Meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordneten, ich heiße Sie herzlich willkommen zu unserer heutigen Plenarsitzung des Landtags, die ich hiermit eröffne. Ich begrüße auch unsere Gäste auf der Zuschauertribüne und ich begrüße herzlich die Vertreterinnen und Vertreter der Medien.
Als Schriftführer hat neben mir Platz genommen die Abgeordnete Wolf. Die Rednerliste führt der Abgeordnete Günther.
Für die heutige Sitzung liegen folgende Entschuldigungen vor: Herr Abgeordneter Fiedler, Herr Abgeordneter Gerstenberger, Herr Abgeordneter Ohl und Frau Abgeordnete Dr. Kaschuba.
Ich möchte heute zu Beginn dieser Sitzung recht herzlich Frau Tasch zum Geburtstag gratulieren. Wir wünschen ihr alles Gute, Gesundheit, Freude, Glück und natürlich Erfüllung in ihrem Beruf.
Regierungserklärung zur Politischen Kultur im Freistaat Thüringen (Thüringen-Monitor 2005) dazu: Entschließungsantrag der Fraktion
Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen! „Die Thüringer haben sich dem deutschen Einheitsschiff ohne Wenn und Aber anvertraut und sie stehen zu dieser Entscheidung. Sie vertrauen der demokratischen Bauweise des Schiffes und lehnen Alternativen sozialistischer Ingenieure ab.“ Das ist das Fazit des diesjährigen Thüringen-Monitors. Es ist ein erfreuliches Bild, das die Wissenschaftler nach 15 Jahren deutsche Einheit beschreiben. Dieses aber bedarf einer differenzierten Betrachtung.
Erinnern wir uns: Vorgestern vor 16 Jahren, am 9. November 1989, ist die Mauer gefallen. Ein Ereignis von herausragender historischer Bedeutung, an das sich die überwältigende Mehrheit der Deut
schen mit Freude und Dankbarkeit erinnert. Seit dem 13. August 1961 trennte ein „Todesstreifen“ die beiden Teile Deutschlands, an dem über 1.000 Menschen ihr Leben verloren.
Die Grenze, die unser Vaterland über Jahrzehnte geteilt hat, gibt es - Gott sei Dank! - nicht mehr. Gleichwohl sind die Folgen der Teilung immer noch spürbar: politisch, wirtschaftlich, aber auch mental.
„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört“, rief Willy Brandt am 10. November 1989 den Menschen in Berlin zu einen Tag nach der Maueröffnung. Helmut Kohl, der Kanzler der deutschen Einheit, sagte in der Bundestagsdebatte am 21. Juni 1990: „Nur die rasche Verwirklichung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion bietet die Chance, dass Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Brandenburg, Sachsen und Thüringen bald wieder zu blühenden Landschaften werden können, in denen es sich für jeden zu leben und zu arbeiten lohnt.“ Ich möchte heute sagen, es gibt sie, diese blühenden Landschaften in Thüringen und anderswo in den jungen Ländern.
Wer sich daran erinnert, wie unsere Städte und Dörfer Ende der 80er-Jahre aussahen, erkennt sie heute kaum wieder. Die Dunst- und Staubglocken über den Industriestandorten sind verschwunden. Die Innenstädte sind saniert und haben ihr historisches Gesicht zurückerhalten. Die Dörfer sind wieder lebenswert geworden.
