Protokoll der Sitzung vom 07.07.2006

Gezielte Nachfragen im Ausschuss unter dem Punkt Verschiedenes konnten nur sehr lückenhaft beantwortet

werden. Auch der Umfang des geplanten Projektes war zunächst unklar.

Zu meiner Überraschung - das muss ich ehrlich gestehen - gab es bereits einige Tage später in der eilig einberufenen Pressekonferenz am 28. Juni 2006 durch den Ministerpräsidenten und den Wirtschaftsminister die Ankündigung eines Konzepts mit dem Namen „Bürgerarbeit zum Abbau der Arbeitslosigkeit in Sachsen-Anhalt“. Es wurde bei dieser Pressekonferenz vorgestellt.

Ich war etwas überrascht, Herr Minister; denn wir haben eine Woche vorher im Ausschuss darüber geredet. Da hörte es sich anders an. Es führte auch zu einem empörten Eingriff des Vorsitzenden, was ich mir erlauben würde, unter dem Punkt Verschiedenes über ein noch fernes Projekt Fragen zu stellen. Eine Woche später gab es eine Pressekonferenz. Es wurde bestens präsentiert.

(Minister Herr Dr. Haseloff: So schnell sind wir!)

Das ist verdammt schnelle Arbeit des Ministeriums für Wirtschaft und Arbeit. Dazu kann ich nur herzlich gratulieren.

(Zustimmung bei der CDU)

Meine Damen und Herren! Das Konzept soll zunächst im Rahmen eines Modellprojektes umgesetzt werden, zunächst mit 20 Teilnehmern und in Kürze mit weiteren 100 Teilnehmern. Ich muss dazu sagen - vielleicht ist das auch ein Rest meiner wissenschaftlichen Vergangenheit -, bei dieser niedrigen Teilnehmerzahl stellt sich eigentlich die Frage, inwieweit man überhaupt von einem ausgewachsenen Modellprojekt sprechen kann. Ich glaube, diese Teilnehmerzahl ist auch regional relativ begrenzt. Aber dazu können Sie vielleicht noch Auskunft geben, Herr Minister.

Klar ist bei diesem Projekt zunächst nur, dass fast alles unklar ist. Auch nach der Pressekonferenz war es nicht viel klarer geworden. Deshalb stellt die FDP-Fraktion den Antrag, das Projekt „Bürgerarbeit“ in den Ausschüssen vorzustellen, eingehend zu erläutern und darüber zu beraten.

Es stellen sich dabei einige grundlegende Fragen: Wie soll das Projekt in die bereits bestehenden arbeitsmarktpolitischen Projekte und Maßnahmen des Bundes und des Landes integriert werden? - Wer sich näher mit Fördermaßnahmen nach dem Sozialrecht, mit dem SGB II und insbesondere mit dem SGB III, beschäftigt, der stellt fest, dass es eine Vielzahl von Fördermaßnahmen gibt. Diese unterscheiden sich in ihrer Gestaltung und hinsichtlich ihrer Adressaten.

Beispielhaft seien die Arbeitsgelegenheiten, das Einstiegsgeld, Trainings-, Beratungs- und Vermittlungsmaßnahmen, die Förderung der beruflichen Weiterbildung, Leistungen zur Förderung der Teilhabe am Arbeitsleben, der Gründungszuschuss und schließlich auch der Ein-Euro-Job erwähnt.

Bei dem Ein-Euro-Job muss man - das, was Frau Dirlich zum Ende Ihrer Rede gesagt hat, klang schon ein bisschen in diese Richtung - bedenken, dass man, wenn man eine übliche Arbeitzeit unterstellt, bei einem Zusatzeinkommen von 1 € pro Stunde sehr schnell bei einer Größenordnung von 80 € und mehr im Monat ist. Das entspricht ungefähr der Entlohnung, die für die Arbeit in diesem avisierten Modellprojekt gezahlt werden soll.

Meine Damen und Herren! Zwar richten sich die genannten Fördermaßnahmen an unterschiedliche Zielgruppen. Doch offenkundig ist: Es gibt bereits eine Vielzahl von Maßnahmen. Warum brauchen wir also eine weitere? Wie ist eine derartige Fördermaßnahme mit den bisherigen zu vereinbaren?

