekommen schon eine Frage gestellt. Herzlichen Glückwunsch!

(Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)

Das war eine gute Rede. Vielleicht kann man sie mit einer guten Frage noch toppen.

Mich interessiert einmal Ihre Haltung oder die Ihrer Fraktion zu dem Sachverhalt, dass man, wenn man sich Vermögensvorteile erschleichen will, indem man bewusst

falsche Angaben in der Steuererklärung macht, entsprechend rechtlich behandelt wird. Das ist Betrug. Man schädigt die Gemeinschaft aller Steuerzahler, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen.

Wenn ich bei diesen Leistungen, die auch von der Gemeinschaft der Steuerzahler finanziert werden, bewusst falsche Angaben mache - -

Dann ist es auch Betrug.

Ja, eben. Warum soll das nicht gleich behandelt werden? Das hat doch Herr Dr. Haseloff nur ansatzweise vorgetragen, nicht als seine Meinung, sondern als Meinung des Gesprächskreises.

(Unruhe bei der SPD und bei der Linkspar- tei.PDS)