Die Studie der Bertelsmann-Stiftung zum Standortwettbewerb der Länder bestätigt: Der Freistaat Thüringen macht gute Fortschritte - gegen den Bundestrend plus 0,41 Punkte beim Erfolgsindex. Zusammen mit Sachsen bilden wir das - so wörtlich - „ostdeutsche Spitzenduo“, wie es in der Studie ausgeführt ist. Im Dynamikranking der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ und der „Wirtschaftswoche“ verbessert sich Thüringen um drei Plätze und liegt jetzt auf Rang sieben, noch vor Baden-Württemberg. Die Wissenschaftler erklären diesen erfreulichen Sprung unter anderem mit einem deutlichen Anstieg des Bruttoinlandsprodukts, einer hohen Arbeitsproduktivität und der geringsten Quote bei Firmeninsolvenzen. Die Wissenschaftler kommen zu dem Ergebnis, dass die „ökonomische Mauer“ inzwischen mitten durch den Osten verläuft, zwischen den stärkeren Ländern im Süden mit Sachsen und Thüringen und den schwächeren im Norden. Schwarzmalerei ist deshalb nicht angebracht; wir haben eine Lebensqualität erreicht, von der die Allermeisten zu DDRZeiten nicht einmal zu träumen wagten. Gemessen am realen Bruttoinlandsprodukt ist der Lebensstan
dard in den jungen Ländern - ohne Berlin - zwischen 1991 und 2004 um 70 Prozent gestiegen (KfW-Studie aus dem Oktober 2005).
Meine sehr verehrten Damen und Herren, gleichwohl besteht kein Anlass zur Selbstzufriedenheit. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist nach wie vor unbefriedigend und viele Menschen machen sich deshalb zu Recht Sorgen. Im Rückblick wird deutlich, am 9. November 1989, der den Weg zur staatlichen Wiedervereinigung ebnete, herrschten nicht zuletzt im Westen falsche Vorstellungen vom wahren Zustand der DDR. Außerdem gab es allzu euphorische Erwartungen über das Zusammenwachsen, über Geschwindigkeit und Folgen des Transformationsprozesses.
Nicht Wenige sind enttäuscht oder ernüchtert, und zwar auf beiden Seiten. Ja, es gibt sogar das törichte Gerede, die Mauer müsse wieder her. Der Schriftsteller Lutz Rathenow stellt dazu trocken und durchaus süffisant fest: „Den Wiederaufbau der Mauer kann man sich als Nötigung zur stärkeren Wahrnahme eigener Probleme umso leichter herbeiwünschen, je weniger er droht. Ein so gigantisches Bauvorhaben wäre heute schon finanziell nicht mehr planbar, höchstens als EU-Maßnahme.“ Wie lässt sich diese Stimmungslage Einzelner erklären? Scheinbar einfache monokausale Erklärungsversuche sind wenig hilfreich. Wir haben es, so meine ich, mit einem regelrechten Ursachengeflecht zu tun.
„Tickt der Osten anders?“, fragt der Jenaer Politikwissenschaftler Torsten Oppelland und antwortet mit einem wissenschaftlich abgewogenen „Ja und Nein“. Ja - weil es bis 1989 und darüber hinaus eine - so wörtlich - „unterschiedliche Erfahrungswelt in Ost und West“ gegeben habe, die Spuren hinterlassen habe und nachwirke; im Machtbereich der SED eine Diktatur, die auf Nichtanpassung aggressiv und repressiv reagierte, aber dem so genannten Normalbürger ein hohes Maß an Sicherheit bot; und jenseits der Mauer ein Prozess der - wörtlich - „Amerikanisierung und Verwestlichung“. Nein - weil es die in den jungen Ländern vorherrschenden Einstellungsmuster auch im Westen gibt. Die Annahme nämlich, hauptsächlich der Staat, nicht das Individuum sei für fast alle Bereiche des Lebens verantwortlich.
Ein weiterer Grund, der enttäuschte Erwartungen verständlicher macht: Es wurden unter enormem Zeitdruck westdeutsche Institutionen, Organisationen und Verfahren quasi eins zu eins in den Osten übertragen, obwohl sie bereits damals stark reformbedürftig waren. Das wollte in den alten Ländern aber kaum jemand hören und in den jungen Ländern gab es die falsche Vorstellung, mit der DMark und dem importierten Gesellschafts- und Wirtschaftssystem der alten Bundesrepublik könne
Bundespräsident Köhler hat es in seiner Rede zum 15. Jahrestag der deutschen Einheit gesagt: „Zur Ehrlichkeit gehört, den Menschen zu sagen, dass nicht überall in Deutschland die gleichen Lebensbedingungen geschaffen werden können.“ In der Tat, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse, von der das Grundgesetz spricht, ist nicht zu verwechseln mit Gleichheit. Landsmanschaftliche, regionale und auch zum Teil wirtschaftliche und soziale Unterschiede hat es in Deutschland immer gegeben und sie wird es auch in Zukunft geben. Es sind doch gerade diese Unterschiede, die den Wert, die Stärke und Vielfalt des föderal strukturierten Bundesstaats ausmachen und wir brauchen den Mut zu noch mehr Gestaltungs- und damit Wettbewerbsföderalismus. Es ist sicher gut, dass wir, befreit von Illusionen, die Probleme und Herausforderungen des wiedervereinigten Deutschlands klar benennen und gemeinsam anpacken. Da sind die unerträglich hohe Arbeitslosigkeit, die im Osten der Republik immer noch mehr als doppelt so hoch ist, wie im Westen, die horrende Staatsverschuldung auf Kosten nachfolgender Generationen und der drohende Kollaps der sozialen Sicherungssysteme und der dramatische demografische Wandel.