Nach den vorliegenden Informationen sollen - das ist der Kernpunkt - unbefristete sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze geschaffen werden. Das klingt zunächst gut. Denn wer wäre schon gegen die Schaffung von zusätzlichen unbefristeten sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplätzen in unserem Land?

Allerdings möchte ich an dieser Stelle etwas vorausschicken, auf das ich anschließend nicht weiter zurückkommen will: Ein Modellprojekt kann eigentlich nur befristet sein, wenn es denn ein echtes Modellprojekt ist. Es ist mir nicht ganz klar, wie man gerade die Wirkung von unbefristeten Verträgen in einem Modellprojekt überprüfen will. Man kann eigentlich nur befristete Verträge anbieten. Damit ist aber der Modellcharakter mit Blick auf das, was später folgen soll, nur partiell.

Das, was man eigentlich vorhat, ist etwas anderes. Das Ziel ist nämlich die Schaffung unbefristeter Arbeitsplätze. Das ist in vielerlei Hinsicht etwas anderes, etwa in Bezug auf die Reaktionen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer sowie im Bezug auf die Konsequenzen für den Arbeitsmarkt. Hier gibt es schon ein vorgelagertes Grundproblem. Das, was hier als längerfristiges politisches Ziel angekündigt wird, kann man eigentlich gar nicht modellhaft durchexerzieren.

Wenn man sich das Ganze genauer ansieht, dann geht es hierbei nicht um die Schaffung unbefristeter sozialversicherungspflichtiger Arbeitsplätze, was die Herzen höher schlagen lassen würde, sondern es geht letztlich - an dieser Stelle mögen Sie von der PDS Urängste der FDP wittern, ich glaube aber nicht, dass das Urängste sind - einfach um die Schaffung eines öffentlichen oder eines vollständig öffentlich finanzierten Beschäftigungssektors. Das mag gut gemeint sein. Aber man ist versucht zu sagen: Sie wussten nicht, was sie tun.

(Frau Dirlich, Linkspartei.PDS: Doch!)

Nach unserer Auffassung ist zu befürchten, dass es auf dem ersten Arbeitsmarkt Verdrängungseffekte geben wird. Zwar soll das Projekt Menschen mit schlechten Vermittlungschancen in Arbeit bringen. Dabei möchte ich Folgendes bemerken: Das mag bei älteren Arbeitnehmern, die kurz vor der Ruhestandsgrenze stehen, noch relativ gut zu erfassen sein. Aber die Zuordnung jüngerer Arbeitskräfte unter 55 Jahren als praktisch nicht mehr vermittelbar ist eigentlich eine Stigmatisierung am Arbeitsmarkt. Das sage ich ganz deutlich.

Wenn ich etwas anekdotisch hinzufügen darf: Wir als FDP-Fraktion hatten gestern den irischen Botschafter zu Gast in Magdeburg, der über die Entwicklung Irlands in den letzten 20 Jahren gesprochen hat. In den 80er-Jahren hatte Irland 20 % Arbeitslosigkeit. Ein Großteil dieser Arbeitslosen galt als nicht mehr vermittelbar.

Heute hat Irland 4 % Arbeitslosigkeit. Das Land ist wirtschaftlich dramatisch gewachsen. Im Zuge dieses Wachstums ist für sehr viele Arbeitskräfte, die bei der damaligen Arbeitsmarktlage als nicht mehr vermittelbar angesehen wurden, ein Arbeitsplatz entstanden. Das ist auch völlig logisch. Wenn die Wirtschaft insgesamt

wächst, wenn die Industrie wächst, dann wachsen auch die typischen einfachen Dienstleistungsjobs, die dann auch noch von schwer Vermittelbaren ausgefüllt werden können.

So einfach ist das nicht: Sie können die Welt nicht in nicht vermittelbare und in vermittelbare Personen einteilen. Das ist eine schwerwiegende Stigmatisierung. Eine solche Zuordnung wäre allenfalls für die Ältesten auf dem Arbeitsmarkt denkbar in dem Sinne, dass man sagt: Diese Menschen haben gar keine Chance mehr. Aber für das Gros auch der - wohlgemerkt - Minderqualifizierten ist das mit größter Vorsicht zu genießen.

