Protokoll der Sitzung vom 15.03.2002

Höpcke, ja. Sie können das nachlesen. Das hat er hier im Landtag gesagt, da haben Sie auch schon geschrien. Aber es war dieselbe Aussage, nämlich die sechs Sünden, wie man mit Statistik umgeht. So werden Wachstumsraten verglichen, ohne Ausgangs- und erreichtes Niveau im Vergleich mit den anderen Bundesländern zu bewerten. Es werden Vergleichs- und/oder korrelierende Entwicklungen nicht bewertet und es werden bestimmte Dinge weggeschwiegen bzw. Ergebnisse mehr als eigenwillig ausgelegt und bewertet, um nicht das Wort "willkürlich" zu benutzen.

(Beifall bei der PDS)

Wie das, Herr Ministerpräsident, mit dem verantwortungsvollen Handeln Ihrer Regierung im Ergebnis des durch Wahl übertragenen Auftrags einhergeht, bleibt sicher Ihr Geheimnis. Sie jedenfalls hatten in Ihrer Regierungserklärung vom 13. Oktober 1999 erklärt, dass Sie dieser Verantwortung durch entschlossenes Handeln und klare Entscheidungen gerecht werden wollten, und jetzt darf ich zitieren: "das Wohl aller Bürgerinnen und Bürger vor Augen". Wie wenig ernst Sie Ihren politischen Auftrag, den Bürgerinnen und Bürgern zu dienen, nehmen, das lässt sich z.B. daran erkennen, wie Sie mit dem Thüringer Volksbegehren umgegangen sind und weiter umgehen. Mehr als 380.000 Menschen haben mit ihrer Unterschrift unmissverständlich den Wunsch nach mehr direkter Demokratie, d.h. nach Erleichterung bei der unmittelbaren Mitwirkung und den Entscheidungen in ihren eigenen Angelegenheiten zum Ausdruck gebracht. Sie waren der Meinung, dass das Ansinnen all dieser Menschen es wert ist, vor das Verfassungsgericht getragen zu werden, ohne mit den Initiatoren und Beauftragten vorher zu verhandeln, ohne Kompromisse auszuloten und es dann positiv zu bewerten, dass es zu Fall kam.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Weil Sie mit dem Kopf durch die Wand laufen.)

Gut, Sie verehren die repräsentative Demokratie im höchsten Maße. Doch mit dem Prinzip der Volkssouveränität befinden Sie sich damit, wie Sie über die Gesetzentwürfe des Trägerkreises und der Oppositionsfraktionen urteilen, und mit dem, was Sie im Auftrag der CDU-Fraktion erarbeitet haben, nach unserer Auffassung nicht mehr in Übereinstimmung.

(Beifall bei der PDS)

Sie senken das Zulassungsquorum unerheblich, erschweren die Unterschriftensammlung unerträglich und behalten schier unüberwindliche Volksentscheidhürden bei. Das nenne ich eine Politik der Rosstäuscherei. Auch noch deutlicher wird das mit Ihrer Erklärung, die Sie eben abgegeben haben: Mehr Demokratie geht nicht. Sie waren damit ehrlich. Ich muss ihnen sagen, ich bin politisch sozialisiert worden von Willy Brandt, der den Satz geprägt hat: "Wir wollen mehr Demokratie wagen."

(Beifall bei der PDS, SPD)

Offenkundig fand Willy Brandt es wichtig und richtig, dass man mehr Demokratie wagen kann, dass mehr Demokratie gewagt werden muss. Um es anders zu sagen, Sie haben eben Konfuzius zitiert, ich will Ihnen Konfuzius entgegnen: "Es ist besser, ein Licht anzuzünden als die Dunkelheit zu beklagen."

(Beifall bei der PDS)

Wenn man sich über die Abstinenz der Bürger beklagt, darf man sich nicht wundern, wenn man sie vorher nicht beteiligt und nicht beteiligen will. Die CDU-Landesregierung hat augenscheinlich Angst vor dem selbstbewussten, engagierten und mündigen Bürger.

(Beifall bei der PDS)

Sie repräsentieren ein obrigkeitsstaatliches Beteiligungskonzept. Ob Thüringer Personalvertretungsgesetz, ob Richtergesetz oder ob direkte Demokratie - Sie wollen landespolitisch dem Bürger, dem Beschäftigten, dem Richter oder dem Staatsanwalt niemals auf gleicher Augenhöhe begegnen,

(Zwischenruf Abg. Huster, PDS: So ist das.)

bei Diätenselbstbedienung, bei Reisekosten des eigenen Klientels aber wegschauen und verjähren lassen.

