Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

reden heute über die Größe der Kabinen und wer sie bekommen soll. Das ist nicht das Thema. Das Thema sind folgende Fragen: Welche politischen, sozialen Grundlagen hat die Europäische Union in den nächsten Jahren und wie sind wir in der Lage, sie aus der Krise herauszuführen? - Das muss heute in diesem Landtag Thema sein.

(Beifall bei der LINKEN und bei den GRÜ- NEN)

Wir befinden uns in einer substanziellen Krise der europäischen Idee. Wir haben es mit einer radikalen Stärkung nationaler Ressentiments zu tun. Wir haben es mit Blick auf die europäische Idee mit einem erheblichen Akzeptanzverlust innerhalb der europäischen Bevölkerung zu tun.

Damit - das will ich mit großer Deutlichkeit sagen - droht sich zurzeit die Grundlage für die Kohäsionspolitik der Europäischen Union aufzulösen. Diese geht nämlich davon aus, dass wir nur in einem gemeinsamen Europa, in dem es keine substanziellen Verlierer geben darf, vorankommen.

Sehen wir uns die zurzeit in der Gesellschaft, und zwar nicht nur innerhalb der nationalstaatlichen Grenzen, sondern europaweit geführte aktuelle Debatte an. Diese Grundlage ist zurzeit infrage gestellt. Es gibt massenhaft Diskussionen. Die Menschen sagen: Lasst die doch, das interessiert uns nicht mehr, sollen sie doch selbst klarkommen.

Wenn wir heute über Kohäsionspolitik und die Perspektiven bis zum Jahr 2020 reden, dann müssen wir uns damit auseinandersetzen. Das sind die Grundlagen einer solchen Debatte.

(Beifall bei der LINKEN)

Was ist aber mit Blick auf die europäische Idee die eigentliche Ursache für den derzeit vorherrschenden radikalen Akzeptanzverlust? - Es sind die Erfahrungen, die die Menschen in Europa mit der aktuellen Krisenbewältigung gemacht haben.

Im Grunde genommen gibt es zwei Mechanismen, die angelegt werden. Wir haben eine substanzielle Finanzkrise in Europa, das dürfte niemand mehr bestreiten. Was sehen die Menschen, wie wird sie bewältigt?

Die eine Strategie ist, diese Finanzkrise dadurch zu bewältigen, dass die Verschuldung bzw. die potenzielle Verschuldung aller öffentlichen Haushalte innerhalb der Europäischen Union massiv nach oben, fast ins Grenzenlose geschraubt wird, um die Kapitalmärkte zu beruhigen und ihnen die Lasten abzunehmen.

Das ist aber eine Variante, die den Leuten nicht in den Kopf will. Man erzählt ihnen, dass wir es mit einer Schuldenkrise zu tun haben, und die Lösung darin bestehen soll, dass die öffentlichen Haushalte massenhaft Schulden aufnehmen, um die privaten Finanzmärkte zu entlasten. Das ist der Grund

dafür, warum die europäische Idee in eine Krise gerät, und deswegen müssen wir darüber reden.

(Beifall bei der LINKEN)

Die nächste Strukturlogik bei der Behebung dieser europäischen Krise ist die der neoliberalen Antwort: Sozialstandards runter, öffentliches Eigentum verkaufen, demokratische Strukturen reduzieren, dann werden wir es irgendwie hinbekommen.

Was sehen die Menschen? - Die Menschen sehen in Griechenland, wozu das führt. Es führt nicht etwa zu einer Bewältigung dieser Krise, sondern zu einer radikalen Verschärfung dieser Krise. Daher kommt das sich entwickelnde Misstrauen gegenüber Europa. Darüber müssen wir reden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Wir haben es zurzeit mit einer radikalen Krise demokratischer Entscheidungsprozesse und Entwicklungen in der Europäischen Union zu tun. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, dann hätte man sich nur in den letzten beiden Wochen einmal anschauen müssen, was sich rings um Griechenland abspielt.

Der Ministerpräsident Griechenlands - der Mensch, der wahrscheinlich zurzeit den schwersten Job innerhalb der Europäischen Union hat - hat einen Befreiungsschlag versucht. Er hat gesagt: Die Dinge sind jetzt so substanziell, sie erschüttern die griechische Bevölkerung und den griechischen Staat in einer Art und Weise, die eine Volksabstimmung nötig macht. Das ist ein Instrument einer demokratischen Entscheidungsfindung, das von niemandem grundsätzlich angezweifelt werden kann.

