Wenn ich in die Runde blicke, dann sehe ich nicht mehr ganz so viele Kolleginnen und Kollegen, die bereits im Jahr 1990 in das Parlament gewählt worden sind. In meiner Fraktion sind die Abgeordneten der ersten Stunde Finanzminister Bullerjahn, Thomas Felke und Tilmann Tögel. Das sind bei der CDU Detlef Gürth, der Landtagspräsident, und Jürgen Scharf. Und das ist bei der LINKEN, wenn ich das richtig sehe, Hans-Jörg Krause.
Ich selbst war damals jüngste Abgeordnete des neuen Landtages, Schriftführerin bei der Konstituierung des Landtags in Dessau, 25 Jahre jung, hatte also, von heute aus betrachtet, die Hälfte meines jetzigen Lebens hinter mir.
„Sachsen-Anhalt auf gutem Weg“ - so hat der Ministerpräsident seine Regierungserklärung überschrieben. Das werden ganz sicher - das stimmt auch - ganz viele zu Recht teilen, aber nicht jede und nicht jeder in unserem Land wird das unterschreiben.
Blickt man auf die Geschichte, ist jedenfalls eines sicher: Es war ein harter Weg, auf den sich Sachsen-Anhalt im Jahr 1990 gemacht hat, vor allem ein Weg mit ganz vielen Starthindernissen. Von den Stadthindernissen konnten wir, die damals da
bei waren, nur einige erahnen. Dass es drei Ministerpräsidenten geben würde, gleich in der ersten Legislaturperiode des Landes, ahnten wir zum Beispiel nicht. Dass es ein schwieriger wirtschaftlicher Strukturwandel werden würde, das konnten wir erahnen, aber sich vorstellen, was das wirklich heißt, das konnte damals niemand.
Kein Teil der ehemaligen DDR musste die Strukturbrüche mit solcher Härte durchleben wie Sachsen-Anhalt. Kein Land war so abhängig von so starken industriellen Prägungen, von regional bestimmenden Großkombinaten. In keinem Land schlugen deshalb Betriebsschließungen und Massenentlassungen mit all ihren Auswirkungen auf die Familien der betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in solchem Umfang zu Buche wie in Sachsen-Anhalt.
Im Vergleich zu diesen harten ökonomischen Fakten war es das deutlich geringere Problem, dass Sachsen-Anhalt - ein Bindestrichland - ein Land mit nur kurzer gemeinsamer Geschichte und ohne gewachsene Identität war. Wie es Professor Böhmer bei seiner Ehrung am Mittwoch ausdrückte: Als die neuen Länder entstanden, waren die Sachsen schon lange Sachsen, die Thüringer schon lange Thüringer, die Mecklenburger schon Mecklenburger und die Brandenburger wären sowieso am liebsten wieder Preußen geworden, aber Brandenburg war auch ganz schön - nur die SachsenAnhalter haderten mit ihrer Landesidentität.
Gleichwohl hat sich das Land in den letzten 25 Jahren gut gefunden und es steht nicht zur Disposition. Mein Kollege Bernward Rothe hatte mit einem verschmitzten Lächeln am Dienstag angeboten, er würde den Redebeitrag heute übernehmen.
Ich habe dankend abgelehnt. Ich möchte das Land, mein Land Sachsen-Anhalt, nicht an ein anderes Bundesland anschließen. Ich möchte mehr aus ihm machen, als es jetzt schon ist.
Die harten Einbrüche in der Industrie, die hohen Arbeitslosenzahlen, die großen Strukturprobleme in den Regionen des Landes sorgten aber auch - erinnern wir uns - für Kreativität, für das Freisetzen von Kreativität für neue Ideen. Wir waren die Ersten, die neue Ideen umsetzten, die später ein Vorbild für ganz viele Regionen waren.