(Beifall bei der PDS)

Herr Ministerpräsident, man könnte die Reihe fortsetzen, sie würde illustrieren, dass Sie nicht die Probleme der Menschen im Land zu lösen versuchen. Sie versuchen stattdessen die Probleme zu lösen, die Sie mit den Menschen haben, für die Sie aber durch die Vernachlässigung der eigentlichen Aufgaben der Politik selbst mit verantwortlich sind.

Wenden wir uns also den Problemen zu, die den Menschen im Land das Leben schwer machen.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Das wird das Problem sein.)

Meine Damen und Herren, um das Vorurteil der Miesmacherei nicht zu bedienen, will ich gern darstellen, dass es nach dem wirtschaftlichen und entwicklungsseitigen Exitus in den Jahren 1990 bis 1992 durchaus positive Veränderungen gab. Die Unternehmenslandschaft wurde neu geordnet und hat sich entwickelt. Die Forschungslandschaft hat sich etabliert und - wie die Aussprache im FebruarPlenum hinsichtlich der Verbundforschung zeigte - Erfolge erreicht. Die Anzahl der Patentanmeldungen ist wachsend. Städte und Gemeinden haben weitgehend das ehemals vorherrschende triste Bild überwunden. Ich verzichte auf weitere Einzelheiten und Lobgesänge.

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich nun unsere Bewertung der Arbeit dieser Landesregierung unter dem vom Ministerpräsidenten genannten Wohl aller Bürgerinnen und Bürger darstellen.

1. Die Zahl der Arbeitslosen ist in Thüringen seit 1999 deutlich angestiegen und die Zahl der Langzeitarbeitslosen hat sich um mehr als 10 Prozent auf nunmehr 66.300 Personen erhöht. Glauben Sie, dass es für die nach der Datenlage zum 28. Februar in Thüringen 219.500 arbeitslosen

Männer und Frauen von Bedeutung ist, ob Vermittlungszahlen in der Arbeitsverwaltung eigenwillig ermittelt wurden oder ob Thüringen bei der Arbeitslosenquote besser als die anderen vier neuen Flächenländer dasteht? Der einzelne Mensch hinter dieser Zahl taucht in Ihrer Regierungserklärung überhaupt nicht auf. Aber wenn man allein derartige Aussagen trifft, dann unterdrückt man ganz massiv, was der Abgeordnete Höpcke als "Verschweigen von Entwicklungen" in der 2. Legislaturperiode charakterisiert hat.

(Unruhe bei der CDU)

Ich sage Ihnen ja extra den Namen, damit Sie etwas zum Aufregen haben, weil Sie sich über die Fakten nicht aufregen können. Die müssen Sie ja schönjubeln. Man verschweigt beispielsweise, dass in Thüringen seit November 2001 die Arbeitslosigkeit stärker ansteigt als in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt. Man verschweigt, dass die Fördermaßnahmen ABM und SAM massiv gegenüber den Wahlgeschenken der CDU im Jahr 1999 eingeschränkt und im Jahr 2001 mit 34.300 Beschäftigten auf weniger als 50 Prozent gegenüber 1999 abgesenkt wurden.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Der macht Wahlkampf.)

Da waren es 70.100 Menschen, das waren Menschen, reale Menschen, nicht irgendwelche Phantasiezahlen. Die sind eben nicht mehr in Lohn und Brot. Der Freistaat hat nicht gegengesteuert, sondern die originär für die Förderung des Arbeitsmarkts eingesetzten Mittel des Landeshaushalts von 630 Mio. DM im Jahr 1999 auf nunmehr 479 Mio. - also um 150 Mio., entsprechend ca. 24 Prozent gesenkt. Meine Damen und Herren, dieses Spiel ist mehr als makaber, geht es doch zu Lasten der arbeitslosen Thüringerinnen und Thüringer, und soll vor allem die rotgrüne Bundesregierung treffen. Völlig unverständlich alles Handeln der Landesregierung, vor allem vor dem Hintergrund, dass vorgesehene Mittel des Europäischen Sozialfonds der dritten Förderperiode in den Jahren 2000 und 2001 entgegen den Ansätzen im Landeshaushalt nicht wirksam geworden sind und als Haushaltsreste in Höhe von 52,4 bzw. 87 Mio.  !   2000 und 2001 immer noch vorliegen. Dies, meine Damen und Herren, ist eine andere Sicht auf Arbeitslosigkeit und deren Bekämpfung in Thüringen.

