Protokoll der Sitzung vom 18.03.2010

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich eröffne hiermit die 73. Sitzung des Landtages von SachsenAnhalt. Dazu möchte ich Sie, sehr verehrte Anwesende, auf das Herzlichste begrüßen. - Ich bitte, Platz zu nehmen und mir zuzuhören.

Meine Damen und Herren! Ich stelle die Beschlussfähigkeit des Hohen Hauses fest.

(Unruhe)

Wenn Sie zuhören, darf ich Ihnen jetzt die Entschuldigungen von Mitgliedern der Landesregierung bekanntgeben. Für die 39. Sitzungsperiode des Landtages liegen mir folgende Entschuldigungen vor:

Herr Staatsminister Robra entschuldigt sich wegen Urlaubs für heute und morgen.

(Herr Wolpert, FDP: Freizeit!)

- Freizeit.

Herr Minister Hövelmann nimmt an der 5. Konferenz der für die Integration zuständigen Minister und Senatoren der Länder in Düsseldorf teil und wird heute um 14 Uhr die Sitzung verlassen und morgen ganztägig nicht anwesend sein.

Herr Minister Professor Olbertz entschuldigt sich ganztägig für morgen. Er nimmt an der Präsidiumssitzung des Deutschen Evangelischen Kirchentages teil.

Frau Ministerin Professor Dr. Kolb nimmt heute Mittag an der Feierstunde aus Anlass des 20. Jahrestages der ersten frei gewählten Volkskammer der DDR in Berlin teil.

Herr Minister Dr. Daehre entschuldigt sich für morgen in der Zeit von 10 bis 14 Uhr. Er wird an der Eröffnung der Messe SaaleBau 2010 in Halle teilnehmen. - Das sind die Entschuldigungen der Mitglieder der Landesregierung.

Meine Damen und Herren! Ich komme zur Tagesordnung der 39. Sitzungsperiode.

Die Fraktion der FDP beantragt eine Aktuelle Debatte zum Thema „Agieren der Landesregierung im Vorfeld der Veranstaltung zur Lehrerfortbildung ‚Diktaturvergleich als Methode der Extremismusforschung’“. Hierzu liegt ein Antrag in der Drs. 5/2504 vor. Dieser wird unter Tagesordnungspunkt 1 b behandelt.

Wie im Ältestenrat vereinbart, werden wir diesen Tagesordnungspunkt mit der Aktuellen Debatte morgen als ersten und den Tagesordnungspunkt 9 als zweiten Tagesordnungspunkt beraten.

Meine Damen und Herren! Das waren die Anmerkungen zur Tagesordnung. Wünscht jemand noch irgendetwas zu ändern? - Das ist nicht der Fall. Dann bitte ich um Zustimmung. Wer der Tagesordnung zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. - Zustimmung bei allen Fraktionen. Damit ist die Geschäftsgrundlage hergestellt worden.

Zum zeitlichen Ablauf. Wir werden unsere Sitzung gegen 19 Uhr beenden. Wir sind um 20 Uhr zu einer parlamentarischen Begegnung mit dem Verband der freien Berufe eingeladen. Bis dahin können Sie noch ein wenig relaxen.

Meine Damen und Herren! Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 a auf:

Aktuelle Debatte

20 Jahre erste freie Volkskammerwahl in der DDR

Antrag der Fraktion der SPD - Drs. 5/2499

Wie bereits bekannt gegeben, werden wir das zweite Thema der Aktuellen Debatte morgen beraten.

Die Redezeit in der Aktuellen Debatte beträgt wie vereinbart zehn Minuten für die Fraktionen und für die Landesregierung. Die Redereihenfolge wird sein: SPD, DIE LINKE, CDU und FDP.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Bevor ich der Antragstellerin, der SPD das Wort erteile, erlaube ich mir, anlässlich des Tages eine Erklärung abzugeben.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! In der Reihe der Erinnerungstage an die friedliche Revolution von 1989 und 1990 gedenken wir heute eines weiteren herausragenden Datums, des 18. März 1990. Ich begrüße es ausdrücklich, dass der Landtag von Sachsen-Anhalt dieses Ereignis mit einer Aktuellen Debatte würdigt.