Meine Damen und Herren! Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt werden nach der Einrichtung eines öffentlich geförderten Beschäftigungssektors weniger, sie werden zum Teil verschwinden oder sie werden - das wird die Hauptsache sein - gar nicht erst entstehen. Öffentlich geförderte Beschäftigung geht grundsätzlich zulasten von regulärer Beschäftigung. Dies betrifft vermutlich die Kommunen, das Land, aber es betrifft vor allem die freien Träger.

Meine Damen und Herren! Es wird sehr schwierig sein festzustellen, ob ein freier Träger, der einen schwer vermittelbaren Arbeitslosen bei 100 % öffentlicher Finanzierung einstellt, eine weitere Einstellung, die er in der Zukunft gemacht hätte, vielleicht deshalb unterlässt, weil der Betreffende, der vollständig aus verschiedenen öffentlichen Töpfen finanziert wird, gute Arbeit leistet. Ich wünsche ihm, dass er eine gute Arbeit leistet; das ist völlig klar. Aber im Ergebnis ist damit zu rechnen, dass das Wachstum auch in dem weiten Bereich der Wohlfahrtsverbände nicht mehr so verlaufen wird, wie es verlaufen würde, wenn wir den öffentlich geförderten Sektor nicht hätten.

Lieber Herr Minister, diese Substitutionsprozesse zwischen dem öffentlich geförderten Bereich und dem kommerziellen Bereich bzw. auch dem Non-Profit-Sektor - wie es neuerdings auch in der Pressekonferenz genannt wird - ist eine sehr komplizierte Angelegenheit. Zudem stellen sich auch Fragen zu den Personal- und Stellenplanungen in den Kommunen.

Meine Damen und Herren! Aus unserer Sicht , aus der Sicht der FDP verlassen CDU und SPD mit dem Projekt „Bürgerarbeit“ die klare Ausrichtung zugunsten regulärer Beschäftigung.

Herr Minister, wenn Sie es mir erlauben, möchte ich feststellen: Mir fällt schon auf, dass sich das Wirtschafts- und Arbeitsministerium in den ersten Wochen und Monaten Ihrer Amtszeit sehr stark zu einem reinen Arbeitsministerium entwickelt hat. Ich höre relativ wenig über Ansiedlungsoffensiven und über den Versuch, im ersten Arbeitsmarkt Bewegung zu schaffen.

(Minister Herr Dr. Haseloff: Sie müssen mich ein- mal besuchen! - Herr Scheurell, CDU: Nein!)

- Ja, so ist es doch, aber sicher. Wir hören doch ständig nur etwas über irgendwelche Projekte des zweiten Arbeitsmarktes und darüber, wie wir durch eine noch geschicktere Finanzierung unter Heranziehung von EUMitteln, Bundesmitteln und Mitteln aus den Arbeitskassen zusätzliche Arbeitsplätze schaffen können. Aber die Tatsache, dass gerade im Dienstleistungsbereich mit niedriger Produktivität die Arbeitsplätze vom ersten Arbeitsmarkt abhängen, scheint aus der Betrachtung herauszufallen.

(Unruhe)

Meine Damen und Herren! Diese Ausrichtung der Politik von CDU und SPD kritisieren wir. Das ist aus ordnungspolitischer Sicht der falsche Weg.

Meine Damen und Herren! Wir stehen mit diesem Urteil keineswegs allein. Es bedarf eines Blickes in die überregionalen Zeitungen. Hätten Sie vor einigen Tagen den Wirtschaftsteil der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ gelesen, dann wüssten Sie, dass man sich dort die größten Sorgen darüber macht, was sich in Sachsen-Anhalt anbahnt, nämlich dass das Land letztlich eine öffentliche Vollfinanzierung seiner Arbeitslosen anstrebt. Es mag ein wenig überspitzt formuliert sein, aber, meine Damen und Herren, es ist eine sehr ernste Sache.

(Frau Mittendorf, SPD: Schön!)

