Protokoll der Sitzung vom 03.11.2020

Wie können Sie damit leben?

(Beifall)

Herr Ministerpräsident, Sie haben jetzt das Wort.

Herr Abgeordneter, ich könnte nicht in Ruhe leben, wenn ich diese Entscheidung nicht getroffen hätte.

(Beifall)

Ich sage Ihnen auch, warum. Wir haben die Entwicklung in der Tendenz sehr, sehr gut beobachtet, weil wir in den letzten Monaten und vor allen Dingen Wochen in unserem Land eben auch eine sehr transparente Situation hatten. Das, was sozusagen die derzeitige Statistik darstellt, dass wir eben einen überwiegenden Teil inzwischen nicht mehr nachverfolgen können bezüglich der kausalen Zusammenhänge der Infektionen, resultiert daraus, dass das in der dritten und vierten Generation der entsprechenden Infektionen einfach nicht mehr möglich ist. Ab einem bestimmten Wert, zahlenmäßig auch erfasst in der Statistik, ist es nicht mehr möglich, dies in den Gesundheitsämtern zu leisten.

Da wir als Land zum Zeitpunkt dieser Entscheidung noch klar unter der magischen Grenze von 50 lagen, wäre es für unser Land zu dem Zeitpunkt nicht notwendig gewesen, wenn nicht der deutsche Durchschnitt und die gesamtdeutsche Situation uns praktisch dringend zum gemeinsamen Handeln aufgefordert hätten. Denn für uns war klar, dass wir das, was in anderen Bundesländern, nicht nur in einzelnen Kommunen oder Landkreisen, schon läuft, den Trend zu Werten deutlich über 100, mit zeitlicher Verzögerung ebenfalls erleben werden, weil wir als Bundesland mitten im Herzen Europas und im Herzen

Deutschlands schlicht und einfach in dem Gesamtzusammenhang stecken.

Angesichts der Inzidenz von 56 Fällen pro 100 000 Einwohner in sieben Tagen im Landesdurchschnitt war klar, dass wir das erreichen werden und dass demzufolge Handlungsbedarf besteht.

Der Unterschied zu dem, was Sie jetzt sagen, zu dem, was im Prinzip im Frühjahr für möglich gehalten wurde, wenn sich das prolongiert hätte, wenn es sich so entwickelt hätte, nämlich eine riesige Zahl an Insolvenzen, die übrigens nicht eingetreten ist,

(Tobias Rausch, AfD: Weil Sie das außer Kraft gesetzt haben! - Weitere Zurufe)

auch durch die Änderung des Insolvenzrechts. Aber wir hatten noch nie so ein - -

(Zuruf: Das ist doch bloß außer Kraft ge- treten! Die Fristen wurden verlängert!)

- Lassen Sie mich doch erst einmal ausreden.

(Zurufe)

Mein verehrter Kollege, Sie haben eben - -

Die Insolvenz - -

(Zurufe)

Einen kleinen Moment, einen kleinen Moment, Herr Ministerpräsident.

(Zuruf von Tobias Rausch, AfD)

- Sie haben eine Frage gestellt. Dann müssen doch mindestens - -

(Unruhe)

- Herr Rausch, ich rede mit Ihnen. Sie haben eine Frage gestellt; dann müssen Sie mindestens demjenigen, der die Frage gestellt bekommt, auch die Möglichkeit geben zu antworten. - Bitte, Herr Ministerpräsident.

Danke schön, Frau Präsidentin. - Und Sie müssen mich auch die einzelnen Fragen, die Sie in Ihrer einen Fragestellung untergebracht haben, entsprechend aufrufen lassen. Die Insolvenzstatistik sieht anders aus, als Sie sie beschrieben haben, sicherlich aufgrund einer Änderung der Insolvenzordnung, das ist klar,

(Zurufe)

aber auch kombiniert mit der Kurzarbeiterregelung und mit der Möglichkeit, dass wir jetzt gerade die Luft brauchen, um dabei zu helfen, diesen Arbeitsplatz- und Firmenverlust zu vermeiden.

