Protokoll der Sitzung vom 23.03.2023

Vergangenheit eingefroren, abgewehrt und nur stückweise zugelassen wurde. Die sichere Grundlage, auf der heute die bundesdeutschen Gerichte ehemalige Helfer der Vernichtungs- und Konzentrationslager verurteilen, gibt es noch gar nicht so lange. Erst nachdem 99 % der Beteiligten nicht mehr lebten, hatte die Justiz die Kraft gefunden, die letzten der 99-jährigen Täterinnen zu verurteilen.

Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt von 1956 bis 1968 in Hessen, vertraute den deutschen Behörden nicht und verabredete die Strafverfolgung von Adolf Eichmann vorsichtshalber nur mit der israelischen Regierung. Die Deutlichkeit, mit der wir in heutigen Gedenkreden die Enteignung und die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung zu Recht geißeln, hätten sich die wenigen Zurückgekehrten gewünscht, die lange versuchten, ihr während des NS geraubtes Hab und Gut zurückzubekommen.

Wir erinnern uns: Als ab dem Jahr 1995 die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung durch Deutschland tourte, kam es zu unseligen Protesten. Sowohl Journalisten, Abgeordnete der CSU und der CDU als auch Neonazi-Gruppen mobilisierten in zahlreichen Städten gegen die Ausstellung und versuchten, das Bild der sauberen Wehrmacht herzustellen. Doch das Publikumsinteresse war enorm. Der längst belegte Forschungsstand zur Beteiligung am Holocaust drang in das allgemeine Bewusstsein. Kriegs- und Wehrmachtverherrlichung waren bis dahin anschlussfähig. Fast 60 Jahre lang verkauften sich die Landser-Hefte in der Bundesrepublik. In der DDR wurden die dort verbotenen Hefte auch heimlich getauscht. Nach der Wiedervereinigung fanden sie auch im Osten neue und vor allem jüngere Käufer.

Ebenso ziehen sich nicht nur rechte Gewalt, sondern auch Wahlerfolge rechtsextremer Parteien und Organisationen durch die Geschichte

unserer Republik. Bereits in den 1960er-Jahren gelang der NPD der Einzug in sieben westdeutsche Landesparlamente. Im Jahr 1998 erreichte die DVU in Sachsen-Anhalt aus dem Stand ein Wahlergebnis von 13 %. Deren Abgeordnete gaben schon damals einen Vorgeschmack auf das Niveau, was auch heute in diesem Landesparlament zu finden ist.

Warum habe ich diesen Exkurs gewählt? - Wir sehen, dass selbst das Unabweisbare zu lange strittig blieb. Millionen Tote waren nicht zu leugnen, aber wer sie umgebracht hatte, blieb umstritten.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Was? - Zu- ruf von Oliver Kirchner, AfD)

Je genauer man in die Archive schaut, umso mehr ahnt man, dass unser Vertrauen auf zivilisatorischen Fortschritt mehr Hoffnung als letzte Gewissheit ist. Oder wie es der Holocaustüberlebende und Schriftsteller Primo Levi sagte - ich darf zitieren -: „Es ist geschehen und folglich kann es auch wieder geschehen.“

Meine Damen und Herren! Im Jahr 2022, also 100 Jahre nach dem Marsch auf Rom, übernimmt in Italien eine Ministerpräsidentin die Macht, die sich positiv auf den Diktator Mussolini bezieht. Die jetzige polnische Regierung verbietet Frauen den Schwangerschaftsabbruch auch im Falle der Gefährdung des eigenen Lebens durch eine Schwangerschaft. Das neu gewählte rechte Regierungsbündnis in Israel will das Justizsystem schleifen. Donald Trump versuchte im Jahr 2021, seine Wahlniederlage mithilfe von Gewalt und rechtlichen Tricks abzuwenden.

(Zuruf von der AfD: Was?)

Bolsonaro versuchte wenig später, es ihm gleichzutun.

Demokratische Wahlen bringen zunehmend Parteien an die Macht, die die Gewaltenteilung abschaffen, die die Opposition behindern, die die Minderheitenrechte abschaffen und die das Wahlrecht instrumentalisieren wollen. Auch in unserem Land gibt es immer wieder Angriffe auf die Presse- und die Kunstfreiheit, auf den öffentlich-rechtlichen Rundfunk und auf Journalistinnen, deren Rechte wir als Demokratinnen immer wieder verteidigen müssen.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei den GRÜNEN - Zuruf von Christian Hecht, AfD)

Meine Damen und Herren! Das alles sind beunruhigende Parallelen zu der Zeit vor 90 Jahren. Die NSDAP wurde demokratisch gewählt, wenngleich die politisch zersplitterte Republik schon tief in einer Verfassungskrise war. Ausgerechnet die Mörderbande der Nazis wurde zum Hoffnungsträger vieler Menschen.

Der Soziologieprofessor Theodor Geiger

schreibt im Jahr 1930 in seiner Wahlanalyse:

Der NS ist zur Partei der Erniedrigten und der Beleidigten geworden. Statt eines rationalen Programms haben sie nur zu verkünden gewusst, dass alles ganz anders werden

müsse. - Und weiter -: Der Antisemitismus wirkt in die verschiedensten Kreise, die für irgend- einen stillen Schmerz den Schuldigen suchen.

