Protokoll der Sitzung vom 16.10.2020

Am 3. Oktober 2020 durften wir zum 30. Mal den Tag der Deutschen Einheit gemeinsam feiern. Er ist und bleibt ein Tag voller Freude und großer Dankbarkeit. In Potsdam erfolgte bei dem zentralen staatlichen Akt die Übergabe des Staffelstabes. Ab dem 1. November 2020 wird Sachsen-Anhalt die Bundesratspräsidentschaft innehaben, und wir sind, der guten Tradition folgend, im kommenden Jahr Gastgeber der Feierlichkeiten in Halle. Umso wichtiger ist es, dass wir bis dahin die Pandemie so weit beherrschen, dass Dinge, die bisher rein theoretisch geäußert wurden, dem nicht entgegenstehen.

Am 3. Oktober 2020 habe ich in Dessau einen Termin wahrgenommen, der mir besonders am Herzen lag. Engagierte Bürger und Bürgerinnen haben ein Einheitsdenkmal der besonderen Art errichtet. Nun steht auf dem dortigen Platz der Deutschen Einheit ein Gorbatschow-Denkmal. Ich halte die Verwirklichung dieses Denkmalprojekts für beachtlich. Es ist ein gutes Zeichen, dass ein Denkmal errichtet wird, das zum Nachdenken anregt.

Die deutsche Einheit hat viele Väter und Mütter, und beileibe nicht nur in Deutschland. Dass die deutsche Einheit am 3. Oktober Wirklichkeit wurde, war für viele lange nicht vorstellbar, aber doch erhofft. Hunderttausende, die im Herbst 1989 in der DDR mutig auf die Straße gingen, forderten jene Bürgerrechte ein, die für uns heute selbstverständlich sind: Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit, demokratische Wahlen, Religionsfreiheit, Reisefreiheit, Versammlungsfreiheit und vieles mehr.

Dankbar sind wir den Kirchen, die den Protestierenden Raum boten und ganz wesentlich zum friedlichen Charakter der Proteste beitrugen. Dankbar sind wir den Architekten der deutschen Einheit wie dem Kanzler der Einheit Helmut Kohl, dem Außenminister Hans-Dietrich Genscher und natürlich Lothar de Maizière. Aber - das ist mir ein besonderes Herzensanliegen - vergessen wir nicht Personen wie zum Beispiel Willy Brandt, der als Regierender Bürgermeister von Berlin und späterer Bundeskanzler nie von der deutschen Einheit abgelassen hat.

(Beifall)

Das Dessauer Denkmal macht deutlich, dass die Wiedervereinigung alles andere als eine innerdeutsche Angelegenheit war. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Unterstützung des westlichen Bündnisses, gerade in der Zeit des Kalten Krieges. Sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Vorarbeit, die im Osten Europas geleistet wurde.

Da war die Reformpolitik Gorbatschows in der Sowjetunion; sie hat den Bürgerrechtlern in der DDR Mut gegeben und den Herrschenden den Mut genommen. Da waren vorher Johannes Paul II., die Solidarnosc-Bewegung in Polen und die Ungarn mit ihren Reformen und der Grenzöffnung - das war der erste Stein, der aus der Mauer geschlagen wurde. Schließlich waren da auch die Zustimmung Gorbatschows zur deutschen Wiedervereinigung - keine Selbstverständlichkeit vor dem Hintergrund der Geschichte des

20. Jahrhunderts - sowie der Rückzug der sowjetischen Truppen bis zum Jahr 1994.

Insofern stehen wir in Ostdeutschland auch in der Schuld der Osteuropäer. Zugleich verbindet uns vieles mit ihnen, waren wir mit ihnen doch mehr als 40 Jahre lang in einer Schicksalsgemeinschaft verbunden. Wir und sie haben die gleichen Erfahrungen mit einem Gesellschaftssystem gemacht.

Im Osten haben wir erfahren müssen, dass in einer Gesellschaft, in der man meint, alles staatlich planen zu können und zu müssen, nichts nach Plan läuft. Wir haben gelernt, dass eine eher nüchterne Sicht auf das, was machbar und realistisch ist, der ehrlichere Weg ist und mehr Vertrauen schafft als große Versprechungen - gerade in diesen Tagen.

