Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Wir brauchen - das ist ganz wichtig - eine stärkere Lohnentwicklung innerhalb der Bundesrepublik Deutschland, um erstens unsere Exportabhängigkeit zu reduzieren, also eine Binnenmarktentwicklung zu produzieren, und zweitens diesen Ländern Luft zum Atmen zu geben, damit sie wieder konkurrenzfähig sind; denn sonst können sie ihre Schulden nie bezahlen. Das ist der Weg, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN)

Dieser Weg verlangt eine Stück weit eine Sichtweise über das Land Sachsen-Anhalt hinaus und ein bisschen makroökonomisches Verständnis. Das gebe ich gern zu. Aber gesagt werden darf es in einer solchen Krisensituation schon einmal.

Übrigens ist das auch der Grund, warum ein Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone tatsächlich in der Bundesrepublik Deutschland viel, viel härtere Folgen gehabt hätte als für die Griechen selbst.

Bei denen werden die Gehälter zurzeit halbiert, bei denen wird beschlossen, die Tarifverträge aufzuheben, öffentliches Eigentum wird en masse verramscht. Den Griechen kann es wirklich außerhalb der Eurozone auch kaum noch schlechter gehen.

Das Problem hätte Deutschland. Das Problem hätte Deutschland in dem Augenblick, in dem die Eurozone sich auflöst. Dann wäre es wirklich möglich, dass diese Länder Produktivitätsnachteile durch Abwertung ihrer eigenen Währung ausgleichen. In dem Augenblick säße die Bundesrepublik Deutschland mit ihrer extremen Exportorientierung ganz schön auf dem Trocknen. Das ist das Problem. Wir sind zurzeit dabei, unsere Märkte zu retten, nicht die griechische Bevölkerung. Das ist der Unterschied.

(Beifall bei der LINKEN)

Frankreich hat übrigens ein etwas anders gelagertes Interesse. Da haben die privaten Großbanken bisher sehr gut an den europäischen Staatsanleihen aus Südosteuropa und Südeuropa verdient. Deswegen brauchen die das. Das ist der Hintergrund. Das ist übrigens die Angst vor dem Referendum gewesen. Den Griechen hätte ein Nein deutlich weniger weh getan als den Deutschen. Das ist das Problem. Das ist die Situation. Deswegen brauchen wir eine offensive Lohnstrategie innerhalb der Bundesrepublik Deutschland.

Man kann Europa nicht gemeinsam gestalten, wenn man die Partner in der Konkurrenzsituation permanent besiegt. Das funktioniert nicht. Das ist die Perspektive, die wir für Europa brauchen: Gemeinsam Europa gestalten, nicht niederkonkurrieren. Das ist eine Alternative. Dafür müssen wir uns stark machen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der LINKEN - Frau Budde, SPD: Das hat nichts mit Sozialismus zu tun!)

Aber gut, kommen wir nun am Ende zur Größe der Kabinen innerhalb des Schiffes, das gerade droht, schwer leckzuschlagen. Kommen wir zum Ausblick auf die nächste EU-Förderperiode. Dabei muss man einmal sagen: Worüber reden wir heute? - Wir reden über einen aktuellen Stand, der den Papieren der EU-Kommission zu entnehmen ist, wie der Ministerpräsident gerade gesagt hat, der allerdings bisher weder durch den EU-Rat noch durch das Parlament bestätigt worden ist. Das bedeutet, wir reden über einen Zwischenstand.

Herr Ministerpräsident, nicht nur Sie fahren nach Brüssel, auch der Europaausschuss war nach Bekanntgabe der von Ihnen genannten Papiere vom 6. und 12. Oktober in Brüssel. Da hat man genau dieselben Fragen den Vertretern der Regionaldirektion gestellt, die Sie heute hier thematisiert haben - am 26. Oktober, also zwei Wochen nach den letzten Papieren, auf die Sie sich bezogen haben.

