Protokoll der Sitzung vom 21.11.2002

Da verweise ich auf die jüngsten Aussagen zu zwei PISA-Folgestudien. Frau Bulmahn hat sie ja vorgestellt. Die Freude an Büchern und dem Lesen führen zu größerer Lesekompetenz und wirken insgesamt auf die Schulleistungen. Schüler und Schulen können in einem Klima, das geprägt ist von hohen Erwartungen, aber auch erreichbaren Zielen und der Bereitschaft sich anzustrengen - dabei muss sich Leistung lohnen -, von Freude am Lernen, Disziplin und einem guten Lehrer-Schüler-Verhältnis, dann

kann Schule Besseres leisten. Prof. Zetler hat in der Anhörung hier im Landtag zu der ersten PISA-Studie unter anderem gesagt: "Die innerschulischen Bedingungen können nur einen geringen Beitrag im Vergleich zu den sozioökonomischen Bedingungen bei der Verbesserung der Lesekompetenz leisten. Das heißt, es geht um mehr als die Bedingungen, die eine Schule bieten kann."

Zusammenfassend möchte ich sagen: Dieses Schulgesetz bietet für meine Begriffe eine gute Grundlage und sehr viel Raum, die Thüringer Schule in den nächsten Jahren weiterzuentwickeln. Darüber hinaus sollte uns die Enquetekommission wertvolle Handlungsvorschläge unterbreiten, wie man neben der Verbesserung schulischer Faktoren insbesondere die, bezogen auf das Bildungsergebnis, so wichtigen sozioökonomischen und gesellschaftlichen Faktoren positiv beeinflussen kann. SPD-Chef Matschie verlautbart, dass die Entquetekommission "Bildung und Erziehung" dazu benutzt werden soll, Bewegung in eine verfahrene Bildungspolitik der Landesregierung zu bringen.

(Beifall bei der SPD)

Herr Döring, wenn man falsche Wege gegangen sein sollte, dann muss man dies abstellen. Ich sage den Thüringer Sozialdemokraten aber auch: Wenn wir bei dem gesellschaftlichen Problem eines schlechten Stellenwerts von Erziehung und Bildung vorankommen wollen, dann geht das nicht durch politische Grabenkämpfe, alte Ideologien oder auch nur unter Profilierungen,

(Zwischenruf Abg. Döring, SPD: Genau, und deswegen haben Sie alle Anträge abgelehnt.)

sondern es geht nur im Konsens bei den wichtigen Fragen. Danke.

(Beifall bei der CDU)

Es hat jetzt Frau Abgeordnete Dr. Klaubert, PDS-Fraktion, das Wort.

Frau Präsidentin, sehr verehrte Damen und Herren, zunächst einige Anmerkungen zur bisherigen Debatte und dann einige Klarstellungen zum Thema "Ganztagsschule".

Eine erste Anmerkung zur Debatte: Herr Abgeordneter Emde, Ihre Vorstellung, dass sich die Abgeordneten in einem rotierenden System bewegen könnten und vielleicht nicht nur Wirtschaftseinrichtungen aufsuchen, sondern hin und wieder als Lehrer tätig sein müssten, würde ich mir gern mal durch den Kopf gehen lassen, denn das hat zwei Seiten. Auf der einen Seite wüssten dann die Abgeordneten, wie es in der Schule aussieht, aber auf der anderen Seite wüsste ich nicht, ob wir unseren Schüle

rinnen und Schülern die Politiker als Lehrer zumuten können. Das ist schon ein bisschen schwierig.

(Beifall bei der PDS)

(Unruhe bei der CDU)

(Zwischenruf Abg. Wehner, CDU: Das ist ja der Gipfel. Ich habe schon mehrere ausgebil- det, da haben Sie noch gar nicht gewusst, was Schule ist!)

(Heiterkeit im Hause)

Zweite Bemerkung: Es schien ja zeitweilig die Spannung in dieser Debatte zu fehlen. Ich habe mich manchmal gefragt, was unsere Zuschauer auf der Tribüne wohl denken. Wir sprechen über ein ganz wichtiges Gesetz, über das Schulgesetz, wir sprechen über das Förderschulgesetz und wir sprechen über das Schulfinanzierungsgesetz. Wir haben auch eine aktuelle Haushaltssituation, die uns nicht zu großen Hoffnungen anregt. Aber die Spannung ist inzwischen in diese Debatte gekommen und das ist ja ganz gut so. Nun wirft Herr Emde der PDS-Fraktion die vollständige Revolution im Schulwesen vor und der SPD-Fraktion wenigstens die Kulturrevolution über den Kinderbetten. Ich glaube, beides ist falsch. Ich glaube, Revolution im Schulwesen will hier keiner, aber gründliche und durchdachte Reformen sind bitter nötig.