(Zustimmung)

Wer vom 3. Oktober und der deutschen Einheit spricht, der muss die Wiedergründung der Länder im Osten hervorheben. Vor fast genau 30 Jahren, am 14. Oktober 1990, fanden die ersten freien Wahlen statt. Bereits zwei Wochen später konstituierte sich in Dessau der Landtag von SachsenAnhalt und die parlamentarische Arbeit konnte beginnen. Auch die Neugründung der Länder war knapp 40 Jahre nach ihrer Auflösung ein Kraftakt. Das galt ebenso für den bereits zuvor erfolgten Neubeginn in den Kommunen.

Die Erwartungen beim Neustart waren ohne Zweifel groß. Im Überschwang der erfolgreichen friedlichen Revolution im Herbst 1989, der nicht für möglich gehaltenen Grenzöffnung am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung im Jahr darauf schien alles möglich.

Als dann die Mühen der Ebene im Einigungsprozess sichtbar wurden und durch die Schließung

der maroden und zum Teil künstlich am Leben gehaltenen Betriebe viele Menschen ihre Arbeit verloren, wurde Helmut Kohl für sein Wort von den „blühenden Landschaften“ gescholten.

Ich habe nun fast genau jeweils die Hälfte meines Lebens in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland verbracht. Der Reiner Haseloff des Jahres 1989 hätte nicht im Traum gehofft, dass seine Heimatstadt Wittenberg im Jahr 2020 jemals so aussehen könnte.

(Beifall)

Wenn wir mit wachem Blick und der Erinnerung an das Jahr 1989 durch unsere Städte und Gemeinden gehen, finden wir das überall. Mit dem Versprechen der blühenden Landschaften verhält es sich wie mit so vielem: Es ist eine Frage der Perspektive. Manch einer glaubte, die deutsche Einheit sei für ihn automatisch der Fahrschein zum menschlichen Glück, und war einige Jahre später enttäuscht, als die Fahrt länger dauerte als geplant.

30 Jahre nach der Verwirklichung der deutschen Einheit sollten wir uns hüten, an der Bildung von Legenden mitzuwirken. Das gilt gerade für die Generationen, die die DDR noch bewusst erlebt haben.

Wenn ich zum Beispiel lese, die Arbeit der Treuhandanstalt sei ein Kardinalfehler der Einheit gewesen, so ist dies ein solcher Versuch der Legendenbildung. Die Treuhandanstalt wurde am

1. März 1990 gegründet. Gewiss kann man ihr manche Fehler vorwerfen; dazu gehört zum Beispiel die aus heutiger Sicht blauäugige Vorstellung, aus dem Verkauf von DDR-Betrieben Einnahmen erzielen zu können. Am Ende hatte die Treuhand einen Verlust von 256 Milliarden

D-Mark zu verbuchen. Nicht die Treuhand war ein Kardinalfehler, sondern die sozialistische Planwirtschaft in der DDR.

(Beifall)

Wir hatten in der DDR hervorragend ausgebildete Fachkräfte, Menschen, die hart gearbeitet haben und die dennoch von einem untauglichen Wirtschaftssystem um die Früchte ihrer Arbeit gebracht wurden, weil es Kreativität, Eigeninitiative und Unternehmergeist behinderte.

Haben wir, die wir vor 30 Jahren im Osten im Arbeitsleben standen, nicht gewusst, dass diese Einheit eine Herausforderung werden würde, dass die Wirtschaft des Ostens nicht würde mithalten können unter den Bedingungen des Weltmarktes?

Auch über die Frage des Wie der Wiedervereinigung wurde im Jahr 1990 diskutiert. Es gibt bis heute nicht wenige Stimmen, die noch immer mit dem Beitritt nach Artikel 23 des Grundgesetzes hadern und Artikel 146 den Vorzug gegeben hät

ten. Diese akademische Diskussion ging damals und geht heute an der Realität vorbei. Im Laufe des Jahres 1989 hatten fast 900 000 Bürger die DDR in Richtung Bundesrepublik verlassen. Es ergab sich ein gewaltiger Handlungsdruck sowohl hinsichtlich einer Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion als auch hinsichtlich der konkreten Gestaltung der Wiedervereinigung.

Natürlich hätte man über eine neue, gemeinsame Verfassung diskutieren können und womöglich wären wir damit noch heute beschäftigt. Aber war dieses Grundgesetz nicht genau das, wonach wir in der DDR gestrebt haben?

