Protokoll der Sitzung vom 22.03.2012

Wir haben es mit vier Kategorien zu tun: erstens Integrationskraft, zweitens Durchlässigkeit, drittens Kompetenzförderung und viertens Zertifikatserwerbe. Für unser Schulsystem sind dies zentrale Kategorien.

Die Länder wurden einem Vergleich unterzogen. Wichtig ist, an diesem Punkt auch zu erwähnen, dass für diesen „Chancenspiegel“ keine neuen Daten erhoben worden sind; vielmehr wurden die amtlichen Bundes- und Länderstatistiken sowie die Befunde der Leistungsstudien aus Pisa oder Iglu genutzt.

Man muss aber auch sagen, dass diese Erkenntnisse nicht überraschend sind. Die Ergebnisse der Studie haben also nicht überrascht. Die Probleme sind seit Längerem bekannt.

Ich darf an dieser Stelle aber auch versichern, dass sie deswegen nicht weniger ernst zu nehmen sind. Dies betrifft auch und gerade den Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und den erreichten Bildungsabschlüssen. Das ist eine Thematik, deren Ursachen und Folgen wir uns schon im Bildungskonvent umfangreich zugewandt haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich denke, es herrscht Übereinstimmung dahin gehend, dass wir uns in Sachen Kompetenzförderung auf einem sehr soliden Weg befinden. Dies illustriert die Bertelsmann-Studie deutlich. Sachsen-Anhalt findet sich bei der Lesekompetenz unter den besten Bundesländern wieder.

Die erzielten Ergebnisse verdeutlichen, dass unser Bildungssystem in diesem Schlüsselbereich, der maßgeblich über den weiteren Verlauf individueller Bildungsbiografien entscheidet, gut aufgestellt ist. Das motiviert. Das ist erfreulich.

(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU)

Das ist aber auch das einzige Resultat dieser Studie, bei dem wir uns in einer Spitzengruppe wiederfinden.

Der kritische Befund zur Durchlässigkeit des Schulsystems bestätigt Studienergebnisse vergangener Jahre. Wenn in Sachsen-Anhalt die Chance eines Kindes aus einer oberen Sozialschicht, das Gymnasium zu besuchen, viermal höher ist als die eines Kindes aus einer unteren Sozialschicht - so die Studie -, macht uns das nachdenklich und zwingt natürlich auch zum Handeln. An dieser Stelle wirkt sich nicht zuletzt die frühe Festlegung auf Bildungsgänge ab den Klassen 5 und 7 und damit auf Schulabschlüsse aus.

Ich bin aber davon überzeugt, dass insbesondere die freiwillige Einführung der Gemeinschaftsschule, die wir in den nächsten Wochen und Monaten auf den Weg bringen werden, sowie die aufgehobene Verbindlichkeit der Schullaufbahnempfehlung dazu beitragen werden, Durchlässigkeitsreserven in unserem Bildungssystem zu aktivieren.

Die Argumente sind hinlänglich bekannt. Deshalb verzichte ich an dieser Stelle darauf, dies noch einmal ausführlich aufzublättern.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Die Tatsache, dass Sachsen-Anhalt in der Bewertung der Dimension der Integrationskraft der unteren Ländergruppe zugeordnet wurde, ist ein Befund, der mich sehr unzufrieden macht.

Ich finde, dies ist ein weiterer Grund, den gemeinsamen Unterricht als Hauptbestandteil einer inklusiven Schule schwerpunkthaft auszubauen. Wir hatten dazu gestern einen Fachtag mit der Vereinigung christlich orientierter Schulen, bei dem es unter anderem darum ging, ob sich auch die christlichen Schulen als inklusive Schulen zu verstehen haben.

Der Trend ist eindeutig: Im Land Sachsen-Anhalt sind immer mehr inklusive Bildungsangebote entwickelt worden und wir werden immer mehr inklusive Bildungsangebote entwickeln. Im Schuljahr 2007/2008 waren es 7 %. In diesem Schuljahr sind wir bei ungefähr 21 %. Das sind gute Entwicklungen. Das ist ein guter Trend.

Das Feststellungsverfahren für die Attestierung eines sonderpädagogischen Förderbedarfs wurde im letzten Jahr modifiziert und inhaltlich von der einzelnen Schule an den Mobilen Sonderpädagogischen Diagnostischen Dienst übertragen.

Im ersten Jahr sank aufgrund dieses Wechsels die Zahl der festgestellten Förderbedarfe um rund 20 %. Die Hälfte der betroffenen Eltern entschied sich für den gemeinsamen Unterricht. Das ist eine ermutigende Entwicklung, eine richtige Entwicklung. Darüber haben wir aber auch schon in einer der letzten Landtagssitzungen ausführlich diskutiert.

Auch die Zielstellung des Landes - meine Vorrednerin ist darauf schon ausführlich eingegangen -, nämlich die Ganztagsschulentwicklung weiter voranzutreiben, insbesondere in der Sekundarstufe, ist deutlich hervorzuheben. Außerdem ist die Qualität der Ganztagsschulangebote zu verbessern. Das ist an dieser Stelle von zentraler Bedeutung.

