Protokoll der Sitzung vom 16.10.2020

Die deutsche Einheit ist kein Selbstläufer. Die weitere wirtschaftliche Angleichung ist ein schwieriger Prozess. Die Welt ist leider nicht friedlicher geworden und die Auswirkungen internationaler Krisen werden auch in Deutschland spürbar. Hierauf müssen wir gemeinsam Antworten finden, in Sachsen-Anhalt, in Deutschland und gemeinsam in der Europäischen Union.

Nach dem Beschluss zum Kohleausstieg wird uns der Strukturwandel in der Braunkohleregion im Süden unseres Landes in den nächsten Jahren fordern. Es ist nach 30 Jahren der nächste Transformationsprozess, der auf uns als Bürgerinnen und Bürger dieses Landes zukommt. Die Coronapandemie hat gezeigt, dass wir jederzeit vor neuen Herausforderungen stehen können, auf die wir angemessen reagieren müssen.

Wir erleben angesichts dieser Herausforderungen aber auch Orientierungslosigkeit und einen Vertrauensverlust gegenüber der Problemlösungskompetenz von Politikern und Regierungen. Daran gibt es nichts zu beschönigen. Dies zeigt sich beispielsweise an der Zahl der Mitglieder in Parteien. Von 1990 bis Ende 2018 ist die Zahl der Mitglieder in den Parteien im Osten Deutschlands um 79 % gesunken. Im Westen liegt der Rückgang bei 42 %.

Befinden wir uns also 30 Jahre nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit in einer Vertrauenskrise gegenüber der Politik?

(Zuruf: Selbstverständlich ja!)

Trauen es uns die Menschen nicht mehr zu, die gravierenden Probleme der Gegenwart - struktureller Wandel, Migration, Umgang mit Herausforderungen wie einer Pandemie - zu lösen? Wenn ja, wie sollen wir darauf reagieren?

Als Bürger mit DDR-Vergangenheit weiß ich genau, wie auf Herausforderungen nicht zu reagieren ist: mit dem Ausblenden und Negieren von Problemen, mit plattem Schönreden und mit Bevormundung. Damit werden wir kein Vertrauen zurückgewinnen. Die Politik sollte Menschen nicht belehren, sondern sie mit guter Sacharbeit und mit guten Argumenten für sich gewinnen. Verständnis für unangenehme Fragen und Meinungen ist eine wichtige Voraussetzung für das Verstehen dessen, was Menschen bewegt. Andere Meinungen auszuhalten, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, das ist es schließlich, was unsere Demokratie im Gegensatz zur DDR ausmacht.

Wir sollten uns davor hüten, Menschen, die angesichts der Maßnahmen zur Bekämpfung des Coronavirus verunsichert oder besorgt sind, weil sie ihre berufliche Existenz in Gefahr sehen oder weil sie die Notwendigkeit der Maßnahmen nicht erkennen, in eine bestimmte Ecke zu stellen. Als verantwortungsvolle Politiker müssen wir auch

Befürchtungen ernst nehmen, die wir nicht teilen, und wir müssen uns mit ihnen auseinandersetzen.

Verehrte Abgeordnete! Andere Meinungen zu akzeptieren, sich mit ihnen auseinanderzusetzen, das heißt jedoch nicht, denen einen Freibrief auszustellen, die die Grundfesten unserer Demokratie bedrohen. Rassismus, rechte Hetze, Angriffe auf das Leben anderer Menschen sind nicht diskutabel.

(Beifall - André Poggenburg, fraktionslos: Linke Hetze! Linke Aggression!)

Hier endet Toleranz, hier ist unser Rechtsstaat gefragt; denn dadurch wird unsere Demokratie direkt bedroht.

Erst vor wenigen Tagen haben wir in Halle des rechtsextremistischen Anschlags auf die Synagoge und den Kiez-Döner im vorigen Jahr gedacht. Ein solches Geschehen darf und soll sich nicht wiederholen. Deswegen haben wir ein Landesprogramm für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus verabschiedet. Deswegen haben wir den jüdischen Gemeinden im Land vertraglich finanzielle Unterstützung bei der Sicherung der Synagogen im Land zugesagt. Deswegen bin ich auch froh über das deutliche Signal, das die Hallenser und Hallenserinnen am vergangenen Freitag mit ihrer Beteiligung an der Gedenkveranstaltung gegeben haben.

Das Land Sachsen-Anhalt hat in den Jahrzehnten seit seiner Gründung eine erfolgreiche Entwicklung genommen. Diese wollen wir fortsetzen. Dazu werden wir weiter investieren in den Ausbau der Digitalisierung, in Wissenschaft und Forschung, in die Ansiedlung von Unternehmen, in Bildung und Kinderbetreuung, in den Ausbau der Infrastruktur, in die Kultur und in den Erhalt unserer Umwelt.

Wir werden insbesondere den Strukturwandel in der Braunkohleregion vorantreiben und zu einem Erfolg machen. Wir haben schon einmal gezeigt, dass wir das können. Dabei setzen wir auf Innovationen. Unser Land ist schon heute ein Vorreiter bei der Nutzung erneuerbarer Energien.