- Frau Mittendorf, es ist eine sehr ernste Sache. - Ich habe mich vier Jahre lang intensiv an der Diskussion über den Solidarpakt beteiligt. Mein Kollege Bullerjahn hat ja die Freude, das in der Finanzministerkonferenz jetzt weiterzuführen. Ich kann nur sagen: Wenn die Kollegen sehen, dass wir die Fördermittel bis hin zu EU-Mitteln in geschickter Weise dazu nutzen, um die Arbeitslosen in unserem Land zu finanzieren, statt uns um die Bereiche zu kümmern, die uns längerfristig die einzige Möglichkeit bieten, aus der gefährlichen Abhängigkeitssituation des Solidarpaktes herauszukommen, nämlich die Wirtschaft und den ersten Arbeitsmarkt zu stärken, dann wird das bei den anderen Ländern zu mehr als nur einem Stirnrunzeln führen.

Meine Damen und Herren! Es bleiben Fragen nach den Kosten des Projektes. Es stellt sich die Frage - ich habe es schon angesprochen -, welche Töpfe von der EU bis zum Arbeitslosengeld I hier im Einzelnen angezapft werden sollen. Es geht um das Arbeitslosengeld, das auf dem Versicherungsprinzip beruht. Nach Ihren Vorstellungen sollen die Menschen, die für den Fall ihrer Arbeitslosigkeit Geld in die Versicherung einzahlen, plötzlich Mitfinanzierer eines dauerhaft öffentlich geförderten Beschäftigungsprogramms werden.

(Ein lauter Signalton ist zu hören - Oh! bei der SPD - Zuruf von der CDU: Das war ein Zeichen!)

- Das war ein sehr deutliches Zeichen. Die Lampe blinkt aber noch; ich habe also noch etwas Zeit.

Meine Damen und Herren! Sollte an dieser Stelle in der Tat mit den grundlegenden Prinzipien des deutschen Sozial- und Versicherungsrechts ein weiteres Mal gebrochen werden, hielte ich das für höchst bedenklich.

Meine Damen und Herren! Wir haben schon darüber gesprochen, was mit den Anträgen zu geschehen hat. Wir freuen uns, dass unser Antrag, die entsprechende Berichterstattung und Diskussion in den Ausschüssen durchzuführen, bei Ihnen Anklang findet.

Wir können dem PDS-Antrag leider nicht zustimmen, weil er einfach zu weit von unseren Vorstellungen entfernt liegt. Er beschreibt gewissermaßen den Endpunkt, zu dem ein solches Projekt, wie es die Landesregierung jetzt avisiert, hinführen könnte. Wir werden dem nicht zustimmen.

Zu dem Änderungsantrag der Fraktionen der CDU und der SPD müssen wir leider sagen: Wenn das Wort „begrüßt“ nicht darin enthalten wäre, sondern nur von einer „Kenntnisnahme“ die Rede wäre, würden wir diesem Antrag zustimmen können. So können wir es leider nicht. Ich habe es Herrn Gürth auch schon gesagt.

(Oh! bei der CDU und bei der SPD)

Meine Damen und Herren! Ich hoffe, dass wir im Ausschuss trotzdem die nötigen Informationen bekommen, um uns ein umfassendes Bild zu machen. - Ich bedanke mich, Herr Präsident, für Ihre Geduld.

Danke schön. Wir haben in der Tat geduldig zugehört. Herzlichen Dank, Herr Professor Paqué.

(Herr Prof. Dr. Paqué, FDP: Ich verzichte nach- her auf meinen Wortbeitrag!)

- Gut, dann holen wir den Zeitverzug dann wieder auf. - Das war die Einbringung von Professor Paqué. Jetzt hat für die Landesregierung Minister Haseloff das Wort. Bitte schön.

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Erst einmal ganz herzlichen Dank. Es war ein große Ehre für mich, von Ihnen derart akademisch auseinander genommen zu werden. Das macht man nur, wenn man einen echten Sparringspartner hat, den man wegen seiner Innovationskraft und seiner Standkraft bewundert.

(Heiterkeit und starker Beifall bei der CDU und bei der SPD)

Das Zweite ist: Wenn Sie so zeitig aufstehen wie ich - ich stehe immer um 5 Uhr auf -, dann lade ich Sie in den nächsten Tagen dazu ein, mich einfach einmal zu begleiten. Dann werden Sie sehen, wie viele Stunden man in der Woche zustande bekommt, wenn man als Wirtschaftsminister richtig arbeitet, auch am Wochenende nicht nach Hause fährt und richtig akquiriert.

(Herr Scheurell, CDU: Das stimmt!)