Ich gehe davon aus, dass zumindest die CDU-Fraktion als Regierungsfraktion schon einmal in die Unterlagen Einsicht nehmen durfte.
"Demokratie ist die Notwendigkeit, sich gelegentlich den Ansichten anderer Leute zu beugen." - Winston Churchill.
Meine Damen und Herren, da Sie als allein regierende Partei wohl genau davor Angst haben, werden der Opposition zunehmend Informationen vorenthalten und es ist ja nicht das erste Mal.
Am 3. Mai 2000 nach dem Anschlag auf die Erfurter Synagoge haben Sie, Herr Ministerpräsident, eine Regierungserklärung abgegeben und darauf verwiesen, jährlich einen Bericht zu Radikalismus und Extremismus im Freistaat abzugeben. Das Thema in dieser Wertigkeit und auch in dieser Regelmäßigkeit in diesem Haus zu beraten, wurde von uns ausdrücklich begrüßt. Die gemeinsame von der SPD-Fraktion in diesem Haus initiierte Erklärung aller drei Fraktionen gegen Rechtsextremismus in Thüringen erschien uns und sicher auch der Öffentlichkeit als eine notwendige und eine vernünftige Grundlage, sich des Themas über Parteigrenzen hinweg anzunehmen, zu beraten und gemeinsam nach Lösungsstrategien zu suchen. In der Umsetzung aber endet dann die gemeinsame Linie und das eindeutig durch Sie, meine Damen und Herren der Landesregierung und der CDU-Fraktion.
Sie sprechen in Ihrem Bericht, Herr Ministerpräsident, von einem bedauerlichen Anstieg rechtsextremistischer Straftaten und verweisen aber sogleich darauf, dass so genannte Propagandadelikte den größten Teil ausmachen und dass man die Zahlen differenziert betrachten müsse, weil durch erhöhte Aufmerksamkeit der Bevölkerung "ganz einfach", wie Sie es bezeichnen, mehr Fälle registriert werden.
Ja, meine Damen und Herren, auch wir sind für eine differenzierte Darstellung und deshalb lassen Sie mich kurz die Zahlen und die Entwicklung aus dem Thüringer Verfassungsschutzbericht erwähnen. Es waren ja die Zahlen, die uns lediglich zur Verfügung standen. Die Straftaten insgesamt im rechtsextremistischen Bereich sind von 1999 auf 2000 von 1.118 auf 1.846 gestiegen, davon im Einzelnen: Propagandadelikte von 939 auf 1.504; Volksverhetzung gestiegen von 87 auf 142 und Körperverletzung von 38 auf 78. "Die für Thüringen festgestellte Anzahl von Straftaten," - immer noch Zitat Verfassungsschutzbericht - "denen eine rechtsextremistische Motivation zugrunde lag oder bei denen eine solche nicht ausgeschlossen werden konnte, weist gegenüber dem Vorjahr einen deutlichen Anstieg um 65 Prozent auf. Den Hauptteil der 1.846 Straftaten bilden die so genannten Propagandadelikte. Es handelt sich dabei um 81 Prozent aller rechtsextremen Straftaten. Zu diesen Vergehen zählen z.B. das Schmieren von Hakenkreuzen oder anderen strafbaren NS-Symbolen, das Zeigen des "Hitlergrußes" in der Öffentlichkeit oder das Rufen von Nazi-Parolen. Zu 971 Straftaten konnten insgesamt 2.052 Tatverdächtige ermittelt werden, davon 217 weibliche, das sind 10,6 Prozent. 1,9 Prozent der Täter waren jünger als 14 Jahre, 31,7 Prozent lagen zwischen 14 und 17 Jahren, 30,2 Prozent zwischen 18 und 20 Jahren. 36,2 Prozent der Täter waren 21 Jahre alt oder älter. In 1.846 rechtsextremistischen Delikten
sind 120 fremdenfeindliche Straftaten enthalten, was einem Anteil von 6,5 Prozent entspricht. Im Vergleich zu 1998 ist somit ein Anstieg auf 35,8 Prozent feststellbar."