Wir wollen auch bei der Nutzung der Wasserstofftechnologien führend sein. Erste Projekte befinden sich in der Realisierung. Wichtig ist uns dabei auch die Verknüpfung mit den sogenannten Leuchttürmen der wirtschaftlichen Entwicklung, die es gerade auch im Osten gibt. Der Raum Halle-Leipzig gehört dazu. Dort ist der wirtschaftliche Aufschwung spürbar und dies hat auch Auswirkungen auf die demografische Entwicklung. Davon kann auch das Revier im Süden SachsenAnhalts profitieren.

Mein Wunsch für die Zukunft ist jedenfalls, dass wir in Deutschland nicht so stark darauf schauen, was uns trennt, sondern dass wir vor allem das im

Blick haben, was uns eint und was wir gemeinsam bereits erreicht haben. Tragen wir also gemeinsam dazu bei, dass wir auch künftig die Erfolgsgeschichte unseres Landes Sachsen-Anhalt fortschreiben können. Zeigen wir, dass wir in einem Land leben, dessen Markenzeichen „moderndenken“ ist, und dass wir gemeinsam unsere Zukunft formen und Herausforderungen, wie derzeit in der Pandemie, weiter erfolgreich bewältigen. - Herzlichen Dank.

(Beifall)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. Es gibt zwei Wortmeldungen. Herr Abg. Poggenburg als Erster und dann Herr Abg. Roi. - Sie haben das Wort, bitte.

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident! Sie haben in Ihren Ausführungen gerade als Beispiel rechte Hetze und Angriffe auf andere Personen angebracht und natürlich kritisiert, was ich wiederum nicht kritisieren will. Aber warum vergessen Sie linke Hetze, linken Hass, Angriffe linker militanter Personen auf politisch Andersdenkende oder lassen es absichtlich weg? 30 Jahre, nachdem man versucht hat, linkes Diktat abzuschütteln, es loswerden wollte, kann man das in der Erklärung doch nicht vergessen. - Danke.

Grundsätzlich kennen Sie die Position der Landesregierung und auch meine Position, dass es darum geht, jegliche extremistische Aktivität - ob von links oder von rechts kommend - politisch zu bekämpfen und ihr mit rechtstaatlichen Mitteln zu begegnen.

Sie können aber von mir als Ministerpräsidenten des Landes Sachsen-Anhalt, in dem es ganz konkret historische Ereignisse - vor allen Dingen vor einem Jahr - gab, nicht erwarten, dass ich diesen realen Fakt, der für mich bis dahin unvorstellbar gewesen ist, nicht mit einer besonderen Hervorhebung versehe.

(Zuruf)

Das ist eine ganz klare Geschichte.

Ich sage auch bezüglich der Analysen, die wir deutschlandweit und Sachsen-Anhalt-weit haben: Das, was an Gefahrenpotenzial, letztlich auch im Sinne des Ausbruchs von extremistischen Aktivitäten, an dieser Stelle zu erwarten ist, ist im rechtsradikalen Spektrum deutlich höher als im Gesamtspektrum, was wir als Demokraten im Blick haben müssen.

(Robert Farle, AfD: Das glaubst du doch selber nicht!)

Sie möchten eine kurze Nachfrage stellen? - Das ist etwas anderes. Es ist aber keine zweite Frage gestattet. - Bitte.

Eine Nachfrage direkt dazu. - Es ist erst einmal richtig: Ich weiß, dass Sie die Position, die Sie gerade nannten, an der Stelle immer so vertreten haben und sich gegen jeden Extremismus ausgesprochen haben. Sie sagten jetzt aber, dass nach Ihrer Erfahrung der Linksextremismus nicht so zu Buche schlägt und nicht so akut ist. Aber, Herr Ministerpräsident, das liegt daran, dass jedes Mal ein immenses Aufgebot an Polizeikräften, an LKAKräften und an Schutzpersonal vor Ort ist, um genau das zu verhindern.

Herr Poggenburg, Sie wollten eine kurze Nachfrage stellen.

Richtig. - Machen wir es andersherum: Ist Ihnen bekannt, dass es nicht eskaliert, weil eben der Staat - dazu können Sie sich mit Ihrem Kollegen Innenminister austauschen - dafür Sorge trägt, dass es nicht zur Eskalation kommt, die Gefahrenlage aber natürlich vorhanden ist?

Deswegen sollte man das in einer solch wichtigen Erklärung, wie Sie sie gerade abgegeben haben, doch irgendwo auch mit unterbringen. Darum ging es bloß. - Danke.

Herr Ministerpräsident, bitte.

Ich habe versucht, kursorisch und in einem angemessenen Zeitrahmen auf die 30 Jahre zu reagieren. Wir haben dieses Thema bereits häufig, auch zu anderen Jubiläen, aufgerufen. Jetzt war, wie gesagt, mit dem Jubiläum von 30 Jahren, der Bundesratspräsidentschaft und der besonderen Verantwortung, die wir in dem laufenden Jahr bis zum 3. Oktober nächsten Jahres in Halle haben, ein besonderer Schwerpunkt gelegt worden.