Die Volkskammer der DDR wurde vor 20 Jahren erstmals wirklich demokratisch legitimiert. Es wurde gewählt und nicht gefaltet. Damit war die Arbeit der Volksvertreter auf eine breite Basis gestellt; sie handelten im wahrsten Sinne des Wortes im Auftrag der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger der DDR.

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Uns allen ist bewusst, welche große Errungenschaft diese freie Volkskammerwahl vom März 1990 darstellt. Sie war das Ergebnis tiefgreifender Umwälzungen im Zuge massenhafter Bürgerproteste. Ich selbst habe als stellvertretender Wahlleiter im Bezirk Magdeburg eine ganz persönliche Erinnerung an diesen Tag, an dem die Menschen erstmals frei und geheim darüber abstimmen konnten, wer ihre Geschicke politisch bestimmen sollte. Es war ein ungewohntes, aber gleichzeitig auch großartiges Gefühl, das ich - wie wir alle - wohl niemals vergessen werde.

Dass die Demokratiebewegung nicht wie 1953 im Berlin, 1956 in Budapest oder 1968 in Prag mit Panzern niedergewalzt worden war, war zum einen die Folge des Beharrungsvermögens der demokratischen Kräfte. Es war aber auch Ziel und Höhepunkt einer langfristig angelegten Friedens- und Entspannungspolitik in Europa. Deshalb gilt es heute derer zu gedenken, die überall auf unserem Kontinent mitgeholfen haben, das Tor zur Freiheit aufzustoßen und Demokratie möglich zu machen.

Unzählige Mitglieder der Bürgerbewegungen in Mittel- und Osteuropa wären ebenso zu nennen wie die Frauen und Männer, die sich als Staatspolitiker ihrer Verantwortung für Frieden und Freiheit bewusst waren und hieraus die Konsequenz ihres Handelns zogen.

Meine Damen und Herren! Die Wahl vom 18. März 1990 war aber auch ein deutliches Plebiszit für die schnelle Wiedervereinigung Deutschlands. Eindeutig erzielten die politischen Kräfte die besten Ergebnisse, die sich für den schnellen Weg zur deutschen Einheit, den Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes einsetzten.

Ich will an dieser Stelle nicht auf die Diskussion eingehen, nach welchem Verfahren die Wiedererlangung der

staatlichen Einheit Deutschlands am besten hätte erfolgen sollen. Meine feste Überzeugung ist jedoch, dass das Zeitfenster für das Erreichen dieses Ziels nur für eine ganz bestimmte Zeit offen stand. Spätestens mit dem Staatsstreich gegen den sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow am 19. August 1991 hatte sich die Großwetterlage in Europa verändert. Vor diesem Hintergrund sind die Abgeordneten der Volkskammer mit ihrer Entscheidung ihrer hohen historischen Verantwortung gerecht geworden.

Meine Damen und Herren! Als bemerkenswert empfinde ich aber auch die Erklärung der Volkskammer vom 12. April 1990. Bereits in ihrer 2. Sitzung übernahmen die Abgeordneten öffentlich eine Verantwortung, welche allen Deutschen aus unserer Geschichte erwächst. Dies bedeutete eine grundlegende Veränderung in unserem Selbstverständnis. In der genannten Erklärung heißt es - ich darf zitieren -:

„Durch Deutsche ist während der Zeit des Nationalsozialismus den Völkern der Welt unermessliches Leid zugefügt worden. Nationalsozialismus und Rassenwahn führten zum Völkermord, insbesondere an den Juden aus allen europäischen Ländern, an den Völkern der Sowjetunion, am polnischen Volk und am Volk der Sinti und Roma. Diese Schuld darf niemals vergessen werden. Aus ihr wollen wir unsere Verantwortung für die Zukunft ableiten.“

Meine Damen und Herren! Dem Mut der Abgeordneten, die Wahrheit endlich als Wahrheit anzusprechen, zolle ich heute noch meinen Respekt. Denn an die Vergangenheit zu erinnern heißt zu allen Zeiten, auch für die Zukunft zu lernen. Dieses Bekenntnis, das die Abgeordneten am 12. April 1990 ablegten, ermahnt uns deshalb, Demokratie und Rechtsstaat niemals als Zustand, sondern immer als Prozess zu begreifen, für den wir uns dauerhaft engagieren müssen.

