Protokoll der Sitzung vom 15.03.2002

Der Kampf um Autobahnen und ICE ist Ihnen wichtiger als Fragen von Familien und Kinderfreundlichkeit und von Gleichberechtigung bzw. Chancengleichheit.

Herr Ministerpräsident, eine sechste Betrachtung: Sie haben richtig postuliert, dass die Schul- und Bildungspolitik entscheidend die Zukunftschancen unseres Landes bestimmt. PISA gibt Deutschland inzwischen ein vernichtendes Zeugnis, wenn es um Schulleistungen im internationalen Vergleich geht. Da Thüringen nun mal zu Deutschland gehört, ist es also noch lange kein Erfolg, wenn, so wie 1999 von Ihnen gesagt, Thüringen bundesweit Akzente für eine moderne Bildungspolitik setzen will. Sicher sind die Paukschulen von Japan und Südkorea nicht unser Vorbild, aber das hat auch niemand behauptet. Da wir in Thüringen auf dem richtigen Weg sind, wie Ihr Kollege Minister Krapp mehrmals betonte, wird eine von uns beantragte Enquetekommission, die sich mit der Schulleistung im Freistaat Thüringen in umfassendem Sinne hätte beschäftigen sollen, von Ihnen erst einmal abgelehnt. Ganz so sehr scheinen Sie sich um die Zukunftsfähigkeit Thüringens dann doch keine Gedanken machen zu wollen. "Das gegliederte Schulsystem in Thüringen steht für Qualität, Innovation und Kontinuität." - auch das ein Zitat aus Ihrer Regierungserklärung 1999.

Dazu einige auserwählte Bemerkungen: 79 Prozent der Thüringer Bevölkerung sind mit dem Schulsystem insgesamt nicht zufrieden - Quelle: Meinungsforschungsinstitut Allensbach 2002/5. In den letzten drei Jahren

fielen 5 bis 7 Prozent des Unterrichts an allgemein bildenden Schulen in einer erfassten Woche aus.

Auch wenn Sie mit meinem Kollegen Gentzel Sport treiben wollen, täuscht das nicht darüber hinweg, wie viel Sportunterricht tatsächlich an den Schulen ausfällt,

(Beifall bei der PDS, SPD)

an berufsbildenden Schulen waren es 2001 sogar knappe 12 Prozent; und das nenne ich einen Skandal. Das ist verlorene Zeit und sind verspielte Zukunftschancen für Thüringer Schülerinnen und Schüler. Das kann man nicht hinnehmen. Etwa 9 Prozent aller Schüler der allgemein bildenden Schule, mit steigender Tendenz übrigens, erreichen nicht den für Thüringen niedrigsten Schulabschluss, den Abschluss der Hauptschule. Sie werden für ihr Leben durch diese Thüringer Landesschulpolitik gebrandmarkt. Auch jetzt loben Sie das gegliederte Schulsystem. Wenn Sie PISA - Sie haben ja immer gesagt, man soll es lesen bemühen, hätte Ihnen auffallen müssen, dass laut PISA gerade gegliederte Schulsysteme Benachteiligungen, ob nach Geschlecht, sozialer Herkunft oder Nationalität, fördern. Wenn angesichts solcher Tatsachen von Leistungsfähigkeit der Thüringer Schulen geredet werden kann, ist das vor allem dem Engagement der Pädagogen zuzuschreiben, die Sie zu Recht nicht zu Sündenböcken gemacht sehen wollen. Da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu.

(Beifall bei der PDS)

Wenn wir über die Finanzierung von Bildung sprechen, ist es für uns unverständlich, wie man 4,9 Mio.  *$ lassungen im Grundschulbereich ausgeben kann, anstatt in die Förderung von Begabten, also auch Benachteiligten, zu investieren. Diese Passage aus Ihrer Regierungserklärung haben Sie interessanterweise heute Morgen beim Vortrag weggelassen. Deswegen will ich es ansprechen und sagen, es wird wohl Gründe haben, dass es Ihnen peinlich ist, dass diese Entlassungswelle kontraproduktiv und ein Flop war.