Was machen die Meinungsbildner in der Europäischen Union, dieser Struktur, diesem Hort von Demokratie und Bürgerbeteiligung? - Sie reagieren aggressiv, drohen die schlimmsten Dinge an und sagen, wenn ihr diesen Volksentscheid durchführt und wenn er dann vielleicht noch falsch ausgeht, dann drohen euch die härtesten Maßnahmen. Ist das Demokratieentwicklung? - Nein, das ist Demokratieabbau, und deswegen müssen wir uns dagegen wehren, auch hier im Landtag von SachsenAnhalt.

(Herr Leimbach, CDU: Das ist doch großer Quatsch!)

Dann gibt es andere, die sind deutlicher. „Focus online“ hat in dem Augenblick, als Papandreou diese Idee geäußert hat, Folgendes getitelt: „Börsianer fordern Papandreous Kopf“. Deutlicher kann man es nicht formulieren. Es geht noch weiter. Das amerikanische Wirtschaftsmagazin „Forbes“ - einer der Global Player in diesem Bereich - veröffentlichte einen Artikel unter der Überschrift „Der einzige Weg für Griechenland: eine Militärdiktatur“. Das In

teressante war, dass der Autor dieses Artikels diesen Artikel als Satire gemeint hatte.

(Herr Leimbach, CDU: Aber Sie nicht!)

Das Problem war folgendes, Herr Leimbach: Nicht nur in Griechenland ist dieser Artikel nicht mehr als Satire verstanden worden, sondern er ist real von den Leuten diskutiert worden. Wissen Sie, was einen Tag nach dem Erscheinen dieses Artikels passierte? - Die griechische Regierung löste das Oberkommando der eigenen Streitkräfte aus Angst vor einem Putsch ab.

Das sind heute die Realitäten in der Europäischen Union. Deswegen ist diese Situation eine radikale Bedrohung demokratischer Verläufe und deswegen müssen wir über diese Fragen diskutieren, die hier zur Debatte stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Diese Beispiele kann man beinahe ins Unendliche fortsetzen. Gestern war bei „Spiegel online“ zu lesen: Ackermann droht den EU-Ländern mit Geldentzug. Ackermann, offenbar Chef einer supranationalen Weltregierung, der den europäischen Ländern drohen kann, ihnen ihre fiskalische und wirtschaftliche Grundlage zu entziehen.

(Frau Take, CDU: Das war eine Schlagzei- le!)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir können über solche Begriffe wie „Diktatur der Finanzmärkte“ lange diskutieren, aber hier nehmen sie Gestalt an, und zwar ob wir sie leugnen oder nicht. Das gehört in dieses Haus. Darüber müssen wir reden, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Es gibt Alternativen zu permanenten Rettungsschirmen, die inzwischen eine gute Geschäftsidee der privaten Investoren auf den Finanzmärkten sind, weil sie ihnen die Risiken abnehmen. Es gibt auch Alternativen zu solchen Dingen, wie sie in Griechenland zurzeit passieren, wo ein Parlament beschließt, dass ab sofort sämtliche Tarifverträge außer Kraft gesetzt werden.

Es gibt Alternativen in einem Drei-Säulen-Konzept. Erstens. Wir brauchen in Europa tatsächlich ein öffentlich-rechtliches Bankenwesen, das in der Lage ist, denjenigen Staaten, die Kredite brauchen, aus einem öffentlich-rechtlichen Bankenwesen Kredite zu geben, und zwar unabhängig von den privaten Finanzmärkten.

(Herr Daldrup, CDU: Das meinen Sie nicht ernst!)

- Warten Sie einmal ab. - Erst dann sind sie in der Lage, sich von den Rating-Agenturen zu lösen.

(Beifall bei der LINKEN)

Nun sagen Sie möglicherweise in Ihrer Vorstellungswelt: Das geht doch alles nicht. - Es passiert längst. Die Europäische Zentralbank hat inzwischen 150 Milliarden € Staatsschulden genau von den in die Kritik geratenen Ländern aufgekauft, und zwar von Banken, die damit vorher als spekulative Papiere Geld verdient haben und die sie jetzt abgestoßen haben, weil es sich nicht mehr rentiert.

Das heißt, wir machen es längst, aber wir machen es als Geschäftsmodell der privaten Banken. Nein, wir müssen unabhängig von den privaten Banken werden. Die EZB muss eine Bank gründen, die das von sich aus macht und nicht erst dann, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Das ist eine Alternative auf der europäischen Ebene.