Mit Klaus Schucht als Wirtschaftsminister haben wir aus den großen, in der bisherigen Struktur längst nicht mehr wettbewerbsfähigen und ökologisch katastrophalen Chemiekombinaten hochmoderne und saubere Chemieparks gemacht, die am Weltmarkt agieren und auf deren Flächen sich moderne Unternehmen befinden.
Wir in Sachsen-Anhalt haben es auch geschafft, die historisch gewachsene Maschinenbaukompetenz zu nutzen, um ein hochleistungsfähiges Netz an Automobilzulieferern aufzubauen - beides keineswegs Branchen, die Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit durch Niedriglohnpolitik oder durch das Unterlaufen von Tarifverträgen erreicht hätten; im Gegenteil: Hier gelten schon seit Langem gute Löhne und gute Bedingungen.
Und Sachsen-Anhalt ist ganz vorn gewesen, Vorreiter bei erneuerbaren Energien, nicht nur bei der Stromerzeugung, sondern, trotz der bekannten Rückschläge, insbesondere auch beim Anlagenbau, in der Nahrungsgüterindustrie, im Bergbau, bei Glaswerken oder in der Holzverarbeitung. All das sind gute Ansätze, um die Unternehmensdichte weiter zu erhöhen; denn daran fehlt es in Sachsen-Anhalt noch.
Wir sind in den 90er-Jahren mutige Wege gegangen, von denen wir keineswegs wussten, ob sie Erfolg haben würden. Warum, meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, tun wir das nicht wieder? - Das Gleiche zu tun, was auch andere tun, das wird langfristig nicht reichen. In der Forschung, bei der Gestaltung der Infrastruktur, in der Bildung oder in der Ansiedlungspolitik brauchen wir Ideen, die unser Land positiv aus dem Konzert der Bundesländer in der Bundesrepublik herausheben.
Ich finde, das Jubiläum „25 Jahre Sachsen-Anhalt“ ist auch ein Grund, sich einmal eine Runde positiver Spekulationen zu erlauben. Wie werden wohl die nächsten 25 Jahre verlaufen? Wie mag im Oktober 2040 zum Jubiläum „50 Jahre SachsenAnhalt“ der Rückblick ausfallen? - Wir wissen es natürlich nicht, aber wir könnten uns Ereignisse vorstellen, an die wir uns gern erinnern würden, Ereignisse, die heute selbstverständlich fiktiv sind, die es aber nicht bleiben müssen.
Ja, Herr Ministerpräsident, man muss ganz sicher wissen, woher man kommt. Man muss aber auch wissen, wohin man will. Ich nenne Ihnen ein paar fiktive Beispiele: September 2022 - Sachsen-Anhalt startet zum ersten Mal in ein Schuljahr mit flächendeckendem Ganztagsunterricht.
Von der Kita über die Grundschule, die Sekundarschule und das Gymnasium bis zur Berufsausbildung und zum Studium haben wir es geschafft, Zweisprachigkeit anzubieten, und das nicht nur als Reaktion auf die zu integrierenden Flüchtlingskinder mit ihrem Sprachengewirr, sondern weil es eine Anforderung der Wirtschaft ist, die sagt: Wir brauchen zweisprachige Schulabgängerinnen und Schulabgänger, egal ob aus der 10. oder der 12. Klasse.
Bevor ich den nächsten Punkt nenne, muss ich Ihnen sagen, dass dieser schon vor Mittwoch in meiner Rede stand.
Oktober 2023: Die Landeshauptstadt Magdeburg schließt eine Städtepartnerschaft mit dem syrischen Aleppo ab, einer Stadt im Wiederaufbau, aber befreit von Krieg und Diktatur. Wer einmal in Dubrovnik war, weiß, was ich meine: Diese Stadt war zerstört, es lebte niemand mehr dort. Heute ist sie eine blühende kleine Metropole in Kroatien. Aleppo, eine Stadt im Wiederaufbau, befreit von Krieg und Diktatur. Grundlage der Partnerschaft sind nicht zuletzt die zahlreichen familiären Bande zwischen Deutschland und Syrien.