Insgesamt haben die Probleme, die nicht nur PISA benennt, mit der konzeptionellen Schwäche der Landesregierung zu tun, wie sich u.a. in der jetzt zurückgezogenen Schulgesetznovelle zeigt. Anzeichen von Konzeptionslosigkeit sind wohl auch die widersprüchlichen Äußerungen zu bildungspolitischen Fragen zwischen der KMK-Vorsitzenden Frau Professor Schipanski und dem Kultusminister Dr. Krapp. Wenn Sie weitsichtige Bildungspolitik wollen, beginnen Sie mit einer schonungslosen Analyse der Bildungssituation in Thüringen, die auch die Lehrerbildung mit einschließt.

Auch die Debatte zu Schulstrukturen darf kein Tabu sein. Sie haben in Ihrer Regierungserklärung gesagt, dass alle wollen, dass man die Schüler 12 Jahre zum Gymnasium führt. Ich denke, Sie wollten sagen: zum Abitur führt. Das, was wir wollen, ist eine 12-jährige Schule, bei der es

ein langes Lernen zusammen gibt, bevor die Gliederung einsetzt. Aber darüber müsste man dann miteinander diskutieren und tatsächlich erst einmal eine Analyse machen. Fangen Sie also an, über die Dinge zu debattieren und fangen Sie an, die Diskussion zu organisieren.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, im Bereich Kunst und Kultur als siebenter Punkt setzt die Landesregierung nicht auf Festigung, Ausbau und Stärkung als Zukunftsinvestition, sondern auf gravierende Einschnitte. Die Antworten auf die Große Anfrage Kultur der PDS-Fraktion haben ja einiges deutlich gemacht. Sind Mittelkürzungen in Teilbereichen jährlich kaum spürbar gewesen, so ergibt sich im Rückblick auf den Zeitraum der letzten sieben bis zehn Jahre ein ernüchterndes Bild. Fördermittel im Sozio-, Jugend- und Breitenkulturbereich wurden zum Teil bis auf die Hälfte gekürzt. Das Jugendphilharmonieorchester ist ja, glaube ich, ein beredtes Beispiel, zurzeit hochaktuell. Es zeugt davon, dass die Probleme im Breitenkulturbereich nicht ernst genommen worden sind, obwohl die PDS-Fraktion seit Jahren darauf hingewiesen hat.

Blickt man in den Nachtragshaushalt, wird das Problem noch mehr verschärft. Hier wird im Bereich der Schwerpunktförderung und bei den Investitionen in diesem Bereich verantwortungslos weiter gekürzt. Man riskiert damit, dass es bis zum Sommer ein selbst regulierendes Sterben vieler Kulturprojekte gibt. Das kann man nur als Skandal bezeichnen.

(Beifall bei der PDS)

In Ihrem Eingangsstatement führen Sie unter dem Erreichten die Stiftung "Ettersburg" zur Erforschung der Diktaturen in Europa im 20. Jahrhundert an. Ich frage Sie an dieser Stelle: Warum setzen Sie sich nicht mit gleichem Engagement für die Belebung einer Stiftung "Breitenkultur" und damit für den Erhalt des vielfältigen kulturellen Angebots für die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land ein?

In der Frage der Theater- und Orchesterlandschaft scheint die Landesregierung den Buhmann nun in Weimar gefunden zu haben und damit eigene kulturpolitische Verantwortung zu verdrängen. Die Träger der Thüringer Theater und Orchester von Altenburg bis Eisenach warten auf den Fortgang der Beratungen zu den Finanzierungsvereinbarungen bis zum Jahr 2008; doch sie werden völlig im Unklaren gelassen, wie es wirklich weitergeht.

Herr Ministerpräsident, nicht mit der Ablehnung der Fusion in Weimar scheitert die Thüringer Kulturpolitik, sondern mit der Unfähigkeit und dem Unwillen, Alternativen zu diskutieren und Schützenswertes auch wirklich zu schützen.

(Beifall bei der PDS)

Herr Ministerpräsident, Sie müssen sich ins Stammbuch schreiben lassen: Den Verfassungsauftrag zum Schutz der Thüringer Kultur kann man nicht nur in Sonntagsreden beschwören; das Land steht für den Erhalt und den Ausbau der Thüringer Kulturlandschaft in der Pflicht.