Dieses Konzept haben wir in den Jahren 2009 und 2010 - damals waren Sie noch nicht im Landtag - in der Finanz- und Wirtschaftskrise schon genauso angewandt. Das sind doch Instrumente, mit denen wir schon gearbeitet haben. Die sind doch erprobt. Die haben durchaus auch eine Wirkung erzeugt, auch wenn es damals etwas schneller lief, während wir in der Coronasituation jetzt durchaus einen längeren Weg vor uns haben. Aber das sind Instrumente, um die uns übrigens viele Nationen auf der Welt beneiden.

Auf der anderen Seite will ich Folgendes sagen: Die Einschnitte, die wir in der Gesellschaft vorgenommen haben, sind ein wesentlich kleinerer Teil dessen, was wir im Frühjahr hatten. Wir haben bis auf die benannten Sektoren, die wir auch mit entsprechenden Wirtschaftshilfen versehen werden, ansonsten die gesamte Wirtschaft am Laufen gehalten.

Wir haben alle Kitas am Netz. Wir haben alle Schulen am Netz. Das sind in sämtlichen Schulformen insgesamt 250 000 Schülerinnen und Schüler. Wenn Sie sich das einmal im Sinne des Betreuungsmodus, der notwendig wäre, als Entzug in der Volkswirtschaft vorstellen, dann hätten wir wirklich die Situation, die Sie beschrieben haben. Die ist aber nicht eingetreten.

Es ist dieses Mal ein ganz gezieltes Herangehen, sicherlich auch in den Bereichen, wo es uns besonders schmerzt, weil dort gute Hygienekonzepte vorliegen, wo aber die Kontaktdichte sehr, sehr hoch ist.

Wir kommen im Prinzip nur weiter und können im Prinzip nur Zeit schinden, um die Eindämmung vorzunehmen, um letztendlich wieder unter die 50 zu kommen, damit wir die Nachverfolgbarkeit durch die Gesundheitsämter sichern, wenn wir die Kontaktdichte um rund 75 % reduzieren. Diese Menge an Kontakten erfolgt nun einmal mehrheitlich im Freizeitbereich, im privaten Bereich. Wir wissen doch, wo es die großen Ausbrüche gegeben hat: im privaten Bereich, im illegalen Bereich, wo längst schon durch Verordnungslage viele Sache ausgeschlossen waren, aber wo man, und zwar kleine Gruppen der Bevölkerung, schlicht und einfach bewusst dagegen verstoßen hat.

Sehen Sie sich allein das Beispiel in Magdeburg an, wie eine einzige quasi illegale Veranstaltung diese Stadt in eine Situation gebracht hat, die man sich noch vor 14 Tagen, vier Wochen kaum vorstellen konnte. Andere Beispiele könnte ich Ihnen genauso bringen, aus dem Süden oder

aus dem Nordosten des Landes. Wir haben diese Beispiele und wissen doch, wo wir ansetzen müssen. Und genau das machen wir.

Wir versuchen mit der Kontaktreduzierung für die Dauer von vier Wochen genau das hereinzuholen, was wir brauchen, um bestimmte Strukturen wieder aufzurüsten in dem Sinne, dass die Gesundheitsämter personell verstärkt werden müssen und dass wir wieder Boden unter die Füße bekommen, wenn es um die Nachverfolgbarkeit und damit um die Bewältigungsfähigkeit der Gesamtsituation geht.

(Zustimmung)

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich habe jetzt eine Ausnahme gemacht. Die beiden, die sich schon für eine Kurzintervention hingestellt hatten, habe ich gebeten, sich wieder zu setzen, weil es noch einen Moment dauert; denn es gibt noch mehrere Fragesteller. - Der nächste Fragesteller wird der Abg. Herr Büttner sein. Bitte, Herr Büttner.

Vielen Dank, Frau Präsidentin. - Ich habe gerade mit Entsetzen die Ausführungen des Ministerpräsidenten verfolgt, der davon gesprochen hat, dass diese neuen Maßnahmen wie zum Beispiel das Schließen von Fitnessstudios und das Schließen von gastronomischen Einrichtungen jetzt zum durchbrechenden Erfolg führen sollen. Ich weiß nicht, auf welche wissenschaftliche Grundlage Sie sich dabei stützen.