Das Entscheidende, was Sie heute verkündet haben, war: Wir werden ein einheitliches Fördergebiet. Halle wird nicht schlechter behandelt als der Norden. Nun sage ich Ihnen einmal Folgendes: Als der Ausschuss in Brüssel war, stellte mein Kollege Frank Thiel dem entsprechenden Mitarbeiter am 26. Oktober - 14 Tage nach der Vorlage der Papiere, auf die sich der Ministerpräsident gerade bezogen hat - die Frage: Soll Sachsen-Anhalt nun ein gemeinsames Fördergebiet werden? - Der Vertreter für Deutschland aus der Regionaldirektion sagte klar: Nein, kommt nicht!

Herr Robra, möglicherweise kann sich das in den letzten fünf Tagen verändert haben, aber da sage ich jetzt einmal: Was hindert die Kommission, es in den nächsten fünf Tagen wieder anders zu sehen? - Insofern sage ich: Das ist sehr, sehr dünnes Eis, über das wir hier laufen.

Wissen Sie, die entscheidende Hürde für die Frage, ob einheitliches Fördergebiet Sachsen-Anhalt ja oder nein, ist gar nicht Brüssel. Die entscheidende Hürde für diese Frage ist Berlin - nämlich in der Funktion der Bundesregierung innerhalb des Europäischen Rates.

Da wissen diejenigen, die sich intensiver mit der Geschichte beschäftigen, dass die Bundeskanzlerin im Speziellen überhaupt nicht darüber erfreut ist, dass die entsprechenden Förderungen in den Übergangsregionen so gestaltet werden, wie sie jetzt möglicherweise von der EU-Kommission vorgeschlagen werden. Nein, die Bundeskanzlerin drängt innerhalb des Europäischen Rates ausdrücklich auch mit Druck auf die Kommission darauf, dass diese Dinge zurückgenommen werden. Sie möchte geringere Förderungen in diesem Bereich haben.

Wenn sich die Bundeskanzlerin durchsetzt, ist Ihr Zwischenstand, den Sie heute hier verkündet haben, demnächst wieder Makulatur. Dann würde Halle definitiv herausfallen und wir hätten keine so gute Kofinanzierung. Also: Überzeugen Sie nicht uns, Herr Ministerpräsident, überzeugen Sie Ihre Bundeskanzlerin. Dann bekommen wir an dieser Stelle etwas heraus für Sachsen-Anhalt.

(Beifall bei der LINKEN)

Ich will in Vorbereitung auf die nächste Förderperiode noch auf einige Probleme aufmerksam machen. Zum einen ist es so, dass die Summe für Kohäsionspolitik insgesamt nicht steigt, sondern, wenn man einmal die 40 Milliarden € für Investitionen in Infrastruktur herausnimmt, leicht sinkt.

Wir haben noch das Problem, dass möglicherweise mehrere Regionen innerhalb Europas infolge der aktuellen Krise in die Rezession geraten. Dann wird die Konkurrenz um diese Mittel noch härter. Das bedeutet, die Situation ist nicht die günstigste. Jetzt müssen wir auch einmal ganz deutlich sagen,

auch der Verlauf der aktuellen EU-Förderperiode ist nicht gerade ein Ausweis dafür, dass SachsenAnhalt in der nächsten mehr als andere bekommt. Wir erfahren täglich aus der Zeitung, welche massiven Probleme es dabei gibt. Dafür hätten wir auch gern einmal eine Regierungserklärung gehabt, Herr Dr. Haseloff.

Dabei wäre die Frage gewesen: Wie sieht es denn aus mit Stark III? Bekommen wir das überhaupt finanziert? Wie sind denn die Verteilungsmechanismen jetzt, nach der Halbzeitevaluation? - Dabei wären wir gern mit einbezogen gewesen. Dann können wir uns im Europaausschuss immer noch über die nächste Förderperiode unterhalten. Das wäre deutlich interessanter gewesen.

(Beifall bei der LINKEN)

Ja, wir haben nicht nur ein Problem nach den bisherigen Strukturen, dass die EU selbst eine höhere Zweckmittelbindung uns gegenüber realisieren will. Zweckmittelbindung ist aus der Sicht einer Landesregierung, aber auch eines Landesparlamentes immer schlecht. Das ist klar. Wir hätten gern möglichst viele Freiräume dabei. Das ist immer eine Debatte.