Dabei, ich komme zum zweiten Punkt, Herr Ministerpräsident, haben Sie in Ihrer Regierungserklärung vom Oktober 1999 die Zusammenführung von Wirtschaft und Arbeitsmarktpolitik als Schlüssel zur Verzahnung und Sicherung der Brückenfunktion vom zweiten in den ersten Arbeitsmarkt dargestellt.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Das ist richtig.)

Er hat es dargestellt, aber die Zahlen sind anders.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Da müssen Sie mal schauen. Lassen Sie es sich von Herrn Gerstenberger mal darstellen.)

Ja, ich schaue ja. Ich will schon, aber ich glaube nicht an die Statistik, die Sie zusammengestellt haben. Sie haben also einen Schwerpunkt Ihrer Politik dargestellt, für Rahmenbedingungen zu sorgen, die dem Unternehmen ermöglicht, Arbeitsplätze zu schaffen. Tatsache ist, dass mit einzelbetrieblicher Förderung, mit Programmen für den Mittelstand Gelder in Milliardenumfang eingesetzt wurden und Arbeitsplätze nach Aussagen der Investoren geschaffen werden sollten, die unter Nutzung von Möglichkeiten der nachträglichen Reduzierung nie wirksam geworden sind. Tatsache ist, dass sich die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten im Zuge der geschaffenen Rahmenbedingungen im Dezember 2001 um mehr als 50.000 reduziert hat gegenüber 1999.

(Zwischenruf Dr. Vogel, Ministerpräsident: Das ist etwas völlig anderes.)

Ach, das hat also andere Gründe. 50.000 Menschen weniger sozialversicherungspflichtig in Lohn und Brot, 34.000 Menschen weniger in ABM und SAM - das sind nackte, harte Fakten und Zahlen. Die sind nicht interpretationsfähig, das sind Menschen, die gern arbeiten möchten und am Arbeiten gehindert werden.

(Beifall bei der PDS)

Die Zahl der Erwerbstätigen am Arbeitsort in Thüringen im Jahr 2001 gegenüber 2000 ist um 19.700 Personen geringer und Tatsache ist, dass Thüringen mit 53 Industriearbeitsplätzen pro 1.000 Einwohner nur 69 Prozent des Durchschnittswerts der Bundesrepublik aufweist, obwohl es deutlich über dem Durchschnitt der neuen Bundesländer liegt. Diese Zahlen machen Aufgaben und Möglichkeiten deutlich, die den zu schaffenden Rahmenbedingungen zugrunde zu legen wären; dies ist nur ungenügend erfolgt. Es fehlen im Ergebnis der in Thüringen praktizierten Wirtschaftspolitik schlichtweg Arbeitsplätze im ersten Arbeitsmarkt.

(Zwischenruf Dr. Vogel, Ministerpräsident: Nicht nur in Thüringen.)

Wir mahnen auch an, um der Abwanderung der leistungsfähigen jungen Leute entgegenzuwirken, muss die Qualität der Berufsausbildung gesichert werden.

(Beifall bei der PDS)

Da die Anzahl der betrieblichen Ausbildungsplätze nur für die Hälfte der Schulabgänger ausreicht und der Trend zu höheren Abschlüssen anhält, muss auch die Vollzeitausbildung so attraktiv gestaltet werden, dass sie nicht nur Warteschleife zur Verschönerung der Statistik darstellt. Unsere Auffassung haben wir dazu bereits mehrfach hier

im hohen Haus vorgetragen, so dass ich auf weitere Erläuterungen verzichten kann. Eines scheint mir aber in diesem Zusammenhang noch wichtig, die Tatsache nämlich, dass im Dezember 2000 die Zahl der Gewerbeabmeldungen höher war als die der Anmeldungen und sich dieser Trend auch im Jahresdurchschnitt 2001 fortsetzte, und das nicht nur über alle Branchen, sondern, was besonders problematisch ist, auch im produzierenden Gewerbe - 358 Abmeldungen zu 270 Anmeldungen für Dezember 2000, 316 zu 306 im Jahresdurchschnitt 2001 -, und dass die Insolvenzen seit 1999 deutlich zugenommen haben.

(Zwischenruf Dr. Vogel, Ministerpräsident: Natürlich, in ganz Deutschland.)