Meine Damen und Herren, auch wenn sich die Zahlen im Moment zurückentwickeln, dann sage ich dazu, das kann sich erstens wieder ändern und zum Zweiten, noch jede Tat, die wir verzeichnen müssen, muss entsprechend geahndet werden und braucht unser Augenmerk.
Der Jahresbericht des Bundesverfassungsschutzes weist einen erheblichen Anstieg der Straftaten aus und darauf, dass im Vergleich deutlich mehr Straftaten im Osten der Bundesrepublik als im Westen zu verzeichnen sind. Die Auflistung verabscheuungswürdiger Delikte in Ost und vergleichend dazu in West im Sinne einer Aufrechnung bringt aber überhaupt nichts, meine Damen und Herren, weil es nicht beruhigen darf, dass es auch anderenorts - im Übrigen nicht nur in Deutschland - rechtsextreme Übergriffe gibt. Jede einzelne Tat, wo auch immer, ist zu ächten und zu ahnden und braucht die gebündelte Gegenwehr der Demokratie und der sie tragenden Institutionen und dies parteipolitisch übergreifend.
Ja, Herr Ministerpräsident, ich stimme Ihnen uneingeschränkt zu, es ist unerträglich, wenn in diesem Land Steuergelder an rechtsradikale Parteien gezahlt werden. Deshalb ist ein Verbot der NPD beantragt und es ist notwendig. Aber gerade Thüringen hat sich in dieser Frage nicht mit Ruhm bekleckert und die Frage des Umgehens des Thüringer Verfassungsschutzes mit Informanten aus rechten Bereichen und die Finanzierung derer, die in rechtsextremen Gruppen noch in vorderster Front standen,
ist genau die gleiche Unmöglichkeit, ja Unerträglichkeit, die aus unserer Sicht nicht wieder passieren kann und darf.
In Ihren weiteren Ausführungen gehen Sie dezidiert auf die erwähnte Studie, die noch keiner kannte, ein und stellen fest, dass das Vertrauen in politische Institutionen seit der letzten Befragung deutlich gestiegen ist. Zugleich allerdings wird erwähnt, dass lediglich die Hälfte der Befragten damit zufrieden ist, wie die Demokratie funktioniert. Sie bezeichnen dies als beunruhigend und stellen fest, dass dies die politischen Parteien und alle Demokraten herausfordern muss. Also, manchmal muss man aufpassen, dass es einem bei bestimmten Aussagen der Landesregierung nicht die Sprache verschlägt. Wie ernst nehmen Sie eigentlich Ihre Regierungserklärung und die darin enthaltenen Aussagen? Sie waren es, die eine Anhörung von Betroffenen hinsichtlich der Veränderung im Kita-Gesetz nicht gewollt haben. Sie waren es,
die 5.000 Demonstranten vor diesem Haus, die in eben genau dieser Angelegenheit ihren Unmut vortrugen, als relativ kleine Kritikgruppe bezeichnet haben.
Sie sind es, meine Damen und Herren, die rund 360.000 Unterschriften von Thüringer Bürgerinnen und Bürgern mit ihrem Wunsch von mehr Bürgerbeteiligung nicht ernst nehmen. Das muss hier an dieser Stelle gesagt werden.
Es ist ja geradezu heuchlerisch, wenn Sie darauf verweisen, dass Sie dem Landtag demnächst Vorschläge zur Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements vorlegen wollen. Das müssen Sie ja, weil Ihre Fraktion genau diesen Bürgerwillen nicht in Worte fassen kann oder will und deshalb den Auftrag an Sie weitergegeben hat.
Dass Sie es dabei aber überhaupt nicht ernst meinen mit wirklicher Beteiligung, haben Sie doch längst gezeigt und gesagt. Wie sonst ist denn Ihr Verhalten gegenüber der Initiative mehr Demokratie und dem Trägerkreis zu verstehen?