- das könnte ich sogar noch erleben -, weil anhaltend mehr Menschen zuziehen als wegziehen. Verstärkt wird das durch die positive Entwicklung weiterhin steigender Geburtenraten.
2030: Im Vorjahr wurden aus Sachsen-Anhalt erstmals mehr Patente angemeldet als aus Stuttgart. Möglich macht das eine aktive Gründerszene, die von einer vorbildlichen innovativen Förderstrategie des Landes profitiert.
Das können aber nur Nachrichten werden, wenn wir uns schon heute überlegen, wie wir sie möglich machen wollen. In möchte nicht in die Glaskugel schauen. Ich bin Realpolitikerin, Wirtschaftspolitikerin, da schaut man nicht in Glaskugeln. Ich möchte auch nicht „Wünsch dir was“ spielen. Aber wenn ich mir wirklich etwas wünschen dürfte, dann, dass wir uns an den Elan und an die visionäre Kraft erinnern, die in den 90er-Jahren bei allen Problemen unser Handeln bestimmt haben. Unser Land kann ganz sicher mehr als früh aufstehen.
Ich finde, dass das Land Sachsen-Anhalt eine gesunde Mischung braucht: einerseits neue ehrgeizige Zielstellungen für die Entwicklung von Wirtschaft und Gesellschaft, andererseits ein professionelles Management, das die Weichen dafür stellt, dass diese Ziele auch erreicht werden können. Die Voraussetzung dafür ist eine ehrliche Bestandsaufnahme - ehrlich, ohne die Aufgaben, die vor uns liegen, zu überhöhen und ohne zu beklagen, dass es noch viel Arbeit gibt.
Herr Ministerpräsident, ich kann Ihnen wirklich aus tiefstem Herzen bei sehr vielem, was Sie gesagt haben, zustimmen.
Dennoch müssen wir uns, wenn wir die richtigen Strategien für die Zukunft entwickeln wollen, auch Fragen stellen, vielleicht auch nur leise. Können wir wirklich sagen, dass Sachsen-Anhalt auf einem guten Weg ist, wenn wir für ein ganzes Halbjahr und länger Nullwachstum zu verzeichnen haben? Sind wir auf einem guten Weg, wenn ganze Branchen von der Tarifbindung weitgehend abgekoppelt sind,
Sind wir auf einem guten Weg, wenn junge Menschen nach einer sehr guten Ausbildung in Sachsen-Anhalt noch immer den gut bezahlten Arbeitsplatz in Bayern oder in Hamburg annehmen? Sind wir auf einem guten Weg, wenn uns Forschungsinstitute und Wirtschaftsverbände unisono einen hohen Fachkräftemangel prophezeien? Sind wir auf einem guten Weg, wenn es an Straßen und Brücken in Sachsen-Anhalt einen hohen Investitionsstau gibt, die A 14 nach Norden noch nicht fertiggestellt ist und die A 143 bei Halle noch gar keine Perspektive hat?
- Ja, es gibt unterschiedliche Meinungen dazu, klar. Das kommt dann auch, meine lieben Damen und Herren von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Das ist so. Deshalb sind wir in unterschiedlichen Parteien und Fraktionen.
(Beifall bei der SPD, bei der CDU und von der Regierungsbank - Zuruf von Frau Prof. Dr. Dalbert, GRÜNE)
Sind wir schon auf einem guten Weg für die Entwicklung der ländlichen Räume in Sachsen-Anhalt? Haben wir schon die Lösung gefunden, um gleichwertige Lebensbedingungen auch in Gegenden mit dünner Besiedlung zu garantieren?
Das sind Fragen, die sich sicherlich auch andere Regionen in der Bundesrepublik stellen. Ja, ich finde, Ehrlichkeit muss zum Geschäft gehören. Realitätssinn und Zuversicht umschreiben, glaube ich, richtig, wie wir handeln müssen.