Protokoll der Sitzung vom 08.07.2020

Es ist ein großes Thema, aber wenn wir nicht darauf achten, dass wir bei uns in Deutschland - und die anderen in ihren Ländern - mit dem, was wir auch im Sinne Europas machen, die Akzeptanz der Bevölkerung gewinnen, dann gerät das ganze Gebäude ins Wanken. Das will ich mir gar nicht ausmalen; das wäre das Schlimmste, was der Weltgemeinschaft passieren könnte: ein destabilisiertes Europa. - Ich wünsche der Ratspräsidentschaft viel Erfolg.

(Zustimmung)

Herr Abg. Gürth, es gibt eine Frage des Abg. Striegel und eine weitere Wortmeldung von Herrn Raue. - Bitte, Herr Striegel.

Herr Kollege, da ist relativ viel Übereinstimmung in der Analyse, insbesondere auch zum Themenkreis Fluchtursachenbekämpfung. Ich glaube, die wichtigste Fluchtursache, die es zu bekämpfen gilt, ist die Klimakrise. Die wird uns in Zukunft noch übergroße Schwierigkeiten machen. Ein weiterer wichtiger Punkt wäre das Thema deutscher Waffenexporte, die zu diesen Kriegen beitragen. Sie haben eine ganze Reihe von Punkten angesprochen.

Ich will nur eine konkrete Nachfrage stellen: Wir haben eine ganze Reihe von Menschen, die bereits an der europäischen Außengrenze sind oder

diese gerade überwunden haben und sich bereits auf den griechischen Inseln befinden. Das humanitäre Problem in unserem Bereich ist jetzt vorhanden. Ganz konkrete Frage an die CDU-Fraktion im Landtag Sachsen-Anhalt: Schaffen wir es aus Sachsen-Anhalt heraus, einen kleinen Beitrag, einen wirklich kleinen Beitrag dazu zu leisten, diese humanitäre Krise zu lindern und einige wenige Menschen von dort nach Sachsen-Anhalt zu holen?

(Zurufe)

Wäre das eine Variante, um unseren kleinen Beitrag zu leisten?

(Zuruf)

Herr Abg. Gürth hat jetzt das Wort. Bitte, Sie können darauf jetzt erwidern.

Sehr geehrter Kollege Striegel! Ich und wohl auch alle Mitglieder meiner Fraktion sind fest davon überzeugt, dass Sachsen-Anhalt bereits nicht nur einen kleinen, sondern einen großen Beitrag in der Flüchtlingspolitik geleistet hat.

(Beifall)

Wir dürfen nicht vergessen, dass wir, verglichen mit den Flüchtlingen, in einem unglaublichen Wohlstand leben. Aber wir haben einen Strukturumbruch hinter uns, der europaweit seinesgleichen sucht. Wir haben Regionen mit einer strukturellen Arbeitslosigkeit von über 50 % über zwei Jahrzehnte gehabt; das ist jetzt besser geworden. Über 90 % der Bevölkerung im Erwerbsalter haben in den letzten Jahrzehnten mindestens dreimal ihren Arbeitsplatz wechseln müssen. Das sind unglaubliche Strukturbrüche. Es hat sich für alle alles verändert. Die Sorgen, die die Menschen hier haben, müssen wir mit im Blick behalten.

Ich möchte eine Asylpolitik, eine Solidarität und humanitäre Hilfe, die die Menschen mitnimmt und nicht besorgt oder verängstigt oder ablehnend so aufstellt, dass sie Rattenfängern in die Hände laufen. Wir müssen die Menschen mitnehmen. Insofern glaube ich, dass wir etwas Großes geleistet haben, dass wir zu Weiterem fähig sind. Aber das Maß der Dinge, sagt der Apotheker, ist entscheidend für das Überleben.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Gürth. Es gibt noch eine weitere Wortmeldung von Herrn Raue. - Bitte, Herr Raue, bitte bis zu zwei Minuten.

Ja. - Erst einmal eine kleine Frage: Herr Gürth, können Sie dem Haus kurz mitteilen, wer eigentlich seinerzeit die Rechtsgrundlagen in der Bundesrepublik ausgehebelt hat?

