Protokoll der Sitzung vom 24.02.2012

Außerdem haben wir - daher bin ich Ihnen für Ihre erste Frage sehr dankbar, Herr Bönisch - das Problem, das Sie mit Ihrer Frage aufgerufen haben und das ich versucht habe, in meinem Beitrag zu erklären, dass nämlich dann, wenn eine Diagnostik mit einer Ressourcenverteilung verknüpft ist, immer der Zwiespalt zwischen einer reliablen und einer validen Diagnostik der Kinder besteht.

(Zustimmung von Frau Bull, DIE LINKE)

Das heißt, dass sehr genau beschrieben wird, welche Probleme das Kind hat. Dann wird ein Etikett erstellt, das Kind wird exkludiert und wir sagen: Das Kind ist besonders und anders. Hiernach entscheiden wir, wohin das Kind geht. Dabei haben die Eltern natürlich auch etwas zu sagen. Oder das Etikett wird nicht verteilt und dadurch werden keine Ressourcen abgerufen. Das ist das zweite Problem.

Ein Problem ist es also, dass es zu schwierigen Fehlfeststellungen kommt, die auch der Herr Minister bereits beschrieben hat. Der zweite Punkt ist, zu erreichen - in der Fachwissenschaft wird das

Förderdiagnostik genannt -, dass die Diagnostik ausschließlich mit dem Ziel der Förderung betrieben wird und nicht mit dem Ziel der Ressourcenzuweisung.

Die Probleme, die wir in diesem Bereich haben, sind eigentlich überflüssig, weil wir in SachsenAnhalt im Bereich der integrierten Schuleingangsphase sehr gut aufgestellt sind und einen guten Lernraum geschaffen haben, in dem Kinder mit unterschiedlichen Startchancen in einem förderlichen Umfeld mögliche Defizite, die sie mitbringen, aufarbeiten können. - Herzlichen Dank für Ihre Frage.

(Beifall bei den GRÜNEN)

Danke schön, Frau Kollegin Dalbert. - Als Nächste spricht Abgeordnete Frau Reinecke für die Fraktion der SPD.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auch wenn von Frau Dalbert festgestellt wurde, dass es erstaunlich sei, wie die Diskussion zu diesem Thema im Plenum verläuft, kann ich im Vergleich zur Debatte im Jahr 2008 eine gewisse Sachlichkeit erkennen, die sich eingestellt hat. Das bewerte ich erst einmal positiv.

Die Beantwortung der Großen Anfrage hat meiner Ansicht nach ziemlich erschöpfend Auskunft in den drei genannten Themenbereichen gegeben. So wurde zum Beispiel dargelegt, wie sich die Schülerzahlen an den Förderschulen und die sonderpädagogische Förderung im inklusiven Unterricht entwickelt haben. Herr Minister Dorgerloh ist in seinen Ausführungen noch einmal darauf eingegangen und hat auch nachgewiesen, dass wir dadurch auf dem richtigen Weg sind. Zugegebenermaßen haben wir noch eine ziemlich lange Wegstrecke vor uns.

Der Themenbereich ist sehr komplex. Wir können einen Dreiklang aus mehreren Politikfeldern feststellen: Die Bildungspolitik ist dabei vorangestellt; die Bereiche Soziales und Behindertenpolitik sind ebenfalls angesprochen. Ich denke beispielsweise an den Aktionsplan „Barrierefreies Sachsen-Anhalt“. Auf diese Komplexität ist meine Kollegin Verena Späthe bei der Debatte im Jahr 2008 bereits sehr gut eingegangen. Ich möchte es an dieser Stelle noch einmal nennen, da sich die Komplexität des Themas nicht geändert hat.

Für mich ist insbesondere die Einschätzung der Antwort auf die Große Anfrage von Bedeutung, dass sich die betroffenen Lehrkräfte vorbehaltloser als früher den Anforderungen des inklusiven Unterrichts stellen und entsprechende Fortbildungen auch zunehmend angenommen werden.

