Protokoll der Sitzung vom 10.11.2011

Aber am Ende steht eines fest: Es ist notwendig, den Euro zu retten. Es ist auch notwendig, Griechenland zu retten. Es geht hierbei nicht um eine akademische Diskussion, um Gedankenspiele, um gesellschaftliche Experimente, es geht um Länder, es geht um Menschen und es geht auch um die Zukunft von allen. Damit geht es auch um unsere eigene Zukunft. Ich bin nicht bereit, das zu riskieren.

(Beifall bei der SPD)

Ich bin allerdings auch nicht bereit, bei der EuroRettung stehen zu bleiben. Am Ende der Krise darf nämlich nicht allein stehen: Euro gut, alles gut. Das reicht nicht aus. Wir brauchen in Europa neue Elemente und wir brauchen auch eine Abkehr von alten Gewissheiten.

Es reicht nicht aus, nur den Rettungsschirm zu spannen. Europa braucht in Zukunft auch ein Leben, das frei ist von den Begehrlichkeiten von Finanzjongleuren. Auch dafür müssen wir sorgen.

Den Rettungsschirm betrachten wir alle - oder die meisten von uns - heute noch immer aus einer alten Systematik, aus einer marktgläubigen Finanzlogik heraus. Denn früher galt: Staaten sind zwar Marktteilnehmer, aber sie sind zu groß, als dass ihnen die Märkte gefährlich werden könnten. Das war einmal so.

Heute ist das anders, wie wir sehen. Die Kraft der Finanzmarktakteure hat zugenommen. Der alten Logik weiter folgend wird Europa jetzt unter einem großen Rettungsschirm zusammengebracht. Der Marktteilnehmer Europa - es sind nicht mehr nur die einzelnen Länder - ist jetzt so groß, dass sich ein Angriff nicht lohnt. Aber die Frage, ob das wirklich so ist, wird uns niemand mit Ja beantworten können. Wer garantiert uns, dass diese Größe reicht? - Niemand.

Deshalb reicht es nicht aus, den Markt so zu lassen, wie er ist. Wir müssen in der Tat - ich habe das bei der Einbringung des Haushaltsplanentwurfs schon gesagt - die Spekulationen erschwe

ren. Wir brauchen eine Finanztransaktionssteuer. Es muss Schluss damit sein, dass bereits Schwankungen im Cent-Bereich ausreichen, um gegen ganze Volkswirtschaften zu wetten; denn das geschieht. Zudem sollten wir verhindern, dass diejenigen, die diese Krise verursacht haben, fröhlich so weitermachen können wie bisher. Die Regeln dafür fehlen noch.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN - Herr Borgwardt, CDU: Das stimmt! - Herr Daldrup, CDU: Ja!)

Die Europäische Union ist vor 50 Jahren als Wirtschaftsunion gegründet worden und später durch die Währungsunion ergänzt worden. Viele Menschen haben damit auch die europäische Idee von der Friedensunion und von der Sozialunion verbunden. Das ist bis heute so.

Der ökonomischen Integration ist bis heute jedoch keine ausreichende politische und soziale Integration gefolgt. Deshalb erscheint die Europäische Union gerade in der heutigen Krise als ein Europa des Geldes, als ein Europa der Banken und der Bürokratie. Das wird Europa auf Dauer nicht tragen - nicht bei den Menschen, die in Europa leben. Dieser Konstruktionsfehler muss korrigiert werden. Die europäische Einigung muss aus der sozialen Schieflage herausgeführt werden.

(Zustimmung von Herrn Erben, SPD, von Frau Niestädt, SPD, und bei der LINKEN)

Wir brauchen eine europäische Sozialunion, die den Bürgerinnen und Bürgern das Vertrauen zurückgibt, dass es bei der europäischen Idee um mehr geht, nämlich dass es um sie und um ihr Leben in Europa und um ihre eigenen Perspektiven geht.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Die europäische Sozialunion muss ihr Fundament in einer sozialen Werteordnung mit starken sozialen Grundrechten haben, wie sie schon in der EUGrundrechtecharta beschrieben sind. Soziale Ziele und Mindeststandards müssen verbindlich vereinbart werden. Spätestens jetzt müssen wir die Lehren aus den vergangenen Jahren ziehen. Diesbezüglich sind aus meiner Sicht drei Elemente zu beachten:

Erstens. Es wird unumgänglich sein, in allen europäischen Mitgliedstaaten existenzsichernde Mindestlöhne, die am Durchschnittslohn in den Mitgliedstaaten zu bemessen sind, einzuführen.

Zweitens. Die Spielräume für die Mitbestimmung in den europäischen Unternehmen müssen erweitert werden. Die Rechte der europäischen Betriebsräte müssen gestärkt werden und der soziale Dialog zwischen den Gewerkschaften und den Arbeitgebern auf europäischer Ebene muss weiter ausgebaut werden. Dies fehlt. Das ist in den letzten

Jahren nicht geschehen, auch nicht in den 20 Jahren nach der Wiedervereinigung.