Die Gründe für diese Entwicklung sind sicher vielfältig. Sicher spielen Eigenkapitalausstattung einerseits und Konjunktur- bzw. Auftragsentwicklung andererseits eine nicht unbedeutende Rolle. Ich sage es ja. Ich habe nichts anderes behauptet, aber es gehört auch zur Aufzählung. Halten Sie das doch aus, ich habe doch Ihre Aussagen auch ausgehalten.

(Beifall bei der PDS)

Wer sich aber zum Ziel setzt, Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Entwicklung zu schaffen und in der Verzahnung Arbeitsplatzbeschaffung zu initiieren, kann nicht nur die Schuld außerhalb seines Einflussbereiches suchen. Er muss sich fragen lassen, ob er Voraussetzungen dafür geschaffen hat, dass die öffentliche Hand als Auftraggeber ausgleichend wirken kann. Er muss sich fragen lassen, ob er die verfügbaren Mittel eingesetzt hat und die Zielstellungen des Mitteleinsatzes erreicht wurden, unabhängig von der Tatsache, dass wie in dem Fall der ESF-Mittel für 2000 und 2001 auch EFRE-Mittel aus 2000 und 2001 nicht entsprechend der Haushaltsansätze eingesetzt wurden: Sind die Möglichkeiten zum verstärkten Einsatz verfügbarer Mittel für die Verbesserung der Infrastruktur als Maßnahme sowohl der Abfederung des schnellen Nachfragerückgangs nach Bauleistungen einerseits als auch der Senkung der kommunalen Eigenanteile völlig ungenügend genutzt worden? Die Enquetekommission zur Wirtschaftsförderung hat dazu Feststellungen getroffen und Empfehlungen gegeben. Im Übrigen liegt mit ergänzendem Inhalt die Studie des DGB zur "Entwicklung der Bauwirtschaft in Thüringen für den Zeitraum seit 1996" vor. Sie sollten also nicht nur immer die passenden Zitate vom DGB nehmen, sondern auch diese, die sich direkt auf Thüringen auswirken könnten und Vorgaben oder Hinweise gegeben haben.

Meine Damen und Herren, das Operationelle Programm ist kein Dogma, das sich nicht so an die neuen Notwendigkeiten anpassen ließe, dass im Rahmen der Leitlinien keine andere Gewichtung der Schwerpunkte oder keine weiter gehenden Maßnahmen möglich wären. Hier hat die Landesregierung einfach nicht reagiert. Als wir von Rezession

gesprochen haben, wurden noch Definitionsfragen ins Feld geführt. Höchste Zeit, Herr Ministerpräsident, zu handeln und auch hier gegenzusteuern, nicht auf die Milliarden im Infrastruktur-Ost-Programm hoffen, sondern die Mittel des Strukturfonds für regionale Entwicklung, die bisher vor sich hergeschoben wurden, in einer Größenordnung von 276 Mio. im Jahr 2000 und 281 Mio. im Jahr 2001 endlich in die Hand nehmen, gegebenenfalls die Änderungsmöglichkeiten zu den Maßnahmen des Operationellen Programms nutzen und die Investitionstätigkeiten, vor allem der öffentlichen Hand, deutlich und nachhaltig zu unterstützen. Es gilt, damit Voraussetzungen, sprich Rahmenbedingungen für wirtschaftliche Entfaltung einschließlich Neuansiedlungen zu schaffen und der unseligen Entwicklung in den Sachinvestitionen und Baumaßnahmen durch Gemeinden entgegenzuwirken.

(Beifall bei der PDS)

Hier ist es nicht fünf vor zwölf, hier ist es fünf nach zwölf.

Meine Damen und Herren, eine andere Sicht auf die Rahmenbedingungen für die wirtschaftliche Entwicklung in Thüringen, von der Sie, Herr Ministerpräsident, in Ihrer Regierungserklärung 1999 sehr richtig feststellten: "Aber Arbeitsplätze werden nur sicher sein, neue Arbeitsplätze nur entstehen, wenn die Infrastruktur des Landes stimmt. Eine gute Infrastruktur beginnt mit leistungsfähigen und innovationsfreudigen Kommunen." Ich muss dem nichts hinzufügen außer der Feststellung, dass Sie alles tun, dass die Innovationsfreudigkeit und die Leistungsfähigkeit Thüringer Kommunen ständig geschwächt und gestört wird.

(Zwischenruf Dr. Vogel, Ministerpräsident: Ja, ja.)