Frau Kollegin Dalbert hat angesprochen, dass die Ängste der Lehrerinnen und Lehrer abgebaut wer

den müssen. An dieser Stelle hat sich in der Tat viel entwickelt. Insgesamt hat sich das konsequente Angebot berufsbegleitender Qualifikationen im Bereich der sonderpädagogischen Förderung bewährt. Neben den Fortbildungsveranstaltungen sind ein regelmäßiger Erfahrungsaustausch und auch eine fachliche Begleitung notwendig, um fachlich und methodisch sicherer zu werden.

Dieses Umdenken in weiten Teilen der Lehrerschaft ist eine kleine Revolution, so möchte ich es einmal behaupten, die es weiterhin zu fördern gilt. Dieses Umdenken ist in unserer Gesellschaft insgesamt jedoch noch lange nicht angekommen. Nach wie vor geistert in vielen deutschen Köpfen die althergebrachte Denke, bitte schön begabtengerecht zu sortieren und zu beschulen. An dieser Stelle gilt es in der Tat noch Widerstände zu überwinden. Wir haben dies im Rahmen der Debatte bereits wahrgenommen.

Mit Ungeduld warte ich auf die Veröffentlichung der Evaluation des Modellversuches „Grundschulen mit Integrationsklassen“, um zu erfahren, ob die Ergebnisse neben den quantitativen Fortschritten auch qualitativ überzeugen.

Ich will zum Beispiel wissen, ob die Kinder mit und ohne Behinderung in den Integrationsklassen ihren Bedürfnissen und Ansprüchen entsprechend lernen können, die notwendige Qualität und der erforderliche Umfang der Unterstützung weitgehend gesichert sind, die Zusammenarbeit aller an der Förderung des jeweiligen Kindes beteiligten Personen und Einrichtungen gewährleistet ist und sonderpädagogische Bildungs-, Beratungs- und Unterstützungsangebote ein qualitativ hochwertiges gemeinsames Lernen ermöglichen.

Vorweg nehmen möchte ich an dieser Stelle, dass sich dieses Modellprojekt insofern zu einer Erfolgsstory entwickelt hat - Frau Bull führte den Satz vom „Siegen lernen“ an -, als dass sich aus dem Modellprojekt heraus an 22 Schulen der Weg schon gut dargestellt hat und auch weitergeführt werden konnte. Im Parlament bestand die Sorge, was passiert, wenn das Modellprojekt ausläuft. Diese Fragen standen immer wieder im Raum. Wie wir erfahren haben, ist für diese 22 Schulen der Rahmen erhalten geblieben.

Hochachtung zolle ich an dieser Stelle allen Pädagogen, die in integrativen Einrichtungen erfolgreich tätig sind, weil sie sich auf die komplexe Fähigkeit einstellen müssen, um gleiche Lernergebnisse im Unterricht auf unterschiedliche Art und Weise zu erreichen.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Ein Anteil von 21 % gemeinsamer Unterricht ist beträchtlich, wenngleich der Bereich der Grundschulen den höchsten Anteil daran hat. Aber wenn wir schauen, mit welchem Anteil die Entwicklung begann, nämlich mit ca. 7 %, dann ist ein Anteil von

21 % ein gutes Ergebnis. Das kommt aber nicht von ungefähr. Hierfür gilt der besondere Dank allen Mitwirkenden.

(Zustimmung bei der SPD)

Inklusiver Unterricht beinhaltet Maßnahmen innerer und äußerer Differenzierung, um flexibel und angemessen auf die Erfordernisse der Lerngruppen mit ihren unterschiedlichen Voraussetzungen eingehen zu können, und schließt personelle Überlegungen für die Unterrichtsgestaltung ein. Deshalb begrüßen wir es, dass nach dem Abschluss des Modellversuches für jedes Kind mit sonderpädagogischem Förderbedarf im gemeinsamen Unterricht zusätzlich zwei Lehrerwochenstunden zur flexiblen Verwendung zugewiesen werden.