(Beifall bei der PDS)

Zur Lufthoheit über den Kinderbetten - das habe ich nun in den letzten Tagen mehrfach gehört, wer die alles für sich beansprucht - möchte ich einfach einmal anmerken: Im amerikanischen Schulwesen ist es so, dass die Schule den ganzen Tag geöffnet ist. Gastschüler, die zu uns kommen, wundern sich ungeheuer, warum am Mittag die Schule zugesperrt wird und warum am Nachmittag dort nichts los ist. Wollen Sie etwa behaupten, die SPD hat über den amerikanischen Kinderbetten die Lufthoheit? Ich glaube das einfach nicht.

Weiter zu einigen Anmerkungen: Herr Emde hat auch gesagt, kein Sozialdemokrat hat es bisher besser gemacht. Frage ich also: Hat es die CDU besser gemacht? Aber wir haben das in der Einbringungsdebatte zu diesem Schulgesetz schon ausgedrückt. Hier geht es nicht oder nicht mehr um ideologische Grabenkämpfe, zu welchen unsinnigen oder sinnigen Verwirrungen die Orientierungsstufe führt, oder ob die eine oder andere Gesamtschule oder auch das eine oder andere Ganztagsangebot am Leben vorbeischlingert. Hier geht es darum, mit welchem Bildungsauftrag folgen wir der Veränderung in der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts? Darauf möchte ich dann doch noch zurückkommen.

Herr Emde, Sie haben richtig gesagt, die Frage der sozialen Benachteiligungen ist in PISA-E für die ostdeut

schen Länder noch nicht so zu messen. Das ist richtig. Ich glaube, darüber muss man sehr gründlich nachdenken, warum ist das so. Denn wir haben es tatsächlich mit einer sozialen Differenzierung in der Gesellschaft zu tun und wir haben insbesondere dort Benachteiligungen in den Bildungszugängen, wo die Eltern auch diesen Prozess nicht so sorgsam organisieren und fördern. Das heißt, wir müssen darauf achten, dass insbesondere dort, wo soziale Benachteiligungen sind, die Chancen bei den Bildungszugängen nicht sinken. Da meinen wir - und da bitte ich Sie auch, in den künftigen Wochen und Monaten in der Enquetekommission noch gründlich darüber nachzudenken -, dass ein gegliedertes Schulsystem, auch ein solch gegliedertes wie wir es in Thüringen haben, diese soziale Differenzierung vertieft. Ich möchte nicht, dass wir in einigen Jahren feststellen, dass uns dieser Differenzierungsprozess auch erreicht hat, weil wir vor einem integrativen Lernen diese soziale Selektion aufgrund ganz unterschiedlicher Vorstellungen von Elitebildungen auch noch gefördert haben. Ich glaube, das ist ein ernst zu nehmendes Argument.

(Beifall bei der CDU)

(Zwischenruf Abg. Dr. Zeh, CDU: Gleichma- cherei ist auch nicht das Richtige.)

Herr Abgeordneter Zeh, Gleichmacherei ist auch nicht das Richtige, man muss immer den Ausgangspunkt nehmen und muss entsprechend des Ausgangspunkts und der Ausgangssituation von Schülerinnen und Schülern die entsprechende Forderung und Förderung ansetzen. Wichtig ist die Chancengleichheit und die Chancengerechtigkeit und da muss man die gesamte Gesellschaft betrachten und nicht nur irgendwelche Details.

Ich möchte wirklich noch einmal die Frage aufwerfen: Worüber reden wir eigentlich, wenn wir von Ganztagsschulen reden? Ich glaube, wir haben uns im Moment in dieser Debatte in einem heillosen Begriffswirrwarr verfangen. Deswegen fange ich mit einer Frage an den Kultusminister an. Herr Minister, haben Sie auch vor einiger Zeit ein Schriftstück von der Kommission "Pädagogische Freizeitforschung in der Deutschen Gesellschaft für Erziehungswissenschaften" zugesandt bekommen? Das hat den Titel "Bildungsauftrag Ganztagsbetreuung: Schule statt Freizeit?"

Ich hatte das außerordentliche Vergnügen, Herrn Professor Opaschowski, der der Vorsitzende dieser Kommission ist, kennen zu lernen, der mich auf dieses Papier hinwies und mir gesagt hat, es sei an die Kultusminister aller deutschen Bundesländer verteilt worden mit der Bitte, es in den Schulrahmenbedingungen ihrer Länder zu berücksichtigen. Nun stelle ich einfach mal eine These auf: Eigentlich hätte diese Erklärung im Zusammenhang mit der Novellierung des Schulgesetzes unbedingt diskutiert werden müssen, denn dann wären notwendiger- und vernünftigerweise auch in Thüringen andere Regelungen für die Ganztagsangebote im Schulgesetz angekommen.

