Wir können natürlich heute darüber nachdenken, ob das bedingungslose Grundeinkommen, über das heute diskutiert wird, eine Alternative gewesen wäre. Ich glaube, das hätte damals keine Mehrheit gefunden und wird sie auch nicht finden,
auch wenn in bestimmten Kreisen und auch in FDP-Kreisen darüber diskutiert worden ist. Das ist ja auch ein interessanter Gedankengang.
Die rot-grüne Bundesregierung hat damals - das war die letzte Stufe von Hartz IV -, vor zehn Jahren, im Jahr 2005, tatsächlich bedeutende Veränderungen herbeigeführt, nämlich die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Das hat zu vielfältiger Betroffenheit und deshalb auch zu unterschiedlichen Bewertungen geführt. Vielleicht habe ich noch die Zeit, um darauf zurückzukommen.
Die Einführung von Hartz IV vor zehn Jahren war der letzte, der bekannteste und sicherlich auch der folgenreichste Teil der Reform. Ab dem Jahr 2005 wurde die Arbeitslosenhilfe mit weiten Teilen der
Sozialhilfe für erwerbsfähige Personen zum sogenannten Arbeitslosengeld II zusammengelegt. Ich bin der Überzeugung, dass die Sinnhaftigkeit dieses Schrittes von niemandem bestritten wurde; denn viele Menschen, die in der Sozialhilfe geparkt waren und um die sich eigentlich niemand mehr gekümmert hat, hatten damit zumindest die Möglichkeit, erwähnt zu werden und in Vermittlung zu kommen. Ich habe in dem ganzen Parteienspektrum noch niemanden gehört, der gesagt hat, dass das ein Fehler gewesen wäre.
Dann sind alle drei Arbeitsmarktreformgesetze als Hartz-Gesetz in den allgemeinen Sprachschatz eingegangen.
Ich möchte jetzt nicht darauf herumreiten, aber mich hat Ihre Bemerkung „Armut per Gesetz“ betroffen gemacht. Ich finde sie zynisch, auch heute noch. Das klingt, als hätten Sozialdemokraten und GRÜNE mit dem Gesetz in Kauf genommen, dass Menschen in Armut geraten.
Darauf möchte ich näher eingehen, weil ich das für wirklich schwierig halte. Denn das, was zunächst gewollt war - ob es dann eingetreten ist, ist eine andere Frage -, war nicht die Armut. Das war wohl allen klar. Ich glaube, diese Bemerkung ist erlaubt.
Im Zusammenhang mit der Forderung „Hartz IV muss weg!“ muss man aber gleichzeitig die Frage stellen: Was soll an seine Stelle treten? - Es muss etwas sein, das auch funktioniert.
(Zustimmung bei der SPD und bei der CDU - Zurufe von der LINKEN - Herr Borgwardt, CDU: Wohlstandsalimentation!)
Es ist aber wichtig festzuhalten - das halte ich nach wie vor für richtig -, dass dieser Versuch in der damaligen Zeit unternommen worden ist. Ein erheblicher Teil davon ist auch heute noch von Bedeutung. Darüber hinaus muss man sich auch vor Augen führen, dass damals die Bundesagentur eingeführt worden und in die Fläche gekommen ist, die ortsnah vermitteln sollte.
Man muss jetzt die Frage stellen: Konnten denn die Ziele von Hartz IV erreicht werden? - Die Frage wird unterschiedlich beantwortet; das ist mir auch klar. Dazu sagt die Statistik: Im Januar 2003 waren in Sachsen-Anhalt rund 285 000 Menschen arbeitslos. Dies entsprach einer Arbeitslosenquote - Sie können sich noch daran erinnern - von 21,5 %. Nach der Einführung von Hartz IV stieg diese Quote noch an; das ist richtig. Woran lag das? - Ich habe es eben erwähnt: Es lag daran, dass eine große Zahl von erwerbslosen Menschen, die zuvor in der Sozialhilfe sozusagen versteckt waren und demzufolge in keiner Statistik
- Ich nehme an, dass Sie auch statistische Zahlen verwendet haben. - Diese Menschen waren zuvor vom Arbeitsmarkt faktisch abgehängt und erhielten nun eine neue, längst überfällige Chance, wieder in das Erwerbsleben - zumindest war das die Absicht - integriert zu werden. Das war auch einfach ehrlicher.
Sicherlich hatte sich mit der Umsetzung des SGB II - das ist richtig - das Transfereinkommen eines Teils ehemaliger Arbeitslosenhilfeempfänger vermindert. Das ist unbestreitbar. Das wissen wir auch.
Aber für alle übrigen potenziellen Anspruchsberechtigten fielen die Leistungen dagegen auf einen Schlag höher aus, nämlich für alle, die bisher in der Sozialhilfe geparkt waren. Das geschah auf einen Schlag. Das haben Sie vielleicht nur vergessen.