Zusammen mit den Ressourcen der präventiven Grundversorgung im Bereich der Grundschulen halten wir diese Möglichkeit für einen Anfang und wissen, dass es noch weitere Entwicklungen geben muss.

(Zustimmung von Frau Niestädt, SPD)

Liebe Kollegin Bull, eine Bemerkung kann ich mir an der Stelle nicht verkneifen. Ich kann eine Ihrer Aussage, die am Dienstag dieser Woche in der Presse erschien, nicht nachvollziehen. Sie fordern schon einmal vorsorglich, dass gemeinsames Lernen nicht zur Sparvariante verkommen dürfe. Diese Aussage ist aus meiner Sicht zu konfrontativ.

(Zustimmung von Frau Gorr, CDU)

Ich teile bestimmte Ansichten, aber das möchte ich an der Stelle nicht so stehen lassen.

Für eine gute Ausstattung des integrativen Unterrichts müssen wir sorgen; keine Frage. Derzeit erarbeitet eine Arbeitsgruppe von Fachleuten Vorschläge zur Weiterentwicklung des gemeinsamen Unterrichts. Wir erwarten das Konzept vom Ministerium. Wir werden darüber zu diskutieren haben. Es ist auch nicht einfach nur eine Stellungnahme, wie Sie es in Aussicht gestellt haben, Herr Bönisch, sondern es ist ein Konzept für einen gemeinsamen Unterricht. Darauf und auf die Diskussionen dazu bin ich gespannt.

Unbestritten ist in der Tat, dass wir bei diesen weiteren Reformvorhaben - ich meine, durch die UNKonvention ist eine Reform in Gang gesetzt worden - auch Unterstützung gebrauchen können. Wir alle wissen, dass jede Reform Geld kostet. Meiner Meinung nach sollte der Bund, wie es beispielsweise beim Ganztagsschulprogramm der Fall ist, den Ländern unter die Arme greifen.

Hierfür ist jedoch zuvor das Kooperationsverbot auszuhebeln. Das habe ich gestern bei der Beratung des entsprechenden Tagesordnungspunktes bereits angesprochen.

Noch etwas gilt es zu beachten: Wir sind entlang der Bildungskette dem Grundsatz folgend „Beste

Bildung von Anfang an“ auch im Bereich der Kita ein Stück vorangekommen mit der Einführung des Programms „Bildung elementar“. Auch bei den Bemühungen im Bereich der Aus- und Weiterbildung des Erzieherpersonals sind Fortschritte erreicht worden.

Als nächste Aufgabe steht die Wiedereinführung des uneingeschränkten Anspruchs auf einen Ganztagsbetreuungsplatz in den Kindertagesstätten an. Hierbei muss bei der Gesetzeserarbeitung der Inklusionsansatz von Vornherein berücksichtigt werden.

Veränderungsprozesse sind schrittweise und längerfristig angelegt. Wir werden uns auf diesem Weg entscheiden und auch darüber zu entscheiden haben, ob und, wenn ja, in welcher Form Förderschulen vorzuhalten sind. Diese Frage wurde von mehreren Rednern aufgegriffen.

Der Schwerpunkt der emotionalen und sozialen Entwicklung hat für mich einen hohen Stellenwert. Ich meine hierbei Schulen mit Ausgleichsklassen, die auf Einzelfälle eingehen, die in einem Regelunterricht nicht aufgefangen werden können. Wir müssen uns entscheiden, welche Schwerpunkte wir an der Stelle setzen und welche Formen wir auch für zukünftige Förderschulen für notwendig erachten. Das gilt es abzuwägen.