Eines müssen Sie natürlich sehen, unabhängig davon, dass man das nicht vergleichen kann: Die Polizei muss immer zu verschiedensten Anlässen, ob im Sport, bei politischen Demonstrationen, bei Anti-Corona- oder anderen coronabezogenen Veranstaltungen deeskalierend und steuernd eingreifen. Das ist eine klare Geschichte.

Aber eines ist auch klar - ich bin wirklich immer auf dem aktuellen Stand, was die Analyse der

Situation in Deutschland und heruntergebrochen in den einzelnen Bundesländern anbelangt -: Die Identifikation von Rechtsradikalen und - als wesentliche Untergruppe - derjenigen, die bewaffnet sind in Deutschland, hat eine Dimension erreicht, die sich zum Beispiel in dem Verbrechen am 9. Oktober des letzten Jahres in Halle manifestiert hat.

Wer das ausblendet und an dieser Stelle nicht explizit benennt, weil es, wie gesagt, ein traumatisches und für uns existenziell wirksames Ereignis gewesen ist, der erwartet im Prinzip das Falsche von mir.

Ich muss das als Ministerpräsident knallhart benennen. Wir haben dort Handlungsbedarf. Wir haben auch mit den aktuellen Sachverhalten, die ich hier gestern schon im Zusammenhang mit den Ereignissen von Halle vorgetragen habe, auf eine aktuelle Problematik bei der Polizei Bezug genommen. Wir haben generell einen Handlungsbedarf, was diese Problematik anbelangt, die von Rechtsextremismus bis hin zu Antisemitismus, Rassismus usw. reicht.

Auch andere Extremismen gibt es; ganz klar. Auch ein Coronaextremismus hat sich partiell herausgebildet. Aber Sie haben hoffentlich gehört, dass ich gesagt habe: Es gibt zwei Umgangsformen damit. Es gibt das Aushalten anderer Meinungen, die demokratisch ausgetauscht werden. Es gibt aber auch den wehrhaften Staat, der in der Lage ist, das Umkippen von Auseinandersetzungen friedlicher Natur in Gewalt zu verhindern. Für Letzteres stehe ich.

(Zustimmung)

Vielen Dank, Herr Ministerpräsident. - Herr Abg. Roi, bitte.

Frau Präsidentin, vielen Dank. - Ich habe zunächst eine Anmerkung zu dem, was eben gesagt wurde, wenn mir dies gestattet ist. Sie sollten bitte einmal in den aktuellen Verfassungsschutzbericht hineinschauen. Dort sind unter dem Stichwort „Tötungsdelikte“ - es geht um das Jahr 2019 - erstmals zwei versuchte Tötungsdelikte in Sachsen-Anhalt - diese zählen ja dazu - aufgeführt worden. Bei einem wurde einem Menschen mit einem Hammer der Schädel eingeschlagen. Auch das ist in Sachsen-Anhalt passiert. Deswegen kann man auch einmal das Wort „Linksextremismus“ in eine solche Regierungserklärung mit einbauen.

(Zustimmung)

Zu meiner Frage. Die AfD hat ein Grundsatzprogramm verabschiedet, aus dem hervorgeht, dass

wir dafür sind, Steuern am Ort der Wertschöpfung zu entrichten. Das ist insbesondere ein Problem des Ostens. Sie haben dieses Problem nach 28 Jahren deutsche Einheit auch erkannt. Entsprechend der Forderung der AfD haben Sie Ende des Jahres 2018 gefordert, dass alle Unternehmen, die hier bei uns in Sachsen-Anhalt und anderswo im Osten Geld verdienen, vor Ort auch die Gewerbesteuern zahlen. Das unterstützen wir ausdrücklich.

Sie haben angekündigt, im Jahr 2019 mit dem Finanzminister Scholz eine entsprechende Initiative zu starten. Nun befinden wir uns schon am Ende des Jahres 2020. Können Sie mir sagen, wo diese Initiative steckengeblieben ist? Mir ist nicht bekannt, dass Sie in irgendeiner Weise im Bundesrat tätig geworden sind, außer dass Sie im März 2019 ein Interview in der „Volksstimme“ gegeben haben, in dem Sie diese Forderung wiederholt haben. Jetzt, anlässlich 30 Jahren Wiedervereinigung, haben Sie wieder die gleiche Forderung aufgestellt. Seit zwei Jahren fordern Sie das also, sind aber aus meiner Sicht noch nicht tätig geworden.

Herr Roi, bitte fassen Sie sich kürzer. Auch Sie haben ein zeitliches Limit.

Oder korrigieren Sie mich und sagen mir, wann Sie das im Bundesrat konkret eingebracht haben.

Herr Ministerpräsident.

Ich muss Sie korrigieren; denn ich habe das vor der Sommerpause, nachdem ich eine ganze Reihe von Vorverhandlungen geführt habe, in den Bundesrat eingebracht. Dort liegt es jetzt zur Ausschussbehandlung vor.