Wir hätten dann die Chance, dass an dieser Stelle des Schulgesetzes die Ansprüche einer sich - ich bin darauf eingegangen - verändernden Gesellschaft widerspiegeln und ein tragfähiges Bildungskonzept für diesen Bereich entstanden wäre. Doch ich habe den Eindruck, dass weder die Regierung noch die Mehrheit des Hauses das gewollt haben. Ihre Argumentation, die sehr plakativ und sehr ideologienah immer gegen die Ganztagsschulen geführt wird, hat mir das auch bestätigt. Aber dabei wäre ich mir nun nicht so sicher, wie die Mehrheit in dieser Gesellschaft denkt, wenn man an die vielen Zuschriften denkt, die an die Abgeordneten herangereicht werden, aber auch die in der gesamten Gesellschaft diskutiert werden, wenn es um Veränderung geht. Da hört man Gleiches von Leuten aus der Wirtschaft, wie von Eltern- oder Lehrerverbänden. Das hört man - und ich betone das - besonders viel von Schülerinnen und Schülern.

Die vorliegende Schulgesetznovelle und ganz problematisch dazu der vorliegende Haushaltsansatz allein machen schon deutlich, dass außerunterrichtliche Angebote an Schulen mit einer Öffnung für freie und öffentliche Träger der Kinder- und Jugendhilfe sowie den Hortangeboten noch lange keine Ganztagsschule ausmachen. Die Finanzierung dieses ganzen Projekts ist überhaupt noch nicht gesichert. Wir sind an einem Punkt, an dem die Kommunen die Haushalte für das nächste Jahr planen und auch wissen wollen, wie sie als Schulträger diesen Prozess ausgestalten können.

Eine Ganztagsschule folgt nach unserer Auffassung einem Bildungsauftrag. Das wäre das, was ich im Zusammenhang mit diesem Papier der Kommission bereits gesagt habe. Wir stellen uns ausgehend davon in der Fraktion zuallererst die Frage: Welche Bildung wollen wir? Meine Kollegin Sojka hat es vorhin angesprochen: Wir begreifen Bildung als eine Lebensform und werden sie nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Verwertbarkeit für den Arbeitsmarkt beurteilen lassen.

(Beifall bei der PDS)

Sicher, berufliche Bildung ist wichtig, aber Bildung an sich ist etwas, was in den Bereich der Menschenrechtskataloge gehört. Das erfordert nun wiederum, die notwendige Vielfalt von Bildungsorten und die Vielgestaltigkeit von Bildungsprozessen nicht nur anzuerkennen, sondern eben auch zu fördern. Hier zitiere ich noch einmal aus diesem Papier. Dort heißt es: "Zu den lebenslangen Bildungsaufgaben der Zukunft gehört die Befähigung zu lebenslangem Lernen genauso wie die Vermittlung von Berufs- und Freizeitkompetenz, damit sich die Menschen in ihrer Lebensplanung und Lebensgestaltung mit den sich dynamisch entwickelnden gesellschaftlichen Veränderungen aktiv auseinander setzen können."

Wir verstehen die ganztägige Öffnung der Schule übrigens auch nicht als Ausweitung des Unterrichts auf den Nachmittag. Wir wollen die Gestaltung der Schule als Lern

und als Lebensort, an dem außerschulisches Lernen, an dem Freizeitmöglichkeiten angeboten werden und zusätzliche Interessengebiete mit vielseitigem Potenzial erschlossen werden können. Es sollte nach unserer Auffassung dort auch Förder- oder Stützunterricht angeboten werden. Wichtig dabei ist, dass diese Angebote von Erwachsenen mit entsprechender fachlicher Kompetenz angeboten werden. Das heißt, wir sagen, die Lehrer müssen die Lehr- und natürlich auch die Lernkompetenz haben. Aber Gleiches gilt für die Freizeitpädagogen und Gleiches gilt für die sozialpädagogischen Angebote. Ein Ansatz, der meint, mit Regelungen des so genannten zweiten Arbeitsmarkts immer mal den einen oder den anderen in die Schule zu schieben, damit wenigstens jemand da ist, der hat eigentlich nur ein Pflästerchen auf eine Wunde geklebt, die längst schon offen vor uns liegt.