Und nun, meine Damen und Herren, der Bereich Familie, Kinder und Schule: Die Erkenntnisse, die in der Studie standen, die, wie gesagt, bislang noch keiner kannte, werden von Ihnen wie folgt beschrieben, und ich will es noch mal kurz zitieren, weil ich es für wichtig halte: "Denn es ist eine der erfreulichsten Erkenntnisse der Studie, dass der Wunsch nach eigenen Kindern unter den Jugendlichen weit verbreitet ist, 91 Prozent wollen Kinder, 80 Prozent sogar zwei oder mehr. Wir wollen dafür sorgen, dass diese Jugendlichen ihren Wunsch nach einer eigenen Familie und nach Kindern verwirklichen können." Jetzt aber die Auflistung der Probleme: "Nach dem Ergebnis der Studie sind 71 Prozent der Jugendlichen der Auffassung, dass für Kinderbetreuung öffentliche Einrichtungen fehlen, 67 Prozent, dass mit Kindern berufliche Nachteile entstünden und 47 Prozent meinen, Kindererziehung sei gesellschaftlich nicht hinreichend anerkannt."
Meine Damen und Herren, Sie wissen doch hoffentlich auch, dass zwischen dem Wunsch, Kinder haben zu wollen und sie letztendlich zu bekommen, immer noch ein Unterschied ist. Genau deshalb, weil die Probleme, die hier aufgelistet sind, eben offenkundig sind. Es ist ein beruflicher Nachteil - leider Gottes noch - mit Kindern im Berufsfeld zur Verfügung zu stehen. Das ist genau der Punkt, an den wir herangehen müssen. Da nützt es nichts, einfach drum herum zu reden. Ich sage Ihnen auch ganz ehrlich, wer dann Rahmenbedingungen im Bereich der Kinderbetreuung verschlechtert, der muss sich an diesem Punkt selber hinterfragen.
Unabhängig von der unstrittigen wichtigen Rolle des Elternhauses ist die Begleitung von Kindern im Kindergarten und in der Schule. Wenn Sie, Herr Ministerpräsident, darauf verweisen, dass es eine umfängliche Reihe von Bildungs- und Qualifikationsmaßnahmen für Lehrer zur Vorbeugung extremistischer Erscheinungen gibt, so muss deutlich gesagt werden, dass aufgrund der Lehrersituation in Thüringen, Unterrichtsausfall, Entlassungen usw., viele Lehrer gar nicht mehr in der Lage sind, an Weiterbildungsmaßnahmen teilzunehmen, wollen sie keinen weiteren Unterrichtsausfall in Kauf nehmen.
Sie könnten, Herr Ministerpräsident, einen großen Beitrag leisten, wenn Sie für die Bildung in diesem Land tatsächlich eintreten und dem Handeln Ihres Kultusministers endlich Einhalt gebieten.
Orientieren Sie sich, wie in vielen anderen Bereichen, an den Wünschen der Thüringer Wirtschaft, die das Thüringer Bildungsniveau in aller Deutlichkeit kritisiert. Nehmen Sie Geld in die Hand und orientieren Sie sich, wie in vielen anderen Dingen, an bayerischen Verhältnissen und an Ihrem Kollegen Stoiber, der trotz eines hohen Bildungsniveaus 1 Mrd. DM in die Hand nimmt und sie in den nächsten Jahren verwenden wird, um dort den Bildungsstand noch weiter zu erhöhen. Werden Sie Ihrer Aufgabe gerecht als Chef der Landesregierung und beenden Sie im Interesse unserer Jugendlichen, die Sie berechtigterweise als Zukunft des Landes bezeichnen, die derzeitige Thüringer bildungspolitische Katastrophe.
Einen Satz, meine Damen und Herren, zur Veranstaltungsreihe der Landesregierung "Jugend trifft Politik", die Sie erwähnt haben, wo Jugendliche mit Ministern und Staatssekretären in Kontakt kommen und auch Einblicke in Ministerien erhalten. Zur parlamentarischen Demokratie, Herr Ministerpräsident, gehört immer noch mehr als ausschließlich die Exekutive. Und es wäre sehr sinnvoll, wenn man es denn tatsächlich will, in dieses Projekt auch die Parlamentarier aller hier vertretenen Fraktionen einzubeziehen.