Ich kann Ihnen sagen, wer die Rechtsgrundlagen geschaffen hat.

Nein, das war nicht meine Frage, Herr Gürth. Wer hat sie ausgehebelt?

Die Kraft des Faktischen hat die Anwendung geltenden Rechts ausgehebelt. Ich sage das ganz klar für die CDU-Fraktion im Landtag SachsenAnhalt: in einem viel zu großen Ausmaß. Das ist überhaupt kein Dissens; das haben wir auch mehrfach öffentlich erklärt, dazu stehen wir auch. Es waren Krisensituationen, es waren Ausnahmesituationen. Aber jede Ausnahmesituation muss ein Ende finden und es kann nicht so weitergehen. Deswegen ist unsere Position: Wir haben geltendes Recht, das durchgesetzt werden muss, sonst geben wir Rechtsstaatsprinzipien auf. Wer die EU als Wertegemeinschaft bezeichnet - das tun wir alle gemeinsam -, der darf nicht dauerhaft dulden, dass Rechtsgrundlagen einfach ausgehebelt werden. Das ist unsere Position.

Herr Gürth, ich will Ihnen kurz helfen. Die „Macht des Faktischen“ hat einen Namen, das war die CDU Deutschlands. Die CDU hat die Rechtsgrundlagen ausgehebelt.

Abschließend möchte ich Ihnen gern noch eine zweite Frage stellen: Warum hat sich denn die CDU-Landtagsfraktion in Sachsen-Anhalt seinerzeit regelmäßig gegen die von der AfD vorgebrachte Kritik an dieser Flüchtlingspolitik gewendet und sich regelmäßig auch hinter die Beschlüsse der Bundesregierung gestellt? Warum sind Sie nicht vorgegangen und haben gesagt: „Eigentlich ist die Kritik der AfD berechtigt“?

(Zuruf)

Das hat doch aus Ihrer Partei niemand gemacht, bis heute nicht, wo wir in den Wahlkampf gehen.

(Zuruf)

Warum ist das nie geschehen?

Herr Abg. Gürth.

Werter Kollege, ich muss Ihnen komplett, zu allem, was Sie jetzt gesagt haben, widersprechen. Wenn Sie Ihre Anträge, Ihre Positionierungen in den Reden und die Antwort der CDU-Fraktion nachlesen, dann ist das in sich schlüssig und aus meiner Sicht auch heute noch gerechtfertigt. Man kann nicht Dinge ständig auf dem Rücken oder zulasten Dritter transportieren und Gesellschaften spalten. Falsches muss als Falsches bezeichnet werden, Kritisches muss kritisiert werden, das ist überhaupt kein Thema. Aber den Umgang untereinander dürfen wir nicht aus den Augen verlieren. Deswegen gibt es viele Gründe, warum wir so manchem AfD-Antrag nicht zugestimmt oder uns in der Abstimmung darüber der Stimme enthalten haben.

Auf Ihre erste Bemerkung - das ist mein erster Widerspruch noch mal -: Weder die CDU

Deutschland noch die CDU Sachsen-Anhalt haben an einem einzigen Punkt geltendes Recht ausgehebelt.

Zu Ihrer Erinnerung noch einmal, weil man Geschichtsklitterungen gleich widersprechen muss: Es war die Vereinbarung der deutschen Bundesregierung mit der österreichischen Bundesregierung, es damals 15 000 Menschen mit vielen Kindern, mit Kleinkindern, in einer unerträglichen Situation in Budapest zu ermöglichen, in einem kalten Winter aus dem dortigen Bahnhof in ein gesichertes Obdach in europäischen Mitgliedsländern zu gelangen. Das haben die deutsche und die österreichische Regierung vereinbart.

Das konnte damals so niemand vorhersagen. Wir wissen heute, dass dies ein Dammbruch war, der die Flüchtlingsbewegung noch gepusht hat, die uns allesamt an die Grenzen der Überforderung geführt hat. Das ist so gewesen und nicht anders. Gerade weil das so ist, muss man auch die Lehre daraus ziehen; denn solche Zustände dürfen nicht so bleiben. Es hat Verbesserungen gegeben. Aber wir müssen weiter daran arbeiten, dass das beherrschbar wird und nicht außer Kontrolle gerät.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Abg. Gürth. Ich sehe keine weiteren Wortmeldungen. - Zum Schluss hat für die Fraktion DIE LINKE der Abg. Herr Gallert das Wort. - Einen kleinen Moment, Herr Gallert, nicht so stürmisch, ich muss Sie bremsen. Das Redepult muss erst desinfiziert werden. - Herr Gallert, Sie haben jetzt das Wort.