Gegenwärtig nehmen 38 % der öffentlichen Sekundarschulen und knapp 29 % der öffentlichen Gymnasien am Ganztagsschulprogramm teil. Im laufenden Schuljahr wird 32 760 Schülerinnen und Schülern ein Ganztagsangebot unterbreitet, das von insgesamt 26 297 Schülerinnen und Schülern aktiv genutzt wird. Bis auf die 921 Schülerinnen

und Schüler der vier Ganztagsgrundschulen handelt es sich dabei um Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I.

Die Teilnehmerquote von 80 % ist auch im bundesweiten Vergleich beachtlich. Dies entspricht einer bedarfsorientierten Ausrichtung und unterstreicht die Qualität der Angebote der Schulen.

Diese Tendenz findet sich im Übrigen noch nicht in der Bertelsmann-Studie wieder; denn - das muss angemerkt werden - die aktuellen Entwicklungen im Bereich der sonderpädagogischen Förderung wie auch die Betreuungsangebote im Primarbereich und im Bereich der Ganztagsschule konnten in der Untersuchung noch nicht berücksichtigt werden, weil sie schlicht noch nicht in den Daten der Statistiken erfasst gewesen sind. Wir können also hoffen, dass wir bei künftigen Studien besser bewertet werden.

Zur Vermeidung von Missverständnissen möchte ich sagen: Ich will damit nicht die Ergebnisse des Ländervergleichs kleinreden. Eine Einordnung der genannten Hintergründe halte ich aber für ausgesprochen wichtig, verdeutlichen sie doch die positiven Entwicklungen in unserem Bildungssystem, die die Studie nicht sichtbar macht bzw. noch nicht sichtbar machen kann, weil einige dieser Veränderungen erst in den letzten Schuljahren eingeleitet wurden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Am Ende meiner Rede möchte ich noch einen ganz wichtigen Punkt ansprechen, nämlich die Tatsache, dass in Sachsen-Anhalt deutlich mehr Schülerinnen und Schüler zu einem Schulabschluss geführt werden müssen. Diese Tatsache ist nicht neu, aber drängender denn je, nicht zuletzt angesichts des Arbeitskräftebedarfs in der Zukunft.

Ich möchte an die vielen Podiumsgespräche erinnern, die wir mit den Handwerkskammern, mit den Industrie- und Handelskammern sowie mit den Kammern und Verbänden diesbezüglich führen, in denen deutlich wird, dass wir viel unternehmen müssen, damit der Arbeitskräftebedarf in der Zukunft gesichert werden kann, damit wir der demografischen Entwicklung etwas entgegensetzen und dass wir vor allem mit Blick auf die künftigen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Teilhabe diesen jungen Leuten etwas schuldig sind.

Nicht erst seit Beginn der Legislaturperiode haben wir verschiedene Maßnahmen eingeleitet, die darauf abzielen, die Zahl der Schüler ohne Abschluss zu senken und die Zahl höherwertiger Schulabschlüsse zu erhöhen.

Im Rahmen dieser Sitzungsperiode des Landtages werden wir noch über das Thema des Sitzenbleibens debattieren. Dabei wird sicherlich auch die Frage eine Rolle spielen, inwieweit wir es schaffen, mit Unterstützungssystemen dazu zu kommen, dass wir Programme entwickeln, die Schülern hel

fen, das Klassenziel zu erreichen und einen entsprechenden Schulabschluss anzustreben.

Von besonderem Interesse ist die Frage - sie hat in Debatten immer wieder eine Rolle gespielt -, wie groß die Zahl der Hochschulzugangsberechtigten ist, ob wir also genügend Abiturienten im Land Sachsen-Anhalt haben. Dabei befinden wir uns nicht in der Spitzengruppe. Bei dieser Frage hinken wir sogar dem Bundesdurchschnitt hinterher, wie die Zahlen belegen.

Das ist keine Sache, die man sich ausdenkt oder bei der man sich fragen muss, ob das möglicherweise das Wunschdenken des Ministeriums ist. Nein, in diesem Zusammenhang sprechen die Zahlen eine sehr deutliche Sprache. Das zeigt uns deutlich, dass wir einen Zahn zulegen müssen; denn hierbei befinden wir uns nicht in der Spitzengruppe, sondern unterhalb des Bundesdurchschnitts.

An dieser Stelle will ich aber auch darauf hinweisen, dass mit den von Frau Reinecke angesprochenen Instrumenten in Bezug auf die Schulsozialarbeit und in Bezug auf das produktive Lernen, das auch auf Förderschulen ausgeweitet werden soll, wichtige Programme zur Verfügung stehen, die unter der Überschrift „Schulerfolg sichern“ zeigen, dass wir an einer Erhöhung der Schulabgängerquoten arbeiten.