Der klare, unverfälschte Blick ergibt sich aber manchmal erst durch die Sicht von außen aus einiger Distanz. Eine Budapester Tageszeitung, die „Magyar Hirlap“, vom 21. September 2005, kommentierte den Ausgang der Bundestagswahl mit folgenden Worten: „Deutschland ist das Land der abstrakten Reformsehnsüchte. Im allgemeinen ist jeder für Reformen, nur eben im konkreten Fall nicht.“ Sicher eine unbequeme Kritik, aber, so meine ich, durchaus berechtigt. Bei der Lösung der komplexen Problemfelder kommt es also darauf an, die Sorgen der Menschen ernst zu nehmen, besonders aber die Existenzängste derjenigen, die keine Arbeit haben oder um die Sicherheit ihres Arbeitsplatzes fürchten. Wir dürfen deshalb aber als Politik nicht feige reagieren und mutlos sein oder nach dem Mund reden.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, dies gilt umso mehr, als die Ängste in der deutschen Bevölkerung zunehmen, wie Studien belegen. Es mag ja sein, dass die Deutschen dafür besonders empfänglich sind, aber wir dürfen diese Ängste nicht kultivieren. Angst ist ein schlechter Ratgeber, denn, so sagt der Luxemburger Ökonom und Philosoph Guy Kirsch, in einem kürzlich erschienenen Beitrag: „Ein gezieltes und konstruktives Handeln ist dem Verängstigten unmöglich.“ Wer verängstigt sei, der flüchte vor allem und jedem, reagiere aggressiv oder erstarre. Kirsch begründet diese, wie er sagt, „Bewegungsunfähigkeit“ mit einer
„undefinierten Angst der Deutschen“ als „Folge eines Ordnungsrahmens, der die Suche und das Angehen von konkreten Gefahren und Herausforderungen erschwert, gar unmöglich macht.“ Mit anderen Worten: Es ist die mangelnde Bewegungsbereitschaft, die Folge einer zunehmenden, zum Teil jahrzehntelang gewachsenen Bevormundung, die den Menschen erst die Fähigkeit und schließlich auch den Willen nimmt, ihr Leben in Freiheit und eigener Verantwortung zu führen. Wer aber mit den Ängsten der Bevölkerung spielt und diese sogar noch schürt, wer unfinanzierbare Versprechungen macht und so tut, als ob Deutschland ohne Reformen aus der Krise geführt werden könne, der handelt verantwortungslos und spielt den Gegnern der Demokratie in die Hände.
Zu einer verzagten Ängstlichkeit besteht auch gar kein Anlass! Was anderswo bei vielen unserer europäischen Nachbarn durch Zupacken gelingt, was die Nachkriegsgeneration in Deutschland unter ungleich schwierigeren Bedingungen geschafft hat, das können wir heute auch schaffen mit Mut und Zuversicht! Aber wie gewinnt man die Zweifler und Skeptiker für Demokratie? Was können, was müssen wir tun, damit aus potenziellen Gegnern und unzufriedenen Demokraten zufriedene und überzeugte Anhänger der Demokratie werden? Die Bürgerinnen und Bürger in den jungen Ländern, die bei der letzten Bundestagswahl Protestparteien an den Rändern gewählt haben, verbindet nach Ansicht des Jenaer Parteienforschers Oppelland ein ausgeprägtes Bedürfnis nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit. Soziale Gerechtigkeit, verstanden als Gleichheit, sei in der Bevölkerung Ostdeutschlands stark verwurzelt.