Ich meine, Ihr RKI, also das Robert-Koch-Institut, hat nun schon in der Vergangenheit - dazu steht es auch noch heute - ganz klar und deutlich gesagt, dass gerade diese Einrichtungen nicht die Infektionstreiber sind. Die Infektionstreiber auf den ersten drei Plätzen sind Wohnstätten mit 63,6 %, medizinische Einrichtungen mit 8,6 % und Arbeitsplätze mit 5,3 %. Die Gastronomie liegt mit 0,5 % ganz, ganz hinten, Fitnessstudios ebenfalls.

Unter diesen Gesichtspunkten frage ich Sie: Für wie erfolgreich halten Sie diese Maßnahmen? Was wird passieren, wenn Sie in zwei, drei Wochen feststellen, dass diese Maßnahmen für Einrichtungen, die laut Robert-Koch-Institut nicht als Treiber der Pandemie gelten, nicht fruchten? Schließen Sie einen Komplett-Lockdown aus? Oder kann es sein, dass Sie in drei Wochen sagen: Wir müssen jetzt wieder einen KomplettLockdown machen? - Das ist meine erste Frage.

Angesichts der Tatsache, dass wir gerade erst am Anfang der kalten Jahreszeit stehen und dass, wie ich gerade ausgeführt habe, Ihre Maßnahmen nicht zum Erfolg führen werden, weil es einfach

die falschen Maßnahmen sind, ist meine zweite Frage: Wie sieht es denn mit noch mehr Intensivbetten aus? Ist bei Ihnen auch schon einmal irgendwo der Gedanke gereift, dass jetzt vielleicht ein paar mehr Intensivbetten geschaffen werden müssen? - Denn Sie haben hier klar und deutlich das Szenario an die Wand gemalt, dass das Gesundheitssystem zusammenbrechen könnte.

(Unruhe)

Mich würde jetzt interessieren, ob es denn auch möglich ist, mehr Intensivbetten bereitzustellen. - Sie werden dazu jetzt wahrscheinlich

(Unruhe)

- das ist furchtbar hier mit diesem Krach - sagen, dass das Geld kostet. Aber haben Sie schon einmal eruiert - das ist eine weitere Frage -,

(Zuruf von Sebastian Striegel, GRÜNE)

wie hoch die Steuerausfälle für das Land Sachsen-Anhalt aufgrund Ihrer jetzt verhängten Maßnahmen gegen gastronomische Einrichtungen und Fitnessstudios sein werden? - Danke.

Noch einmal ein kurzer Hinweis zu Fragestellungen: Bitte eine Frage und eventuell noch eine kurze Nachfrage formulieren und dabei bitte die zwei Minuten Redezeit einhalten. - Bitte, Herr Ministerpräsident.

Uns sind die Statistiken dazu, was die einzelnen Komponenten in der Summe der Infektionen anbelangt, voll bewusst. Dieses Mal besteht der fachliche Ansatz aber nicht darin, dass wir besonders neuralgische, problematische oder risikobehaftete Bereiche in den Blick genommen haben. Vielmehr haben wir im Prinzip eine Bewertung vorgenommen, was volkswirtschaftlich unangetastet zu lassen ist.

Denn ansonsten tritt genau das ein, was Sie gesagt haben: riesige Steuereinnahmeverluste, weiterhin entsprechende Dämpfungen der wirtschaftlichen Dynamik mit all den Konsequenzen für einen Staat, für einen Sozialstaat, und vor allen Dingen auch für das Gesundheitswesen.

Es geht um die Reduzierung der Kontakte. Das heißt, nicht das Arbeitsteam, in dem man ständig in der gleichen Kohorte unterwegs ist, ist das Problem. Das Problem ist vielmehr, dass man sich im Freizeitbereich und im Bereich der Touristik sowie der entsprechenden Bewegungen innerhalb Deutschlands und Europas ständig auf einem Terrain bewegt, das mit hohen Infektions