Man muss allerdings eines sagen: Es gibt einen guten Vergleich zwischen EU-Mitteln und Bundesmitteln. Dabei muss man feststellen: Brüssel hat uns immer viel mehr Freiräume gegeben als Berlin. Vergleichen Sie nur einmal die Einsatzmöglichkeiten von EFRE und GA. Da ist ganz klar, dass Brüssel in uns immer viel mehr Vertrauen hatte als Berlin, und zwar seit vielen, vielen Jahren und unabhängig davon, welche Farbe die Landesregierung hatte.

Jetzt hat aber die Europäische Union, möglicherweise schon in Antizipation des Druckes, der aus dem EU-Rat kommt, gesagt, na ja, wir wollen die nationale Ebene wieder stärker in die Kompetenz setzen, über Verwendung der Kohäsionsmittel zu bestimmen. Das bedeutet also, wir haben es möglicherweise damit zu tun, dass nicht nur Brüssel Einschränkungen für die Verwendung dieser Mittel realisiert, sondern wir haben es in der nächsten Förderperiode möglicherweise auch damit zu tun, dass die Dinge aus Berlin noch einmal stärker eingegrenzt werden und wir noch weniger haben.

Das nächste Problem, das wir mit der Situation haben, ist: Natürlich werden diese Mittel wieder stärker an Wettbewerb und Haushaltssanierung geknüpft. Aufgrund des Solidarpakts II dürften wir bis zum Jahr 2020 an dieser Stelle nicht so ein Problem haben, aber ansonsten müsste mir einmal jemand sagen, warum ausgerechnet diejenigen, die möglicherweise defizitäre Haushalte haben, nun auch noch weniger Fördermittel bekommen. Gesamteuropäisch funktioniert das nicht.

(Beifall bei der LINKEN)

Es fehlt uns tatsächlich auch die Ausweitung der demokratischen Grundlagen für die Konzipierung dieser Förderperiode. Sie haben heute darüber berichtet, nur entscheiden wird dieses Parlament nicht. Entscheiden wird die Exekutive in Brüssel, in Berlin und in Magdeburg. Das ist nach wie vor ein Demokratiedefizit, und auch das beklagen wir.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD)

Lassen Sie mich abschließend sagen: Die europäische Idee steckt zurzeit in einer tiefen Krise. Ich sage allerdings auch, wir müssen sie retten. Wir können sie allerdings nur retten, wenn die Menschen in Europa dieses Europa als Mehrwert erfahren, dieses Europa als ein Instrument erfahren, mit dem soziale Standards erhöht werden und mit dem die Demokratie ausgebaut wird, so wie es auch auf der Synode der EKD von Bischof Schneider vor kurzem in Magdeburg angemahnt worden ist.

Wenn die Menschen allerdings den Eindruck haben, diese Europäische Union ist nur dazu da, den Interessen der Finanzmärkte hinterherzuhecheln, dann werden wir die europäische Idee nicht am Leben erhalten. Es gibt zurzeit radikale Fehlentwicklungen auch im Bereich des europäischen Kontextes. Wir haben eine Krise. Diese Krise hat Ursachen. Wir müssen grundlegende Fragen neu stellen und wir müssen wahrscheinlich auch neue Antworten finden. - Danke.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN)

Danke schön, Herr Kollege Gallert. - Bevor wir in der Debatte fortfahren, möchte ich Gäste auf der Besuchertribüne begrüßen. Es sind Lehrerinnen und Lehrer der Berufsbildendenden Schulen III aus Halle als Gäste der Landeszentrale für politische Bildung sowie Schülerinnen und Schüler des Dr.-Frank-Gymnasiums aus Staßfurt. Herzlich willkommen in unserem Hause!

(Beifall im ganzen Hause)

Wir fahren in der Debatte fort. Als Nächste spricht für die Fraktion der SPD deren Vorsitzende, Frau Kollegin Budde.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir erleben ja gerade eine Zeit, in der Europa-Enthusiasten und Europa-Skeptiker eines gemeinsam haben: Sie machen sich wirklich Sorgen um Europa. Man muss wirklich kein überzeugter Europäer sein, um sich dieser Tage Sorgen um Europa zu machen.