Ich bezweifle, dass wir allein mit einer abstrakten Wertedebatte diese Menschen erreichen, so notwendig diese Diskussion auch ist. Was vor allem zählt, worauf es in erster Linie jetzt ankommt, sind Arbeitsplätze! Das heißt: individuell positive Demokratieerfahrung über konkrete Partizipation und Erfolgserfahrung. Und erlauben Sie mir die Bemerkung: Das war nach 1945 - nach Ende des Zweiten Weltkriegs - nicht anders. Mit der Sozialen Marktwirtschaft Ludwig Erhards wuchsen materieller Wohlstand und soziale Sicherheit und damit war die Akzeptanz der westlichen Demokratie verbunden. Das heißt, die politische Kultur Westdeutschlands war bis Ende der 50er-Jahre - also 15 Jahre nach Niederlage und Befreiung vom Nationalsozialismus durch die westlichen Aliierten - gekennzeichnet durch eine Untertanenmentalität, die sich über Jahrhunderte herausgebildet hatte. „Die alten deutschen Tugenden wie Gehorsam und Unterordnung fanden größere Zustimmung als die demokratischen wie Selbstständigkeit und freier Wille“, schreiben die Soziologen Martin und Sylvia Greiffenhagen, die sich dabei auf
Obrigkeitsstaatliche Traditionen haben - so das Ehepaar Greiffenhagen - in der DDR nicht nur fortgelebt, „sondern wurden durch die sozialistische Staatsbürokratie und SED-Herrschaft sogar noch verstärkt.“ Mitte der 50er-Jahre gingen die Politikwissenschaftler Almond und Verba davon aus, dass es rund 100 Jahre dauern werde, bevor die Westdeutschen zuverlässige Demokraten würden. Glücklicherweise haben sich die beiden Amerikaner in diesem Punkt geirrt. Ich bin zuversichtlich, dass wir auch in den jungen Ländern den Prozess verkürzen können, der zur Entwicklung einer demokratischen Bürgerkultur dringend notwendig ist. Die Erziehungsinhalte, die während der zwölfjährigen Herrschaft der NSDAP sowie in den 43 Jahren der SED galten, aber auch die noch älteren obrigkeitsstaatlichen Traditionen der Kaiserzeit - sie alle wirken leider immer noch nach!
Imre Kertész, der gleich zwei Diktaturen erlebt und erlitten hat, schreibt in seinem „Roman eines Schicksallosen“: „Wenn es ein Schicksal gibt, dann ist Freiheit nicht möglich. Wenn es aber die Freiheit gibt, dann gibt es kein Schicksal. Das heißt also, wir selbst sind das Schicksal.“ Wir haben vor 16 Jahren begonnen, die Erfahrung zu machen, wie viel Kraft im freien Denken steckt. Wir hatten den Mut zur Veränderung. Die friedliche Revolution hat gezeigt, dass ein totalitäres System der Freiheit nicht standhalten kann. Freiheit setzt Kräfte frei im Privaten, in der Gesellschaft und auch in der Wirtschaft. Das ist unsere Erfahrung, die sollten wir heute einbringen für den Reformprozess in ganz Deutschland.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Thüringen-Monitor 2005, den wir heute vorstellen, zeigt den Weg, den die Thüringerinnen und Thüringer in den letzten 15 Jahren gegangen sind. Er befasst sich mit wesentlichen Aspekten der politischen Kultur in Thüringen, insbesondere mit den politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen seit 1990. Gerade die Zusammenhänge zwischen den Positionen der Thüringerinnen und Thüringer zur Einheit und ihre Einstellung zur Demokratie werden deutlich. Die Basis bildet wie in den Vorjahren eine wissenschaftliche Studie der Universität Jena, in der die Ergebnisse einer Telefonbefragung von Infratest dimap zwischen dem 20. Juni und dem 3. Juli 2005 unter 1.000 wahlberechtigten Thüringerinnen und Thüringern ausgewertet wurden. Ich danke dem Forscherteam für seine umfangreiche Arbeit - ein gelungener Beitrag zum besseren Verständnis der politischen Kultur im Freistaat Thüringen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei den Einstellungen und Empfindungen zur Herstellung der staatlichen Einheit überwiegen die positiven Be