Es war vor allen Dingen transparenter und leichter zugänglich. Billiger als das Vorläufersystem war Hartz IV nicht; es hat mehr gekostet. Neben der passiven Absicherung wurde auch ein Instrumentarium zur Aktivierung und Integrierung von Arbeitsuchenden geschaffen.
Vielleicht kann ich an dieser Stelle auch Folgendes sagen: Der Slogan „Fördern und Fordern“ hat den Eindruck erweckt: Ja, das ist das richtige Instrument. Es ist richtig, dass Menschen auch selbst etwas tun können. Es ist richtig, dass man von ihnen, wenn man sie fördert, dann natürlich auch etwas fordert.
Etwas, das wahrscheinlich nicht klar war - die Sozialdemokraten haben danach alle Wahlen verloren; die sind doch nicht masochistisch,
war, dass das ein Versuch war, der ohne Alternativen umgesetzt wurde. Ich glaube, dass es diesen Versuch nicht nur wert war, sondern ich glaube auch, dass das weitergeführt und ergänzt werden wird.
Eines konnten wir mit Sicherheit nicht ahnen. Jetzt kommt eine kleine kritische Anmerkung, aber die nehme ich in gewissem Sinne zurück; denn ich hätte das damals auch nicht besser gewusst. Wir haben damals gedacht - ich glaube, das hat da
mals auch die Bundesregierung getan -, dass man mit diesen Reformen mehr Menschen in den Arbeitsmarkt bringen kann. Doch der Arbeitsmarkt hat das nicht hergegeben - hier im Osten schon gar nicht, weil wir die Arbeitsplätze nicht hatten. In dieser Zeit sind Arbeitsplätze zum Teil sogar weggefallen, weil wir die Unternehmen nicht hatten. Das war eine große Schwäche.
Es ist auch zu erwähnen, dass Menschen durch die Vermittlung und Aktivierung dann eher nicht in reguläre Arbeit auf dem ersten Arbeitsmarkt gekommen sind, sondern dass es sozusagen Arbeitsbeschaffungs- oder Aktivierungsmaßnahmen waren, in die sie integriert worden sind. Ich will auch zugeben, dass viele von denen, die dann im Laufe der Zeit diesen Drehtüreffekt erlebt haben - sie kamen in Ein-Euro-Jobs oder ABM und fielen dazwischen immer wieder in die Arbeitslosigkeit -, ein Stück weit die Hoffnung verloren haben, dass es überhaupt noch einmal klappt.
Dazu sage ich: Das ist heute anders. Jede Reform muss sich weiterentwickeln. In den nächsten Jahren werden wir genügend Arbeitsplätze haben. Heute kommt es wirklich darauf an, zu fördern und zu fordern; denn jetzt haben wir Möglichkeiten, die wir in den vielen Jahren zuvor nicht hatten. Die letzten Zahlen zu den versicherungspflichtigen Arbeitsplätzen zeigen das auch.
Ich mache eine zweite kritische Anmerkung. Sie haben mitbekommen, dass die Sozialdemokraten sich in den letzten Jahren sehr schwer getan haben, dass die Agenda umstritten war und dass wir es uns auf Parteitagen nicht leicht gemacht haben. Das machen wir nicht, weil es Spaß macht oder weil wir sagen, wir quälen uns gern ein bisschen. Etwas, das man mit Sicherheit - das glaube ich zumindest; im Nachhinein ist man immer schlauer - besser hätte machen sollen, ist: Man muss die Menschen bei solchen Reformen besser mitnehmen.
Man hätte vielleicht deutlicher sagen können, was auf dem Spiel steht und was nicht gleich gelingt. Vielleicht waren die Hoffnungen zu groß, etwas zu erreichen. Bei den Einzelnen ist es dann nicht angenommen. Vor allen Dingen haben diejenigen, die zuvor berufstätig waren - nicht für alle, aber einige -, dann die Erfahrung gemacht, dass sie das Gefühl hatten, dass sie sich, wenn sie zum Arbeitsamt gehen, quasi nackt ausziehen und auch noch das Letzte auf den Tisch legen müssten. Das kratzt an der Würde des Einzelnen; das gebe ich zu.
Es ist auch nicht abwegig; denn die damit verbundenen Instrumente funktionieren. Sie zeigen die erwähnte Entwicklung bei den Arbeitslosen und den Leistungsberechtigten nach dem SGB II. So
konnte in Sachsen-Anhalt die Zahl der Arbeitslosen von ursprünglich 295 000 auf inzwischen 119 000 verringert werden. Das entspricht einer Reduzierung um 60 %.
Eine ähnliche, wenn auch nicht ganz so stark ausgeprägte Tendenz ist bei der Hilfebedürftigkeit im SGB II verzeichnen. Von rund 400 000 Personen im Jahr 2006 waren im September 2014 noch 270 000 Personen auf Leistungen aus der Grundsicherung angewiesen. Das bedeutet einen Rückgang von 32 %.