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Natürlich ist es in einer solchen Dreiminutendebatte kaum möglich,

alle Dinge zu analysieren. Ich will nur einmal klar sagen: Natürlich sind in diesem Haus unterschiedliche Vorstellungen über die Entwicklung der Europäischen Union vorhanden. Das Wichtige ist nur: Ist man eigentlich davon überzeugt, dass der Weg der europäischen Integration für uns gut ist, dass er richtig ist und dass er zukunftsweisend ist? Vier Fraktionen streiten darüber, wie das gemacht werden kann, und eine Fraktion meint, dass es überhaupt nicht richtig ist, den Weg der europäischen Integration zu beschreiten. Deswegen sage ich noch einmal ganz klar: Ich muss mit der AfD über ihre Argumente nicht reden, weil sie ein anderes Ziel hat.

Ich will allerdings über die Argumente reden, die von den anderen Fraktionen vorgebracht worden sind. Da will ich dann schon einmal sagen: Holger Hövelmann, wir sind beim Inhalt vielleicht gar nicht so weit auseinander. Aber Sie haben sich hier hingestellt und gesagt: Ach Gott, was soll in dieser Ratspräsidentschaft von einem halben Jahr schon passieren? - Ein bisschen mehr Enthusiasmus, Herr Hövelmann, hätte ich mir von Ihnen und den Sozialdemokraten schon gewünscht.

(Beifall)

Wenn selbst der Herr Staatsminister eine für seine Verhältnisse emotional glühende Rede hält,

(Heiterkeit)

dann kann ich das auch von Herrn Hövelmann verlangen. Das wäre mir an dieser Stelle lieb und teuer gewesen.

(Beifall)

Wir wissen doch, wie kompliziert und schwierig die Situation ist. Natürlich weiß auch ich, dass es immer wieder eine gewisse Unfähigkeit gibt, zwischen der Ablehnung der europäischen Integration und der Kritik an der Europäischen Union zu differenzieren. Für Politiker scheint es manchmal immer nur ein Plus/Minus zu geben. Kommt aber eine zweite Dimension mit hinein, dann wird es schwierig.

Herr Gürth, wir können dieses Spiel natürlich gerne machen. Ich kann Ihnen das nächste Mal Zitate von CDU-Chefs vorlegen, die so etwas von antieuropäisch und so etwas von nationalistisch sind, dass wir damit die Redezeit hier füllen könnten. Es war ein CDU-Finanzminister, der Griechenland innerhalb der Eurogruppe in die Knie gezwungen hat.

(Beifall)

Er hat dafür gesorgt, dass sämtliche sozialen Haltelinien in Griechenland geschreddert worden sind, sodass diejenigen, die wegen ihrer Geschichte mit der Türkei wirklich glühende Europäer gewesen sind, zu Antieuropäern wurden. Er hat

dafür gesorgt, dass der Hafen von Piräus heute chinesisches Eigentum ist, weil er die Griechen gezwungen hat, ihre Infrastruktur zu verkaufen. Das wollen wir doch nicht vergessen, Herr Gürth. Deswegen: Unterlassen Sie mal solche Vorwürfe! Das kommt zurück wie ein Pingpongball. Lassen Sie das! Darüber brauchen wir nicht zu reden.

(Beifall)

Meine Bitte ist ausdrücklich, dass wir kapieren müssen, in welch komplizierter, schwieriger und elementar wichtiger Situation wir bei der europäischen Integration sind.

Ich sage es noch einmal: Nicht die schwarze Null, nicht die Profite und nicht der Freihandel sind entscheidend. Die Leute müssen die Europäische Union als soziale Schutzmacht erfahren. Die Mehrheit muss für Europa sein. Dann haben wir die Basis für die europäische Integration geschaffen und nicht anders. - Danke.