Ein achter Punkt - innere Sicherheit: Meine sehr geehrten Damen und Herren, es ist ja allgemein bekannt, dass über Sicherheit immer dann geredet wird, wenn anderswo der staatliche Reform- und Gestaltungswillen abnimmt. Dann soll die Politik der inneren Sicherheit und des starken Staats optimiert werden - politisch bedenklich, meinen wir, und in Thüringen selbst innerhalb der eigenen Logik nicht sehr erfolgreich, so meinen wir. Ausdruck dafür: Pleitenund Pannenserie im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz, kostspielige Personalverschiebung bei der Polizei und beim Verfassungsschutz, Beförderungsstau im Landeskriminalamt und undurchsichtige Leistungsbewertungen. Wir meinen, wer fordern will, muss fördern, muss motivieren und das heißt auch, geleistete Arbeit anerkennen. Das heißt: korrekte Bezahlung und endlich eine Beförderungspraxis, die Leistung honoriert und nicht diszipliniert.

Zwei Ereignisse haben seit 1999 die Sicherheitsdebatte besonders angeheizt: die Debatte zum Rechtsextremismus im Sommer 2000 und natürlich der 11. September 2001. Die Landesregierung hat hier mit Verweis auf ein Grundrecht auf Sicherheit ein umfangreiches und massiv bürgerrechtsrelevantes Polizei- und Sicherheitsrechtsänderungsgesetz vorgelegt. Wir haben unsere Ablehnung deutlich gemacht. Wir sagen aber Ja zum motivierten, engagierten Polizeibeamten und zum mündigen, selbstbewussten und ebenfalls engagierten Bürger.

(Beifall bei der PDS)

Mehr Bürgerrechte, mehr Rechtsstaat und weniger polizeistaatliche Gesetze, das ist unsere Devise.

(Beifall bei der PDS)

Wir wollen keinen starken autoritären Staat, sondern einen demokratischen, der Grundrechte seiner Bürger schätzt, schützt und nutzt. Man darf Bürger, die von ihrem Recht auf Demonstration Gebrauch machen wollen, nicht mit Kosten bedrohen und beteiligungswillige Bürger unter Generalverdacht stellen.

(Beifall bei der PDS)

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich zusammenfassen. Ich möchte den Gedanken von Wolfgang Schäuble auf dem Jahresempfang des Landkreises Greiz aufgreifen, in dem er zum Ausdruck brachte, dass weder Miesmacherei noch Schönfärberei das Land voranbringen Voranbringen wird nur das bewusste Ausloten der eigenen Chancen und Möglichkeiten. Voranbringen wird nur eine offene Analyse und kritische Beleuchtung des Erreichten.

Voranbringen wird nur eine Abrechnung einer Zielstellung. Und hier, meine Damen und Herren, ist die Regierungserklärung von 1999, die nur verbale und keine quantifizierbaren Zielstellungen enthält, natürlich dazu angetan, einen scheinbaren großen Schritt auf dem Weg zu einem imaginären Ziel zu erreichen. Aber das nenne ich die verbale Abrechnung von angekündigten Luftblasen.

Herr Ministerpräsident, unvergessen bleibt Ihre Regierungserklärung von 1994, wo Sie noch vollmundig die Arbeitslosenquote auf unter 10 Prozent senken wollten, wo Sie die Arbeitnehmer am betrieblichen Produktivvermögen beteiligen wollten, wo Sie 100.000 neue Arbeitsplätze angekündigt haben als Ziel. Ich fürchte, bis 2004 haben Sie in diesen Faktoren die negative Verdopplung erreicht. Wenn man Ihren heutigen Einschätzungen folgt, Herr Ministerpräsident, ist Thüringen trotz steigender Abwanderung, steigender Arbeitslosenzahlen, fehlender Impulse für einen selbsttragenden Aufschwung, wachsender Insolvenzen, sinkender Ausgaben der Kommunen in die Infrastruktur aus Ihrer Sicht auf einem guten Weg und fast 80 Prozent der Ziele Ihrer Regierungserklärung sind erreicht. Ein gewaltiges Schrittmaß, in 30 Monaten 80 Prozent der Aufgaben zu erfüllen, das heißt nach Adam Ries, mathematisch betrachtet bleiben Ihnen noch acht Monate für Ihre Regierungszeit. Das sind phantastische Planerfüllungszahlen.