Könnte man damit eigentlich zufrieden sein? - Das ist, glaube ich, der Punkt, an dem man noch einmal auf den Kern der Hartz-Reform eingehen kann. Warum ist denn der Rückgang der Hilfebedürftigkeit deutlich geringer ausgeprägt als der der Arbeitslosigkeit? - Das ist eine Frage, die man sich stellt.
Dazu würde ich sagen - darüber haben wir hier auch ein paar Mal diskutiert; das sehen wir auch kritisch -: Das ist darauf zurückzuführen, dass die sogenannte Flexibilisierung des Arbeitsmarktes durch eine Ausweitung von Beschäftigungsverhältnissen erkauft worden ist, die wir heute wegen der negativen Auswirkungen, wegen ihrer negativen Auswüchse unter den Begriff prekäre Beschäftigungsverhältnisse subsumieren. Es geht um die negativen Auswüchse bei der Zeitarbeit, um die Probleme bei den Minijobs und Ähnliches.
Für einige Kritiker und wahrscheinlich auch für die antragstellende Fraktion ist es wegen der damit verbundenen Verluste von Erwerbssicherheit reines Teufelszeug. Für die Befürworter ist es jedoch eine Chance für ansonsten womöglich Chancenlose. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit am Ende irgendwo dazwischen.
Der gesetzliche Mindestlohn bietet zumindest eine gewisse Entlastung. Er kann auch deshalb als Antwort der Politik auf Fehlentwicklungen im Hartz-IVSystem verstanden werden. Deshalb haben wir am Ende auch darum gekämpft. Ab diesem Monat sind in der Regel bei Vollzeitbeschäftigung und einer 40-Stunden-Woche mindestens 1 473 € zu zahlen. Dabei handelt es sich lediglich um einen Mindestlohn, also um eine Untergrenze. Der Lohn müsste, um rentenversichert zu sein, um Etliches höher ausfallen.
Es ist auch selbstverständlich, dass die Lohngruppen, die darüber liegen, angepasst werden sollen. Ich glaube, dass damit auch ein Weg gefunden worden ist, um die Zahl derjenigen zu verringern, die trotz Arbeit und Erwerbseinkommen auf zusätzliche Hartz-IV-Leistungen angewiesen sind. Auch das war ein Problem.
wenn es um Zeitarbeit und andere Beschäftigungsformen wie Minijobs geht. Das ist die Herausforderung, die weiterhin vor uns steht.
Um noch einmal zu Hartz IV zurückzukommen: In der Gesamtbetrachtung komme ich zu dem Schluss, die Reform war im Grunde notwendig und auch in vielerlei Hinsicht richtig. Denn insgesamt konnte die Zahl der Arbeitslosen und der Hilfebedürftigen deutlich gesenkt werden. Es bestehen auch aus wissenschaftlicher Sicht - es gibt immer solche und solche, die man erwähnen kann, das erspare ich mir jetzt - kaum Zweifel, das sich das System bewährt hat.
Unbestreitbar sind die eben von mir benannten Schwachstellen, die behoben werden müssen. Dazu gehört der Abbau von Zeitarbeit und Minijobs. Zudem muss die Attraktivität der Arbeitsplätze auf unserem Arbeitsmarkt erhöht werden. Unser Haus unternimmt diesbezüglich alle Anstrengungen - das gilt auch für das Wirtschaftsministerium und alle, die damit zu tun haben. Daher werden die Chancen, die wir heute haben und in den nächsten Jahren haben werden, immer größer.
Es ist richtig, Menschen gezielt in Arbeit zu bringen, auch jene, die jünger sind und Chancen haben. Ich erwähne an dieser Stelle unser Programm für Alleinerziehende und für Familien, in denen beide Elternteile arbeitslos sind. Es zielt darauf ab, diese Menschen in Arbeit zu bringen. Es ist ein erfolgreiches Programm, das wir weiterführen können.
Übrigens ist Kinderarmut immer Einkommensarmut. Deshalb ist es unheimlich wichtig, an dieser Stelle anzusetzen. Relative Armut bzw. Teilhabearmut kann übrigens auch bei sehr reichen Familien vorkommen, wenn die Eltern gar keine Zeit mehr haben, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Wir werden mit ESF-Mitteln auch ein Programm für die nächste Wahlperiode auflegen, wobei wir das ein Stück weit - wir können nicht alles auffangen - mit sogenannter Bürgerarbeit auffangen werden. Das ist ein langfristiges Programm für diejenigen, die 58 Jahre oder älter sind; denn - das ist in Ost und West gleich - die langzeitarbeitslosen Älteren haben auf dem regulären Arbeitsmarkt überhaupt keine Chance. Wir sind zurzeit damit beschäftigt. Zwar gibt es noch einige Hürden vonseiten der EU, aber das werden wir in diesem Jahr umsetzen.