Denn wir sehen eine Europäische Union, die sich unglaublich damit quält, die Folgen der Finanz-

und Wirtschaftskrise zu bewältigen, und wir sehen einen Euro, der Spielball und Ziel internationaler Finanzspekulationen geworden ist. Hedgefonds und Börsenjongleure wetten nach wie vor auf den Untergang Griechenlands.

Wir sehen einen europäischen Binnenmarkt, dessen Halteseile und Stabilitätsmechanismen versagen. Und wir sehen in der Tat europäische Mitgliedstaaten, die eher im nationalen Interesse arbeiten, denn im europäischen Gleichklang handeln. Dabei können wir die Bundesrepublik auch nicht ganz ausnehmen.

Die Prosperität der europäischen Staaten, die Sicherheit unseres Geldes und der Wohlstand der Menschen auf dem alten Kontinent sind in der Tat insgesamt in ernster Gefahr. Der Frieden in Europa, der zumindest für meine Generation schon ganz selbstverständlich geworden ist, ist es damit auch. Das muss man ganz deutlich sagen.

Wir haben gesehen, was passiert ist - auch auf dem Gebiet Europas - nach dem Auseinanderbrechen der Blöcke, wie jahrhundertealte Auseinandersetzungen von ethnischen Gruppen, von Nationalitäten zu Kriegen geführt haben. Das hätten wir nicht geglaubt in einem Europa. Wenn die Europäische Union auseinanderbricht, dann, das sage ich ganz deutlich, ist damit mehr in Gefahr als nur eine Wirtschaftsunion. Damit steht auch der Frieden in Europa auf einer Liste, von der wir nicht wissen, wie sie halten wird.

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Man muss in der Tat heute kein überzeugter Europäer sein, um zu erkennen, dass Europa mehr ist als die Neuprogrammierung der Fonds, dass Europa an einem Scheideweg steht. Es hilft aber, glaube ich, überzeugte Europäerin zu sein, um den richtigen Weg zu finden. Ich hoffe und setze darauf, dass es insgesamt in Europa noch genug überzeugte Europäer und Europäerinnen gibt.

Am Ende betrifft das alles auch Sachsen-Anhalt, denn wir sind ein Teil von Europa. Deshalb ist der Titel der heutigen Regierungserklärung für uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Tat auch mehr als die Aufforderung, darüber nachzudenken, wie wir ab 2014 die neue EU-Förderperiode programmieren. Es ist wirklich mehr; denn Europa gemeinsam gestalten, das bedeutet schon mehr, als sich Gedanken darüber zu machen, was wir mit dem Geld aus Brüssel hier machen werden.

Man darf sich nichts vormachen: Wenn Europa scheitert, dann wird es auch kein Geld aus Brüssel geben. Auch dieser ganz einfache Zusammenhang stimmt. Ohne EU also keine neue Förderperiode. Europa gemeinsam gestalten heißt also zu überlegen, wie wir Europa sicherer, stabiler und auch lebenswerter machen. Deshalb wäre es richtig, heute nicht nur zu fragen, was tut Europa für uns,

sondern den altbekannten Spruch zu nutzen und zu sagen: Was tun wir für Europa?

(Beifall bei der SPD - Zustimmung bei der LINKEN)

Was wir für Europa tun können und tun müssen, das ist auf der einen Seite das Notwendige und dann auch natürlich das Richtige. Ja, es ist notwendig, einen Rettungsschirm aufzuspannen, um den Euro zu retten. Es wäre besser gewesen, es wäre schneller gegangen. Es wäre besser gewesen, das Ganze entschiedener anzupacken. Es wäre auch besser gewesen, die Bundesregierung hätte sich mehr mit der EZB beschäftigt, als sie sich mit der FDP beschäftigen musste.

(Beifall bei der SPD)

Aber am Ende steht eines fest: Es ist notwendig, den Euro zu retten. Es ist auch notwendig, Griechenland zu retten. Es geht hierbei nicht um eine akademische Diskussion, um Gedankenspiele, um gesellschaftliche Experimente, es geht um Länder, es geht um Menschen und es geht auch um die Zukunft von allen. Damit geht es auch um unsere eigene Zukunft. Ich bin nicht bereit, das zu riskieren.