Drittens. Wir müssen die Tarifautonomie auf europäischer Ebene stärken. Wir brauchen eine Rechtsgrundlage für grenzüberschreitende Tarifverhandlungen und Tarifverträge. Anderenfalls werden wir aus unserer inneren Diskussion nie herauskommen, und es wird immer heißen: Da ist der Wettbewerb an der Grenze. Wir brauchen in Europa grenzüberschreitende Regeln und Lösungen.

(Zustimmung bei der SPD, bei der LINKEN und von Herrn Borgwardt, CDU)

Dieses Ziel einer europäischen Sozialunion ist übrigens keine Revolution oder Ausdruck eines neuen politischen Willens. Die EU hat sich mit Artikel 3 des EU-Vertrages folgende Grundsätze gegeben:

Die Union bekämpft soziale Ausgrenzung und Diskriminierungen. Sie fördert soziale Gerechtigkeit und sozialen Schutz. Sie fördert den wirtschaftlichen, sozialen und territorialen Zusammenhalt sowie die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten und - das möchte ich hinzufügen - die Solidarität zwischen den Menschen; denn ohne diese wird es nicht gehen.

Ich darf daran erinnern, dass wir in der Bundesrepublik in den letzten Jahren das Entsendegesetz ausgeweitet haben. Wir haben in Deutschland im Moment eine Diskussion, die dazu geführt hat, dass die Mehrheitsmeinung der Bevölkerung zu Mindestlöhnen inzwischen auch in den konservativen Lagern angekommen ist.

Ich bin übrigens gespannt darauf, wie die Diskussion in der nächsten Woche geführt werden wird, ob Sie eine Lohnuntergrenze beschließen werden und wie diese aussieht. Ich bin wirklich neugierig.

(Herr Borgwardt, CDU: Schau’n wir mal! - Herr Schröder, CDU: Die Tarifpartner!)

Ich darf auch daran erinnern, dass diese Koalition vereinbart hat, die Vergabe öffentlicher Mittel und die Wirtschaftsförderung stärker an die Einhaltung von sozialen und tariflichen Standards zu binden. Das ist auch richtig. Das muss in der gesamten Europäischen Union so sein.

(Zustimmung bei der SPD und bei der LIN- KEN)

Die fondsübergreifenden Oberziele der laufenden Förderperiode heißen Förderung von Wachstum und Verbesserung der Beschäftigungsperspektiven. Niedrige Löhne, Dumpinglöhne, bringen weder Wachstum noch Beschäftigungsperspektiven. Das ist der falsche Weg.

An dieser Stelle möchte ich zum zweiten Teil der heutigen Regierungserklärung überleiten, zu den Chancen und Herausforderungen für Sachsen-Anhalt in der nächsten EU-Förderperiode. Diesbezüglich gelten zunächst zwei Binsenweisheiten.

Erstens. Die Chance für Sachsen-Anhalt besteht darin, dass wir auch weiterhin Unterstützung von der EU bekommen. Jeder Euro, den wir, wenn die EU hält, zusätzlich bekommen, ist gut, um die Entwicklung unseres Landes zu stärken. Jeder Euro hilft.

Zweitens. Der Umfang der Hilfe wird kleiner, die finanziellen Mittel werden reduziert. Die Herausforderung besteht also darin, die Mittel in den nächsten Jahren passgenau und effektiv einzusetzen.

Die Strukturfonds werden in der nächsten Förderperiode für die Landespolitik aufgrund der stark rückläufigen Trends und der rückläufigen Transfers aus Berlin sogar noch an Bedeutung gewinnen. Der Förderzeitraum von 2014 bis 2020 ist auch aufgrund des auslaufenden Solidarpaktes eine Übergangsperiode. Danach wird es richtig hart; es läuft nämlich alles nach unten aus. Bis zum Jahr 2020 werden alle Sonderzuweisungen an Ostdeutschland auslaufen.

Wir müssen diese Zeit nutzen, um unseren Haushalt, unsere Strukturpolitik, unsere Landesförderpolitik, also alle Bereiche, die bisher noch von den erhöhten Zuweisungen aus Brüssel und Berlin profitieren, auf die Normalität einzustellen. Das wird nicht einfach sein.

(Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Ja!)

Die Alternative, mehr Landesmittel durch die Aufnahme höherer Schulden zu generieren, scheidet aus. Das geht nicht. Das wissen auch wir. Wir müssen einen anderen Weg beschreiten.