Politische Bildung, meine Damen und Herren, ein wesentlicher Präventionsaspekt hinsichtlich mehr Demokratieverständnis und gegen extremistische Tendenzen findet in Thüringen nach wie vor und gerade in den Schulen immer noch zu wenig statt. Deswegen fordere ich Sie an dieser Stelle auf, reduzieren Sie politische Bildung nicht auf parteipolitische Zuordnung und geben Sie den Einrichtungen die Möglichkeit, entsprechend zu arbeiten.
Der Hinweis, meine Damen und Herren, auf umfangreiche ehrenamtliche Arbeit, gerade von jungen Menschen, das ist nichts Neues aber anerkennenswert. Schade ist nur, dass Sie in diesem Zusammenhang nicht erwähnen, dass die CDU in diesem Hause kein Ehrenamtsgesetz will. Wir wollen nicht nur eine Stiftung Ehrenamt, meine Damen und Herren, und schon gar keine, die aus Spielbankgeldern finanziert wird. Wir wollen die schwierige Frage der beruflichen Freistellung klären und hier werden Sie sich an diesem Punkt demnächst in diesem Hause auch wieder bekennen müssen. Wir werden beobachten, ob Sie wieder mit Nein argumentieren oder sich endlich an den Bedürfnissen von ehrenamtlich Tätigen orientieren.
Nun, Herr Ministerpräsident, zur Arbeit der Koordinierungsstelle: Die Koordinierungsstelle - sowohl in ihrer Zusammensetzung als auch was die Finanzierung angeht, auch was die Schwerpunktsetzung angeht - ist nicht in der Lage, ihren Aufgaben ausreichend gerecht zu werden. Wenn bestätigt wird, dass die Zahl rechtsextremistischer Straftaten zugenommen hat, insbesondere auch bei sehr jungen Menschen, die einen großen Teil der Straftäter darstellen, erscheint es heute noch unerklärlicher, weshalb die CDU hier in diesem Hause ein Landesprogramm gegen Rechtsextremismus abgelehnt hat.
Ich will Ihnen gar nicht unterstellen, dass Sie auf dem rechten Auge blind sind, nein, aber auch Sie hätten sehen müssen, dass ein Netzwerk in Thüringen notwendig ist, um nicht in Einzelaktionen zu erstarren. Deswegen lassen Sie mich an dieser Stelle auch herzlichen Dank sagen an alle Bürgerinnen und Bürger, die öffentlich eintreten gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit.
Dank an die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen für Arbeit, die allerdings aus unserer Sicht sehr viel umfassender, auch finanziell, von der Landesregierung unterstützt werden müssten. Vielleicht sind Sie ja noch mal bereit und in der Lage darüber nachzudenken, ob nicht doch ein Landesprogramm - wie auch in anderen neuen Ländern vorhanden - der richtige Weg für Thüringen sei.
Nun noch zum Thema Abwanderung: Zu sagen, ich wende mich dagegen, das Thema "Abwanderung" zu dramatisieren, aber auch dagegen, es zu bagatellisieren, ist zu einfach. Junge Leute sind mobil. An diesem Punkt stimme ich Ihnen zu. Es ist auch gar nichts dagegen zu sagen, dass man in der heutigen beruflichen Landschaft weggeht, Erfahrungen außerhalb, Erfahrungen in anderen Ländern, hier in Deutschland, Erfahrungen in Europa zu suchen. Das Problem ist nur, Herr Ministerpräsident, die jungen Leute, die weggehen, kommen nicht wieder zurück.
Ja, ich weiß, das hören Sie nicht so gern vom DGB, aber die machen auch Studien, wie andere auch. Zitat: "Hohe Abwanderungsquoten gibt es gerade in denjenigen Bevölkerungsgruppen, die für die wirtschaftliche und soziale Stabilität des Landes mitbestimmend sind", und, "Die Wanderungsverluste Thüringens überschreiten mittlerweile das Maß der Normalität."