urteilungen sehr deutlich. Insgesamt ziehen 82 Prozent die Vereinigung beider deutschen Staaten einem Weiterbestehen der DDR vor und 71 Prozent empfinden die Beendigung des SED-Regimes als Befreiung. Befragte mit niedrigem Bildungsabschluss sowie finanziell schwächer gestellte Personen haben die meisten Probleme mit der Wiedervereinigung. 22 Prozent der Befragten, die ihre wirtschaftliche Situation als weniger gut oder schlecht bewerten, sind der Meinung, dass es besser wäre, wenn es eine eigenständige DDR geben würde. Das glauben auch 19 Prozent der Frauen, 10 Prozent der Männer, 18 Prozent der Thüringerinnen und Thüringer mit Hauptschulabschluss bzw. mittlerer Reife und 8 Prozent der Abiturienten - eine bemerkenswerte Differenzierung.
Über die konkrete Gestaltung der Einheit gibt es unterschiedliche Meinungen. 54 Prozent aller Thüringerinnen und Thüringer sehen für sich persönlich mehr Vor- als Nachteile. Besonders erfreulich ist, dass 63 Prozent der 18- bis 24-Jährigen und sogar 66 Prozent der 25- bis 34-Jährigen meinen, dass für sie persönlich die Vorteile der Vereinigung überwiegen. Aber nach wie vor hält sich die Mär, dass der Sozialismus als Idee gar nicht so schlecht sei. Obwohl diese Ideologie auf deutschem Boden und anderswo grundsätzlich gescheitert ist, hält fast ein Drittel der Befragten den Sozialismus immer noch für die überlegene Staatsidee. 23 Prozent der Befragten wollen sogar zur sozialistischen Ordnung zurückkehren und das sind meines Erachtens noch zu viele.
In der Regierungserklärung zur Vorstellung des letztjährigen Thüringen-Monitors habe ich gesagt: „Bei der Lösung der aktuellen Probleme helfen uns ostalgisch verklärte Rückblicke auf ein System, das die Lebenschancen vieler Menschen beeinträchtigt oder gar zerstört hat, nicht weiter.“ Dennoch muss man dies verstehen. Verklärung ist aber kein Ostphänomen; es ist eine menschliche Eigenschaft, die überall anzutreffen ist. Schlechte Erfahrungen in der Vergangenheit treten dabei in den Hintergrund und man erinnert sich an die schönen Seiten. Dies macht auch ein Vergleich mit früheren Studien deutlich, wenn heute mehr Thüringer die deutsche Einheit skeptisch bewerten. Die Freude über die überwundene Teilung - mehr Vorteile als Nachteile - wird getrübt durch die Sorge über die Probleme, die mit dem anhaltenden Transformationsprozess verbunden sind. Zwar wird die Bundesrepublik Deutschland insgesamt deutlich besser bewertet als die DDR, sowohl aktuell als auch in der Erinnerung an das Jahr 1990, aber die Forscher stellen auch fest, dass das DDR-Bild im Rückblick - so wörtlich - „bemerkenswert aufgehellt“ erscheint, gemessen an den tatsächlichen Protesten und Zuständen zur Wendezeit. Nur 30 Prozent der Befragten sagen heute, sie hätten die DDR 1990 negativ beurteilt. Und gerade 2 Prozent mehr, also
32 Prozent, beurteilen die DDR heute aus jetziger Sicht negativ. Dass eine positive Einstellung zur DDR vor allem unter den Älteren anzutreffen ist, kann nicht überraschen. Denn, so sagen die Forscher: „Je länger der Lebensabschnitt ist, der in der DDR verbracht wurde, umso schwerer fällt es, dieser Zeit mehr schlechte als gute Seiten abzugewinnen.“ Die Wissenschaftler erklären diesen auffällig verklärten Blick damit, dass „die Befragten faktisch im Rückblick ihr eigenes Leben in der DDR beurteilen“, weniger also das politische System. Dies ist aber zugleich diejenige Gruppe, die sich zu 89 Prozent über die Wiedervereinigung freut - ein widersprüchliches Ergebnis. Wir benötigen also beides: Kritik und Verständnis.