(Beifall bei der LINKEN)

Ist das ein Systembruch? Kann man sich das vorstellen? - Andere können sich das längst vorstellen. Die konservative ehemalige Finanzministerin Frankreichs ist jetzt Chefin des IWF. Sie geht noch viel weiter. Sie sagt: Die großen systementscheidenden Privatbanken müssen ab sofort öffentlichrechtlich kontrolliert werden. Die Ackermänner müssen entmachtet werden. Das sagt eine konservative französische Finanzpolitikerin. Ich wundere mich manchmal, warum SPD und GRÜNE in Deutschland nicht so weit kommen.

(Beifall bei der LINKEN)

Eine konservative französische Finanzministerin, die jetzt Chefin des IWF ist, sagt, das sei die Lösung.

Wir brauchen zweitens natürlich eine reale Bekämpfung der Schuldenkrise in Europa. Aber die Schuldenkrise in Europa ist eben ganz wesentlich dadurch entstanden, dass wir innerhalb dieser Europäischen Union einen völlig freien Kapital- und Warenmarkt haben, aber weder steuerpolitische noch soziale Standards.

Diese Europäische Union - ob nun gewollt oder nicht, darüber will ich gar nicht streiten - hat dazu geführt, gerade mit der Erweiterung auf die EU 27, dass wir einen steuerpolitischen Dumpingwettbewerb, vor allen Dingen bei den mobilen Steuerarten, bei denen diejenigen, die es bezahlen müssen, davor fliehen können, gehabt haben. Das heißt, bei der Kapitalertrags- und bei der Vermögensbesteuerung haben wir eine Situation erreicht, wo sich die EU-Länder gegenseitig unterboten haben. Das war relativ einfach möglich, weil die europäischen Länder einen völlig freien Kapital- und Warenverkehr vereinbart haben.

Das hat übrigens dazu geführt, dass diejenigen, die diesen Dumpingwettbewerb angeführt haben, kurzzeitig einen Boom hatten. Ich kann mich noch an einen Finanzminister dieses Landes erinnern, der vor neun Jahren das Wachstumsmodell Irlands über den grünen Klee gelobt hat. Er würde es wahrscheinlich heute nicht mehr machen, aber er

würde mir heute trotzdem begründen, dass er damals Recht hatte. Dieser Dumpingwettbewerb hat dazu geführt, dass alle verloren haben, selbst diejenigen, die gemeint haben zu gewinnen.

Deswegen brauchen wir in der Europäischen Union endlich eine substanzielle Initiative, eine Struktur hin zu einem vernünftigen Standard bei der Kapitalbesteuerung und bei der Vermögensbesteuerung, bei der Kapitalertragsbesteuerung; denn erst dann werden wir wirklich aus der Schuldenkrise herauskommen.

(Zustimmung von Herrn Lange, DIE LINKE)

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir brauchen drittens eine offensive Lohnstrategie innerhalb der Bundesrepublik Deutschland. Die Exportüberschüsse der Bundesrepublik Deutschland sind eine der zentralen Ursachen für die Schuldenkrise, vor allen Dingen in Südeuropa.

Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zehn Jahren folgende Entwicklung genommen: Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung hat ermittelt, dass die Reallöhne aus Arbeit in den letzten zehn Jahren um 4,5 % gesunken sind und die Arbeitsproduktivität im gleichen Zeitraum um 10 % gestiegen ist. Das führt dazu, dass die Bundesrepublik Deutschland - übrigens ähnlich wie China im Vergleich zu den USA - eine extreme Exportüberlegenheit bekommen hat.

Wir haben diese Exportüberlegenheit vor allen Dingen innerhalb der Europäischen Union ausspielen können. Wer waren unsere Absatzmärkte? - Italien, Griechenland, Spanien, Portugal und Irland. All die Länder haben wir jetzt erfolgreich an die Wand konkurriert. Das Problem ist das folgende: Durch unsere Lohnzurückhaltung waren wir so erfolgreich, dass sie innerhalb des EU-Marktes mit ihren Produkten nicht mehr in der Lage gewesen sind, der Konkurrenz standzuhalten.

Wir brauchen - das ist ganz wichtig - eine stärkere Lohnentwicklung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, um erstens unsere Exportabhängigkeit zu reduzieren, also eine Binnenmarktentwicklung zu produzieren, und zweitens diesen Ländern Luft zum Atmen zu geben, damit sie wieder konkurrenzfähig sind; denn sonst können sie ihre Schulden nie bezahlen. Das ist der Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.