(Zustimmung von Herrn Schröder, CDU)

Wir wissen, dass wir den Landeshaushalt weiter konsolidieren müssen; denn die höheren Schulden, die wir aufnehmen würden, würden zwar heute eine Entlastung bedeuten - das ist richtig; dann könnten wir jetzt oder morgen oder übermorgen mehr tun -, aber sie würden insgesamt die Handlungsfähigkeit stark einschränken. Denn aufgrund höherer Schulden fallen mehr Zinsen und höhere Tilgungsbeträge an. Das bedeutet langfristig oder auch mittelfristig noch weniger landespolitische Flexibilität. Das heißt, wir sitzen in zwei Klammern, innerhalb deren wir agieren müssen.

Wir brauchen intelligente Lösungen - das sagt man immer so schön; aber intelligente Lösungen sind am schwersten zu finden -, um die vorhandenen Mittel mit dem größtmöglichen Nutzeffekt für unser Land einzusetzen. Wir brauchen dafür - davon bin ich fest überzeugt; denn es wird uns später alle betreffen - einen landesweiten Diskurs mit allen beteiligten Akteuren, in dem man die haushaltspolitischen Eckwerte akzeptiert und davon ausgehend für die besten Inhalte streitet und sie erarbeitet.

Das wird kein „Wünsch dir was!“ sein, aber wir dürfen auch nicht in eine Jammerorgie verfallen. Das

nützt uns auch nichts. Es wird hinterher kein Geld mehr geben.

Deshalb sage ich: Nutzen wir die Notwendigkeit zur Konzentration ein Stück weit als Chance. Wir müssen die Landesstrukturpolitik auf das Machbare und auf das Notwendigste ausrichten und sie zusammenführen.

Die kommenden Monate ermöglichen vor allem eine inhaltliche Debatte über künftige Schwerpunkte und Ziele der Landespolitik. Diese Möglichkeit sollten wir nutzen.

Gleichzeitig gilt es aber auch, die Programmierung der Fonds mit einer Überarbeitung und thematischen Konzentration der Landesförderung und der entsprechenden Landesstrategie zu verbinden. Es ist notwendig - auch hier ist es das, was wir schon kennen und zu dem wir uns schon verständigt haben -, die Klima- und Energiestrategie, die Innovationsstrategie und die Nachhaltigkeitsstrategie des Landes, aber auch die von uns im Koalitionsvertrag verabredete Internationalisierungsstrategie des Landes mit der Diskussion über den zukünftigen Strukturfondsförderung zu verbinden.

Das bedeutet auch, dass dort, wo dies nötig und sinnvoll ist, fondsübergreifend programmiert werden muss. Das wird aber das Schwierigste werden. Wir wissen, dass es an diesen Stelle eher ein Festhalten an den Fonds gibt, die in den eigenen Haushalten verankert sind. Dabei gilt eher das Prinzip „3, 2, 1 - meins“. Aber wir werden nicht darum herumkommen, fondsübergreifend zu programmieren, damit wir all das leisten können, was wir leisten müssen.

(Frau Dr. Klein, DIE LINKE: Schau’n wir mal!)

Es soll künftig nur noch eine Verwaltungsbehörde für den Strukturfondsmitteleinsatz zuständig sein. Die Begleitausschüsse sollen sich integrieren, ohne dass sie in ihrer Aufgabe, inhaltlich weiter mitzuarbeiten und zu bewerten, beschnitten werden. Es ist gut, dass die Entwürfe der Fondsverordnung in der aktuellen Fassung dies explizit ermöglichen; denn nur, wenn man darüber gemeinsam diskutiert, wird man auch eine gemeinsame Lösung finden.

Es sind auch neue Verfahren auf den Weg zu bringen; zum Beispiel sind zur Projektauswahl Vergabewettbewerbe einzuführen. Das ist bisher noch nicht in großem Umfang getan worden. Die künftige Programmierung muss auf einer realistischen Einschätzung der Möglichkeiten zur Kofinanzierung durch das Land basieren. Es wird immer schwieriger werden, die Frage zu klären, womit diese Mittel kofinanziert werden sollen.

Weiterhin müssen wir klar sagen: Für alle Förderbereiche muss zumindest in den kommenden Jahren, in denen wir mit Drittmitteln aus Brüssel und vom Bund kofinanzieren können, gelten, dass nicht

ausschließlich Landesmittel zum Einsatz kommen dürfen. Diesbezüglich gilt es, geschickt alles zusammenzuführen, damit wir damit das erledigen können, was wir erledigen wollen. Das ist keine einfache Aufgabe.

Es hilft uns am Ende nämlich nicht, wenn wir Mittel aus Brüssel oder Berlin - das ist genau das Gleiche - bekommen, die wir aufgrund der fehlenden Kofinanzierung nicht abrufen werden können. Trotzdem können wir die Höhe der Landesmittel nicht ins Unendliche steigern; denn auf der anderen Seite steht die Klammer: Keine neuen Schulden!

Ich glaube, dass dafür eine frühzeitige Abstimmung über neue Kofinanzierungsmodelle sowohl im Land als auch vielleicht mit der Bundesregierung notwendig ist und dass uns gar nichts anders übrig bleiben wird, als neue Lösungswege zu finden.