(Beifall bei der PDS)

Es geisterten gestern Sätze bei uns "Das Erreichte ist nicht das Erreichbare." oder einige fühlten sich erinnert an "Überholen ohne einzuholen" oder, um in Ihren Worten der 99er Regierungserklärung zu bleiben,

(Zwischenruf Abg. Gentzel, SPD: Plane mit, regiere mit.)

die besten Jahre der CDU als Partei, als Fraktion, als Alleinregierung liegen hoffentlich bald hinter Ihnen, damit für die Arbeitslosen, die Abwandernden, die Konkursgeschädigten, die Sozialhilfeempfänger, für Familien mit Kindern, für selbstbewusste Bürger Wahlentscheidungen mit Alternativkonzepten verbunden werden, wie und mit wem bessere Zeiten, Politik in Thüringen ermöglicht werden kann. Die Thüringer haben es verdient. Hoffentlich, Herr Ministerpräsident, übergeben Sie dann den Staffelstab zum Wohle des Landes und seiner Bürgerinnen und Bürger. Sie, Herr Ministerpräsident, haben mit einer Sentenz geendet. Auch wir haben Vorstellungen und Visionen.

Lassen Sie mich am Schluss also mit André Malraux sagen: "Eine Zukunft, von der man zu viel, immer, immer wieder spricht, gehört schon der Vergangenheit an." Danke schön.

(Beifall bei der PDS)

Ich rufe als nächsten Redner Herrn Abgeordneten Gentzel, SPD-Fraktion, auf.

Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren! Sehr geehrter Herr Ministerpräsident, Ihre Regierungserklärung ist ein Dokument der Hilflosigkeit.

(Heiterkeit bei der CDU)

(Beifall bei der SPD)

Ich bin wirklich enttäuscht. Ich habe Ihnen ehrlich die Größe zugetraut, dass Sie wenigstens auf die eine oder andere Fehlentwicklung in der Landespolitik eingehen, aber keine Aussage zur Justiz in Thüringen, z.B. nichts zum Verfassungsschutz; nichts zu Theatern und Orchestern; nichts zum Thema Wasser/Abwasser; Frauenpolitik wird auf die Möglichkeit von Messeteilnahmen reduziert.

(Beifall bei der SPD)

Nein, Herr Ministerpräsident, das war zu wenig.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, zunächst möchte ich Sie bitten, sich in das Jahr 1989 zurückzuversetzen. Sehr viele hier in diesem Raum können aus eigenen Erfahrungen über damalige Zustände sprechen. Ich will da heute gar nicht über die fundamentalen Katastrophen wie fehlende Meinungsfreiheit, keine Pressefreiheit, die Staatssicherheit und die allgemeine Perspektivlosigkeit reden. Ich will gar nicht an das Grau in den Städten und Dörfern erinnern und erst recht nicht an das sehr realistische Gefühl, eingesperrt zu sein.

(Zwischenruf Abg. T. Kretschmer, CDU: Das ist aber wichtig.)

Warten Sie doch einmal ab, Herr Kretschmer.

Herr Gentzel, ich hatte Sie vorhin gebeten, Sie einmal kurz unterbrechen zu dürfen. Das ist miteinander abgesprochen, denn eben haben auf der Besuchertribüne die Gäste aus der Republik Mordowien Platz genommen - wir hatten sie schon einige Minuten früher erwartet - unter der Leitung des Herrn Valerij Ketschkin, Vorsitzender der Staatlichen Versammlung der Republik Mordowien.

(Beifall im Hause)

My privjetstvujem ot imeni tjuringskovo parlamenta +,    -./ -

Die Delegation ist vom 14. März bis zum 20. März auf Einladung der Landtagspräsidentin zu Gast in Thüringen und wird sich vorwiegend den Themen der Landwirtschaft und Fischereipolitik widmen. Es werden eine Reihe von politischen Gesprächen und Treffen mit Partnern vor Ort stattfinden. Ich wünsche natürlich unseren Gästen einen angenehmen Aufenthalt in unserem schönen Thüringen. Sie sind uns auf das Herzlichste willkommen.