Mit dem Versprechen, mittels einer Volksgemeinschaft Arbeitslosigkeit, Inflation, Hunger und Klassenunterschiede aufzulösen, mobilisierte die NSDAP zunehmend. Von Beginn an benannten die Nazis aber auch im eigenen Jargon diejenigen, die im Gegensatz zur Volksgemeinschaft stünden und die stattdessen bluten müssten und die aufgeknüpft gehörten: Juden, Sozis und Bolschewisten - keine Gemeinschaft ohne Feindbestimmung.

Die NSDAP versteckte zu keinem Zeitpunkt ihre verbrecherischen Ziele. Die deutsche Gesellschaft begrüßte tatsächlich mehrheitlich die Hybris vom Herrenmenschen, das Führerprinzip, die Raubzüge im Inland und auch in den Kriegsgebieten. Die gewaltsame Aussonderung von Minderheiten bot eine neue Gelegenheit des Aufstiegs. Auch das klingt aktuell nicht unbekannt. Aus zerstörten Lebenswegen der einen wurden die Karrieren der anderen, die in der Regel auch das Kriegsende überdauerten.

Woran soll man sich also politisch orientieren? - Für mich, für DIE LINKE bleibt ein zentraler Maßstab, den es hochzuhalten und den es zu verteidigen gilt: Alle Menschen sind gleich und frei geboren. - Das ist das Ideal seit der Aufklärung, bekräftigt nach zwei Weltkriegen. Das ist das Versprechen der Demokratie.

Meine Damen und Herren! Dieses Versprechen ist stark. Ich schließe mich ausdrücklich dem Dank des Ministerpräsidenten an. Ich danke all jenen, die sich tagtäglich diesem Versprechen verpflichtet fühlen, dieses Versprechen ein- lösen. Ich danke nicht nur als Vertreterin der LINKEN.

(Beifall bei der LINKEN - Zustimmung bei der SPD und bei den GRÜNEN)

Ich will aber auch deutlich sagen: Die Wählerinnen und Wähler der Rechtsextremisten müssen sich fragen, ob sie tatsächlich eine Gesellschaft wollen, die sich genau an diesen Idealen nicht orientiert. Sie müssen sich dies fragen nach zwei Weltkriegen und während eines Krieges in Europa

(Zuruf von der AfD: Oh, Leute!)

und mitten im globalen gesellschaftlichen Wandel. - Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der LINKEN)

Frau von Angern, es gibt eine Frage von Herrn Büttner.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Ich habe mich hingestellt gehabt, Herr Präsident! Sollte ich die ganze Zeit stehen bleiben? Ich wusste nicht, wie lange es noch geht! Dann muss ich ja 15 Minuten stehen!)

- Sie können eine Intervention abgeben.

(Matthias Büttner, Staßfurt, AfD: Ja, das wollte ich tatsächlich!)

- Okay.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Ich möchte folgende Ausführungen machen: Ich finde es unerträglich, wenn die Vorsitzende einer Fraktion, der Fraktion DIE LINKE, die davon spricht, Reiche erschießen zu wollen,

(Ja! von der AfD - Sebastian Striegel, GRÜNE: Das ist doch Quark!)

die davon spricht, das Parlament als Bühne nutzen zu wollen,

(Sebastian Striegel, GRÜNE: Einfach Quark!)

und die davon spricht, die Staatsknete abzugreifen, um den Umsturz zu proben, sich hier hinstellt und sich als Demokratin darstellt.

(Beifall bei der AfD)

Oder haben Sie etwa schon vergessen, was auf der linken Konferenz Ihrer Partei in Kassel besprochen worden ist, Frau von Angern?

(Beifall bei der AfD)

Herr Präsident! Ich kann es sehr kurz machen und diesen Unsinn in Gänze zurückweisen.

(Beifall bei der LINKEN - Ulrich Siegmund, AfD: Schneiden wir schön zusammen im Video! Wir machen einen kleinen Fakten- check, Frau von Angern! -Daniel Roi, AfD: Dummerweise haben wir nicht selber ge- filmt! - Unruhe)

Einen kleinen Augenblick, Herr Tullner. - Herr Kirchner hat sich als Fraktionsvorsitzender zu Wort gemeldet.

(Zuruf von der AfD: Strategiekonferenz! - Un- ruhe)

- Meine Herren, ich bitte um etwas mehr Ruhe und um etwas mehr Konzentration.

Vielen Dank, Herr Präsident. - Es ist schon sehr argwöhnisch, wie die Fraktionsvorsitzende der LINKEN hier vorn agiert. Ich muss zum Ersten sagen: Ich lasse meine Wähler nicht als Wähler von Rechtsextremen betiteln,

(Frank Otto Lizureck, AfD: Ja! - Sebastian Striegel, GRÜNE: Von der Realität lassen Sie sich nicht irritieren, Herr Kirchner!)

schon gar nicht von einer Partei, die damals Menschen weggesperrt und ihnen in den Rücken geschossen hat, weil sie ein Land ver- lassen wollten, das eine Diktatur war.

(Beifall bei der AfD)

Zum Zweiten. Frau von Angern, Sie sprachen von der Mörderbande der Nazis und von dem Versprechen, dass alle Menschen gleich sind. Bei Ihnen waren die Menschen so gleich, dass Kurt Blecher, NSDAP-Mitglied und ab 1946 SED-Mitglied, Leiter des Presseamtes beim Vorsitzenden des Ministerrates der DDR bis 1989 war;

(Zuruf von der AfD)