(Beifall bei der PDS)

Wir denken, dass die Schule den Auftrag haben soll, dass dort Bildungsarbeit als motivierende Arbeit geleistet wird, die voraussetzt, dass die, die motivieren sollen, auch selber motiviert sein müssen. Da sind wir natürlich bei den Lehrerinnen und Lehrern und natürlich auch bei der Akzeptanz von Schule und ihrem Auftrag in der Gesellschaft. Ich denke, es ist äußerst wichtig, dass die Gesellschaft den Lehrerinnen und Lehrern und dem Bildungs- und Erziehungsauftrag in der Schule eine andere Bedeutung zumisst als: erstens, ihr werdet verbeamtet; zweitens, ihr seid eh schon zu viel und drittens, seid froh, dass ihr noch da sein dürft. Wir müssen dort zu einem Paradigmenwechsel in der Anerkennung dieser Berufsgruppe und der Institution kommen.

(Beifall bei der PDS)

Ich denke aber auch, das ist nicht nur die Frage der Politik, es ist auch die Frage der Selbstbetrachtung von Lehrerinnen und Lehrern. Da habe ich auch Kritik an dem Berufsstand, aus dem ich herkomme. Das gestehe ich ganz offen.

Nun meint man ja, in der Bildungsdebatte könne jeder mitreden, der irgendwann einmal die Schule von innen gesehen hat, und wer hat das nicht. Ich denke, darin liegt aber auch eine Chance, dass jeder die Schule einmal von innen gesehen hat, nämlich in der Einbeziehung sehr unterschiedlicher Potenziale in die Gestaltung der Schule überhaupt. Vor allem sollte die Schule ein Ort sein, wo Lernen gelernt werden kann. Ich habe das jetzt am Wochenende in einem äußerst interessanten Diskussionsprozess gehört. Die größte Denkfabrik Thüringens, jetzt ist der Wirtschaftsminister nicht da, die wir haben, ist doch eigentlich unser Gehirn. Es kann überhaupt nicht aufhören zu denken. Nun ist die Frage: Was passiert in diesen Gehirnen und wie kann Schule ihren Beitrag dazu leisten, diese Fabrik in Betrieb zu halten, sie immer wieder anzuregen? Dort, denke ich, müssen wir die Ganztagsschulen einordnen, und zwar nicht im herkömmlichen Sinn. Wir müssen sie einordnen in diesen Bildungsauftrag "Ganztagsschule". Damit stelle

ich zur Disposition, dass die Halbtagsschulen out sind und dass die Dominanz der Schule als reine "Lehr- und Unterrichtsanstalt" vorbei ist.

(Beifall bei der PDS)

Dort treffen sich - und das finde ich wieder spannend - in der Debatte all derjenigen, die das Wort ergriffen haben, meine Intentionen als Kulturpolitikerin mit denen der Bildungspolitiker und denen, die alle in diesem Prozess mitreden wollen.

Meine Damen und Herren, gestatten Sie mir auch, unsere Vorstellungen, nämlich die der PDS, dazu noch ganz konkret darzulegen. Wir denken, dass entsprechend außerunterrichtliche Angebote den Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler und dem Wunsch der Eltern folgen müssen. Die Schule soll neben den eigenen Möglichkeiten auch die unterschiedlichen Möglichkeiten der öffentlichen und der freien Träger der Kinder- und Jugendhilfe berücksichtigen. Sie soll Hausaufgabenhilfe und Nachhilfe gewährleisten. Wir möchten nicht, dass am Nachmittag in einer Vielzahl von Einrichtungen Nachhilfe erteilt wird, die nur die bezahlen können, die auch das notwendige Kleingeld dafür in der Tasche haben. Hausaufgaben und Nachhilfe sind auch Aufgaben der Schule.

(Beifall bei der PDS)

Wichtig ist für uns, dass...

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Auch die Eltern.)

Herr Abgeordneter Althaus sagt: "die Eltern". Das ist richtig, aber ich habe doch vorhin in einer längeren Passage gesagt, dass diese Ausdifferenzierung der Gesellschaft stattfindet und dass wir insbesondere dort Hilfe anbieten müssen.

(Zwischenruf Abg. Althaus, CDU: Ich habe schon Ihre philosophischen Ergüsse gehört.)

Dann haben Sie sie aber doch vielleicht nicht verstanden, wenn Sie das jetzt anders sagen.

(Beifall bei der PDS)

Also, es hat jetzt keinen Zweck, das weiter zu erörtern. Ich gehe noch einmal darauf ein, welchen Auftrag die Schule eigentlich hat und betone noch einmal die fachkompetente Unterstützung dieser Arbeit. Das gilt für die Freizeit und die sozialpädagogische Arbeit wie für die Lernarbeit. Wir können an unseren Kindern nicht beliebig herumzerren und herumerziehen. Sie sollen und müssen lernen ihr eigenes Leben zu gestalten, denn sie leben in der Regel länger als wir. Die Schule soll nicht zum Ort verkommen, den man am liebsten aus allergrößter Ferne betrachtet.