Im Übrigen ist es kein Geheimnis, dass wir in der kommenden EU-Förderperiode das Programm der Schulsozialarbeit fortsetzen wollen.

Letztlich zielt der neue kompetenzorientierte Lehrplan für die Sekundarschule darauf ab, mehr Praxiserfahrung und mehr Praxisanwendung zu ermöglichen.

Ich hoffe, dass sich dieses Bündel von Maßnahmen erfolgreich darauf auswirkt, dass wir bei kommenden Vergleichsstudien und beim kommenden „Chancenspiegel“ deutlich besser dastehen als heute.

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir haben die herausgestellten Befunde im Blick. Sie sind nicht neu. Der Koalitionsvertrag von CDU und SPD zielt mit seinen bildungspolitischen Vorhaben darauf ab, auf diese Problemlagen zu reagieren, also die Zahl der Schulabbrecher zu reduzieren, die Durchlässigkeit des Systems zu erhöhen und die Summe der Bildungschancen insgesamt zu erhöhen. Diese Vorhaben brauchen eine gute Begleitung und eine konsequente Unterstützung. Dafür danke ich an dieser Stelle schon heute. - Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD und bei der CDU)

Danke schön, Herr Minister. - Als Nächstes spricht für die Fraktion DIE LINKE Frau Kollegin Bull.

Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bertelsmann-Stiftung hat in der letzten Woche mehr oder weniger bekannte Befunde vorgetragen, darunter im Übrigen auch Befunde aus eigenen vorangegangenen Veröffentlichungen. Die Befunde sind weder neu noch aktuell. Die „Bertelsmänner“ rechnen aber gern und lieben das Benchmarking.

Ich denke, das Problem ist, dass allein quantitative Befunde in der Bildungsforschung uns nicht wirklich weiterbringen. Ich fände es sehr viel gewinnbringender, wenn wir Studien hätten, die darüber Auskunft geben, wie Lehrerinnen und Lehrer denken, welche pädagogischen Strategien zu ihrem Handwerkszeug gehören, welche Handlungskompetenzen vorhanden sind und welche subjektiven Theorien es gibt. Das wäre deutlich konstruktiver. Zahlen verkaufen sich aber immer besser.

Sehr geehrte Damen und Herren! Das Bildungssystem in Sachsen-Anhalt liegt schief, es liegt sozial schief. Das haben meine Vorredner bereits gesagt. Das Problem besteht vor allem für Schülerinnen und Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf, also mit besonders schwierigen Lernausgangsvoraussetzungen.

Nach den Berechnungen der Bertelsmann-Stiftung liegt der Anteil in den Förderschulen bei 8 %. Meine Berechnungen führen zu einem anderen, aber nicht sehr abweichenden Ergebnis. Das ist ein Problem für Schülerinnen und Schüler, bei denen allein die soziale Herkunft eine Barriere darstellt. Das ist außerdem ein Problem für Schülerinnen und Schüler, die sich der Schule als solche verweigern.

Meine Damen und Herren! Vorgestern hat eine Sekundarschullehrerin zu mir gesagt, Schulverweigerung sei keine Leistungsverweigerung.

Wir liegen in Sachsen-Anhalt immer noch bei 12,3 %. Dieser Anteil stagniert auf hohem Niveau. Die Durchlässigkeit ist nicht stark genug ausgeprägt und wir führen zu wenig Schülerinnen und Schüler zum Abitur.

Meine Damen und Herren! Das alles ist vorwiegend ein Problem von Jungen. Alle Indikatoren für besondere Problemlagen weisen auf, dass Jungen von diesem Problem deutlich stärker betroffen sind als Mädchen. Das ist auch kein neues Problem, aber das ist ein sehr drängendes Problem.

Zu diesem Problem gibt es noch nicht allzu viele Lösungen. Das wiederum spielt in der Studie der Bertelsmann-Stiftung überhaupt keine Rolle. Meine Damen und Herren! Ich denke, das ist eine Kritik, mit der man den Autorinnen und Autoren unbedingt begegnen muss.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Wer heutzutage eine bildungspolitische Studie mit einem geschlechterblinden Blick vorlegt, der

hat - mit Verlaub - die Zeit ein bisschen verschlafen.

(Zustimmung bei der LINKEN)

Was fängt man nun in den Ländern an mit der Datenpalette, die allen seit Langem bekannt ist? - Sinn macht es allemal, bildungspolitische Debatten zu führen.

Wir haben Baustellen, die wir gemeinsam bearbeiten müssen. Ich finde es in Ordnung, dass wir hier kontrovers darüber diskutieren. Wir sollten darüber diskutieren, worin die Hauptherausforderungen in den kommenden Jahren liegen, um die Chancengleichheit von Schülerinnen und Schülern zu verbessern.

Erstens. Meine Damen und Herren! Wir brauchen endlich ein tragfähiges Konzept für die Zukunft des gemeinsamen Unterrichts von Kindern mit und ohne Behinderung.