Gestatten Sie mir - ich sehe, hier leuchtet schon die Lampe -, abschließend noch einen kleinen Vermerk der Kultusministerkonferenz vom Oktober des vergangenen Jahres zu zitieren. Hierin heißt es:

„Mithilfe des Nachteilsausgleiches sollen Kinder und Jugendliche mit besonderen Lernbedürfnissen ihre mögliche Leistungsfähigkeit ausschöpfen. Es gilt, Bedingungen zu finden, unter denen diese Kinder und Jugendlichen ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis stellen können, ohne dass die inhaltlichen Leistungsanforderungen grundlegend verändert werden.“

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Was sich hier so leicht liest und auch gut anhört, bedeutet aber, dass wir noch verdammt dicke Bretter zu bohren haben. Aber wenn wir wissen, wohin der Weg führt, lässt sich das Brett besser bearbeiten. - In diesem Sinne vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)

Danke schön, Frau Kollegin. - Zum Abschluss der Debatte hat Frau Abgeordnete Bull noch einmal das Wort.

Auf einiges Wenige will ich noch einmal eingehen.

Herr Bönisch, so eine kleinliche Diskussion, bei einem so großen Thema. Wissen Sie, ich zicke hier

jetzt nicht mehr herum, weil ich weiß, dass Sie wirklich jemand sind, der sich engagiert. Aber ich hätte Ihren Erfolg nicht einmal konstatieren können, wenn ich diese Statistik nicht gehabt hätte. Ich hätte nicht sagen können, wie viele Lehrerwochenstunden zum Einsatz kommen.

In einem haben Sie allerdings Recht: die fehlende Statistik, wohl wahr. Ich kann die Liste noch verlängern, zum Beispiel werden auch geschlechterspezifisch keine Statistiken geführt. Wir rennen zwar durch das Land und sagen, sonderpädagogischer Förderbedarf ist ein Jungen-Problem; aber genau genommen können wir das nicht nachweisen, weil dazu keine Statistik erhoben wird. Dabei bin ich aber nicht Ihre Ansprechpartnerin. Ich denke, dazu fragen Sie einmal Ihren Kultusminister.

Ein zweiter Punkt. Es wird immer wieder, gerade von meinen konservativen Kollegen, die Frage nach dem Warum aufgeworfen. Dazu will ich zwei Bemerkungen machen: Die UN-Konvention, auch wenn sie nur Kinder oder Menschen mit Behinderungen betrifft - eigentlich gehört zur Inklusion mehr -, ist von Betroffenen erarbeitet und eingefordert worden, das heißt von Menschen, die selbst betroffen sind. Ich glaube nicht, dass die Runde der Kultusminister es hinbekommen hätte, solch ein Konzept vorzulegen. Wenn mich nicht alles täuscht, sind das sogar die Worte Ihres Kultusministers bei der letzten Podiumsdiskussion zur Inklusion in Halle gewesen - ein bisschen verändert, das gebe ich zu; ich habe das etwas zugespitzt.

(Zuruf von Herrn Borgwardt, CDU)

Warum also? - Einfach deshalb, weil die Erziehungswissenschaften seit 15 Jahren davon sprechen - Frau Dalbert, Sie werden es vielleicht noch ein bisschen genauer wissen -, dass in den Förderschulen die emotionale, soziale Entwicklung von Kindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf gut unterwegs ist.

Aber die kognitive Entwicklung dieser Kinder ist dort eben nicht gut unterwegs. Sie bleibt unter ihren Möglichkeiten. Das haben Hamburger Professoren, Berliner Professoren festgestellt; ehrlich gesagt, ich kenne keinen mehr, der das anders sieht. Allein deshalb müssen wir prüfen, ob die Förderschule noch das geeignete Bildungsangebot für Kinder mit Behinderungen oder mit sonderpädagogischem Förderbedarf ist. Da sind wir in der Pflicht.

Ich habe es vorhin gesagt: Die Quelle von Veränderung, von Entwicklung ist Verschiedenheit. Natürlich gebe ich Ihnen darin Recht, dass allein die Anwesenheit es nicht macht; jedes System kann ruiniert werden. Dazu gehört eben wirklich ein Paradigmenwechsel im Hinblick darauf, was ich an Lernsituationen, Lernkultur, Lehrkultur schaffe. Das ist sehr, sehr tiefgreifend. Ich habe