Meine Damen und Herren! Der damalige Bundestagspräsident Thierse bezeichnete die erste frei gewählte Volkskammer darüber hinaus als Schule der Demokratie. Die Schule war jedoch nicht nur Lernort; es musste Grundsätzliches geleistet werden, und das unter erheblichem Zeitdruck. Mir sind aus der Geschichte keine Beispiele bekannt, wo in einem Parlament in ähnlich kurzer Zeit ähnlich weitreichende Entscheidungen getroffen werden mussten, und das in einem Parlament, das quasi nebenher seine eigene Auflösung professionell organisieren musste.

Für die geleistete Arbeit gebührt allen Beteiligten, den Abgeordneten, ihren Mitarbeitern sowie den Beratern unser herzlicher Dank. Sie haben mit ihrer Arbeit und ihren Entscheidungen auch die Wiedergründung unseres Bundeslandes Sachsen-Anhalt ermöglicht. Wir Parlamentarierinnen und Parlamentarier sind aufgefordert, in unserem jungen Landesparlament dauerhaft demokratisches Wirken mit und für die Bürger zu gestalten. Unser aller Verpflichtung ist es, die Basis der Demokratie in Sachsen-Anhalt weiter zu festigen und für unsere Nachkommen dauerhaft zu sichern.

Dabei dürfen wir den Wert der Demokratie nicht nur in Cent und Euro messen. Demokratie ist mehr. Demokratie braucht unser ganzes Herz und unseren ganzen Verstand. Ich glaube, das ist auch das Erbe der friedlichen Revolution von 1989. - Herzlichen Dank.

(Beifall im ganzen Hause)

Meine Damen und Herren, danke, dass Sie mir zugehört haben. Ich erteile jetzt der Antragstellerin, der SPD-Fraktion das Wort. Herr Dr. Fikentscher, Sie haben das Wort. Der Ministerpräsident möchte nach Ihnen sprechen.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Heute vor 20 Jahren, am 18. März 1990, wurde die DDR zu einem demokratischen Land. Das Volk wählte in einer freien, gleichen und geheimen Wahl seine Vertreter. Es übertrug ihnen weitreichende Vollmachten, von der Änderung der Verfassung über die Wahl einer neuen Regierung bis hin zum Mandat für die Herstellung der deutschen Einheit.

Vorausgegangen war die Herbstrevolution 1989. Um die errungene Freiheit zu bewahren, brauchte man sehr bald demokratische Strukturen. Anders als in Polen und in der Tschechoslowakei hatte sich in der DDR keine dominierende politische Kraft mit einer überragenden Persönlichkeit an der Spitze herausgebildet, die fähig gewesen wäre, rasch die Führungsrolle im demokratischen Umwandlungsprozess zu übernehmen.

Bei uns wirkten viele unterschiedliche Kräfte, die unter erheblichem Zeitaufwand zum Ausgleich gebracht werden mussten. Die Staatsgewalt bewegte sich in diesen Wochen nur noch mühsam auf zwei Krücken. Zum einen waren das die vorhandenen Strukturen, von denen keine Kraft mehr ausging, zum anderen die nicht demokratisch legitimierten Runden Tische.

Volkskammerwahlen waren aber erst für den 6. Mai 1990 vorgesehen. Doch als die Macht immer mehr zerbröselte, Legitimität und Kalkulierbarkeit dahin waren, auch wirtschaftliche Hilfe von außen ausblieb, fasste der Zentrale Runde Tisch am 28. Januar 1990 zwei Beschlüsse: die Bildung einer Regierung der nationalen Verantwortung mit zusätzlich acht Oppositionsvertretern als Minister und zugleich vorgezogene Neuwahlen der Volkskammer am 18. März 1990. Der 6. Mai blieb den ersten freien Kommunalwahlen vorbehalten.