Erfreulich ist, dass rund zwei Drittel der Menschen im Osten eine Verbesserung ihrer Lebensverhältnisse seit dem Jahr 1990 sehen und dass die Verbundenheit der Menschen mit ihrem Bundesland gestiegen ist. Das gilt auch für Sachsen-Anhalt, das kein historisch gewachsenes Land ist.

Wir können uns über die Chancen freuen, die uns die Einheit eröffnet hat, und noch mehr über das, was durch sie geschaffen wurde. Vieles, was heute selbstverständlich ist, ist für meine Generation ein Wunder, mit dem wir niemals gerechnet hätten.

Was haben wir für riesige Fortschritte bei der Verbesserung unserer Umwelt erreicht. In der Elbe leben heute wieder reichlich Fische, und der Fluss riecht nicht mehr so, als hätte man gerade eine Flasche Sanitärreiniger geöffnet. Die Luft in Bitterfeld-Wolfen oder Leuna ist heute genauso gut wie anderswo in Deutschland und gleichzeitig ist eine leistungsfähige und hochmoderne Chemieindustrie entstanden.

(Zustimmung)

Wo einst Mauer und Stacheldraht standen, zieht sich ein grünes Band durch Deutschland, das einen Lebensraum für seltene Tiere und Pflanzen bildet. Allein das ist ein uneingeschränkter Grund zur Freude.

Dies alles wurde nur möglich, weil bei uns in Sachsen-Anhalt in den letzten 30 Jahren massiv investiert wurde, weil die Sachsen-Anhalterinnen und Sachsen-Anhalter beherzt einen Neuanfang gewagt haben. Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass wir selbst die Mittel dafür niemals hätten aufbringen können. Wir haben von den massiven innerdeutschen Transfers und den Hilfen durch die EU profitiert. Innerhalb der Sozialversicherungssysteme ist das noch heute der Fall.

In Sachsen-Anhalt wurden seit dem Jahr 1990 allein 1,5 Milliarden € für die Altlastensanierung aufgewendet - ein Großreinemachen nach

40 Jahren nicht vorhandener sozialistischer Umweltpolitik. Die Emissionen von Schwefeldioxid und Schwebstaub pro Kopf der Bevölkerung

waren in der DDR jeweils rund 15-mal höher als im Westen.

Mit Mitteln in Höhe von 3,9 Milliarden € wurden die Krankenhäuser auf den neuesten Stand der Technik gebracht. Wer heute die Segnungen des DDR-Gesundheitswesens preist, der vergisst, wie schlecht es oft um die apparative Ausstattung der Krankenhäuser bestellt war.

Ein Betrag von 3,5 Milliarden € floss in die Städtebauförderung. Erinnern wir uns: In der DDR wurde im Jahr 1971 das Wohnungsbauprogramm beschlossen. Damals gab es rund 600 000 Wohnungssuchende. Bis zum Jahr 1990 sollte, so das Versprechen der SED, das Wohnungsproblem gelöst sein. Doch bis zum Jahr 1990 stieg die Zahl der Wohnungssuchenden weiter auf schließlich mehr als 700 000. Bei Minimalmieten, die rund 3 % des Haushaltseinkommens entsprachen, waren die bestehenden Häuser nicht zu erhalten, und die Altbausubstanz verfiel. Neubauten konnten die Verluste nicht ausgleichen. Auch dies ist ohne Zweifel eine wichtige Erfahrung, die wir im Osten gemacht haben.

Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es 30 Jahre nach der Einheit noch immer deutliche Unterschiede zwischen Ost und West gibt. Die deutsche Einheit ist kein Selbstläufer. Die weitere wirtschaftliche Angleichung ist und bleibt ein schwieriger Prozess.

Wir haben noch nicht aufgeschlossen bei der Höhe der Löhne und der Renten oder bei der Höhe des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf. Gleichzeitig haben wir aber auch noch nicht die Lebenshaltungskosten erreicht wie in den alten Bundesländern. Man lebt im Osten nach wie vor günstiger als im Westen. Und Unterschiede gibt es auch zwischen Nord und Süd. Die Einkommensunterschiede zwischen den einzelnen Regionen sind in Deutschland geringer als bei vielen unserer europäischen Nachbarn.