Der Wahlkampf war für uns alle völlig neu, mit großer Anstrengung jeglicher Art verbunden und ohne jede Regel. Es ging nicht immer fair zu, aber alles war von einem ungeheuren Gefühl der Freiheit getragen. Für die Kandidatenaufstellung in einzelnen Wahlkreisen war keine Zeit. Folglich entschied man sich für eine reine Verhältniswahl mit Listen in den 15 Bezirken. Die Wahl selbst verlief glatt; noch bewährte sich das alte System.

An diesem 18. März 1990 strömten 93,3 % der Wahlberechtigten in die Wahllokale, mehr als jemals danach. Sie wussten, dass es um ihre Zukunft ging, obgleich sehr viele keine richtige Vorstellung davon hatten. Dieses große Interesse setzte sich später bei den Einschaltquoten der im Fernsehen übertragenen Volkskammersitzungen fort. Es waren die ersten freien Wahlen nach 58 Jahren. Jemand musste 79 Jahre alt sein, um schon einmal an freien Wahlen teilgenommen zu haben.

Es gab 24 Wahlvorschläge. Wegen der fehlenden Sperrklausel kamen zwölf in die Volkskammer. Das Ergebnis überraschte alle. Entgegen den Vorhersagen gewann nicht die erst vor fünf Monaten neu gegründete SPD; sie erhielt nur 21,7 %. Eindeutige Wahlsiegerin war die Allianz für Deutschland mit 48,4 % der Stimmen, davon 40,9 % für die CDU. Die bisherige Staatspartei SED - inzwischen PDS genannt - wurde mit 16,2 % der Stim

men beinahe geviertelt. Alle während der Revolution so verdienstvollen Bürgerbewegungen blieben weit unter 5 %.

Die Volkskammer stand vor beispiellosen Herausforderungen. Sie hatte sich selbst zu organisieren, ein funktionsfähiges parlamentarisches Regierungssystem in Gang zu setzen, in einem ruinierten Land wenigstens die akuten wirtschaftlichen und sozialen Probleme so gut es ging zu lösen und schließlich: sich selbst überflüssig zu machen, aber, meine Damen und Herren, erst nach getaner Arbeit. In dieser Hinsicht gab es allerdings ein breites Meinungsspektrum.

Doch zunächst kam der 5. April 1990. Nach einem ökumenischen Gottesdienst in der Berliner Gethsemanekirche - wer dabei war, vergisst das nie - trat die Volkskammer zum ersten Mal zusammen. Sie wählte Sabine Bergmann-Pohl von der CDU zu ihrer Präsidentin und damit zum amtierenden Staatsoberhaupt. Auf die Wahl eines Präsidenten - wie ursprünglich vorgesehen - wurde auch später verzichtet. Erster von sechs Vizepräsidenten wurde Reinhard Höppner, der sich durch seine Verhandlungsführung sehr schnell höchstes Ansehen erwarb. Frau Bergmann-Pohl schrieb später über ihn:

„Über die Parteigrenzen hinweg war vor allem die Zusammenarbeit mit Dr. Höppner ganz ausgezeichnet. Ohne sein Verständnis, seine Hilfe hätte ich es kaum geschafft, neben dem Amt der Parlamentspräsidentin auch noch das des amtierenden Staatsoberhauptes auszufüllen.“

Vier Tage später einigten sich die Allianz für Deutschland, SPD und Liberale - sie brachten 5,3 % mit - über die Bildung der Regierung einer großen Koalition. In der SPD war diese Entscheidung lange umstritten. Doch dann überzeugte uns der Wunsch nach einer Zweidrittelmehrheit. Außerdem hatten wir das seltene Glück, mit Richard Schröder einen Philosophen mit bewundernswerter praktischer Intelligenz als Fraktionsvorsitzenden zu haben, dem wir auch in schwierigen Situationen ganz vertrauen und von dem wir vieles lernen konnten.