Die Zeiten, in denen wir mit Wanderungsverlusten zu kämpfen hatten, sind Gott sei Dank vorbei. Im vorigen Jahr sind rund 2 400 Menschen mehr nach Sachsen-Anhalt gekommen, als das Land verlassen haben. Dieser Trend besteht bereits seit dem Jahr 2014. Mit insgesamt mehr als 39 000 Personen ist der Wanderungssaldo seither positiv.

Unsere kleinteiligere Wirtschaft hat sich als krisenfester erwiesen. Das IWH hat vorgestern mitgeteilt, dass der Wirtschaftseinbruch im Jahr 2020 in Ostdeutschland nur halb so stark war wie in der gesamten Bundesrepublik.

Dass der Osten zunehmend an Attraktivität gewinnt, zeigt sich auch an unseren Hochschulen und Universitäten. Gab es im Wintersemester 1991/1992 rund 21 400 Studenten an Sachsen

Anhalts Hochschulen, so waren es im vergangenen Wintersemester 54 000. Zwei Drittel davon kamen nicht aus Sachsen-Anhalt. Auch die Zahl der internationalen Studenten stieg im selben Zeitraum kräftig an: von 560 auf 8 400.

Sachsen-Anhalt ist im Bereich Wissenschaft und Forschung gut aufgestellt. Davon zeugt nicht nur eine Vielzahl moderner Forschungseinrichtungen und -institute mit insgesamt mehr als 2 500 Mitarbeitern. In Sachsen-Anhalt hat auch die Leopoldina, die Nationale Akademie der Wissenschaften, ihren Sitz. Das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt wird das Nationale Erprobungszentrum für unbemannte Luftfahrtsysteme auf dem Flughafen Cochstedt errichten, den viele für schon längst tot gehalten haben.

Der Impfstoffhersteller IDT Biologika in DessauRoßlau wird für die nationale Impfstoffversorgung in der gegenwärtigen Pandemie eine zentrale Rolle spielen. Wir haben in Sandersdorf-Brehna kürzlich eine der größten und modernsten Papierfabriken der Welt eröffnet. Am gleichen Standort hat die Firma FEV vor wenigen Tagen ein neues Prüfzentrum für Fahrzeugbatterien eingeweiht, ein Prüfzentrum, das für die ganze Welt von Nutzen sein wird. Ohne die bei uns durchgeführten Tests in einem innovativen Unternehmen würde in Europa kaum ein Elektroauto auf die Straße kommen. All das sind Beispiele dafür, dass wir die Chancen der Einheit genutzt haben und jeden Tag ein Stück weiter vorankommen.

Die Wirtschaft im Osten wie selbstverständlich auch in Sachsen-Anhalt hat in den vergangenen 30 Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf hat sich verdreifacht. Das hat positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Hatten wir zehn Jahre nach der Wiedervereinigung noch Arbeitslosenquoten von

deutlich mehr als 20 % zu beklagen - die Unterbeschäftigung lag doppelt so hoch wie diese ausgewiesenen 20 % -, ist nun selbst während der Coronakrise die Arbeitslosenquote klar unter der Marke von 10 % geblieben. Mit aktuell 7,7 % hat Sachsen-Anhalt Länder wie Bremen, Hamburg und Nordrhein-Westfalen hinter sich gelassen. Das schien noch vor wenigen Jahren ein schier unerreichbares Ziel zu sein.

Verehrte Abgeordnete! 30 Jahre deutsche Einheit, 30 Jahre Sachsen-Anhalt - das kann nicht nur Anlass für Bilanz und Rückblick sein. Vielmehr müssen wir vorausschauen. Zu den Hoffnungen, die wir am Ende des 20. Jahrhunderts hegten, zählte auch die Vorstellung, dass nach einem Jahrhundert der Kriege und dem Fall des Eisernen Vorhangs, der Deutschland und Europa teilte, nun ein Jahrhundert des dauerhaften Friedens und der Verständigung anbrechen würde. Diese Hoffnungen haben sich nur zum Teil erfüllt.

Die deutsche Einheit ist kein Selbstläufer. Die weitere wirtschaftliche Angleichung ist ein schwieriger Prozess. Die Welt ist leider nicht friedlicher geworden und die Auswirkungen internationaler Krisen werden auch in Deutschland spürbar. Hierauf müssen wir gemeinsam Antworten finden, in Sachsen-Anhalt, in Deutschland und gemeinsam in der Europäischen Union.