Sowohl die gezielte Aufklärung im Schulunterricht, durch Stiftungen und Gedenkstätten über das Unrecht des SED-Regimes, das nicht verdrängt werden darf, die Vermittlung historischer Kenntnisse über Ausmaß und Folgen der Unfreiheit, aber ebenso wichtig ist es, die individuellen Lebensleistungen stärker anzuerkennen. Die individuellen Lebensentwürfe der Menschen zu respektieren, die weder zu den Tätern zählten noch sich als Opfer gesehen haben, die aber unter den Bedingungen einer Diktatur leben mussten, ist eine wesentliche Voraussetzung für gemeinsame Kenntnis und ein gemeinsames Verständnis.
Die Ergebnisse der Studie zeigen einmal mehr, dass wir viel stärker als bisher unterscheiden müssen zwischen dem System und der persönlichen Situation der Menschen. Zu den Lebensbereichen, die von der Mehrheit der Befragten im Rückblick als sehr positiv bewertet werden, zählen das DDR-Bildungswesen, die Gesundheitsversorgung und die Entwicklungschancen von Kindern. Mir ist wichtig, dass wir heute ein Bildungssystem haben, das nicht mehr indoktriniert, dass Kinder individuell gefördert werden, dass das Elternrecht gestärkt wurde und man den Menschen heute mehr zutraut und vertraut, als dies früher der Fall war.
Zum Gesundheitssystem möchte ich nur anfügen: Auch wenn das aktuelle Krankenversicherungssystem Mängel hat und unbedingt reformiert werden muss, die Gesundheitsversorgung in Thüringen hat sich in den letzten 15 Jahren vorbildlich entwickelt.
Der größte Einflussfaktor liegt - so die Wissenschaftler - in der Beurteilung der eigenen finanziellen Situation. Dagegen spielt die Wahrnehmung der allgemeinen wirtschaftlichen Lage eine untergeordnete Rolle, die im Vergleich zu 1990 von 53 Prozent der
Befragten als etwas bzw. viel besser sogar beurteilt wird. Ein überraschend niedriger Wert, wenn man bedenkt, wie marode die DDR-Planwirtschaft war und wie viel seit 1990 aufgebaut worden ist. Entscheidend ist die finanzielle Situation der Thüringerinnen und Thüringer, die sich nach eigener Wahrnehmung im Vergleich zu 2004 deutlich verschlechtert hat. Der Rückgang um 12 Prozent im Vergleich zu 2004 spiegelt den enger gewordenen finanziellen Spielraum wider. Nur noch knapp die Hälfte beurteilt ihre persönliche Situation als gut bzw. sehr gut. Fast 60 Prozent der Befragten in schlechter finanzieller Lage verbinden mit der Vereinigung demzufolge mehr Nachteile, während es umgekehrt bei einem zufriedenstellenden Kontostand nur 10 Prozent sind, die Nachteile sehen. Der Maßstab, der hier offensichtlich zur Bewertung der deutschen Einheit angelegt wird, bemisst sich also nach Euro und Cent. Eine, wie ich finde, bedenkliche Einstellung, die wir nicht einfach ignorieren dürfen. Die Studie zeigt: Die deutsche Einheit, der Sieg der Freiheit, wird vor allem unter materiellen Gesichtspunkten bewertet, und zwar wie sie individuell erlebt werden. Nicht das Maß der bürgerlichen Freiheiten, der Rechtsstaat und die Demokratie, die mit der friedlichen Revolution von 1989 und dem Beitritt zur Bundesrepublik gewonnen wurden, entscheiden letztlich über die Bewertung. Einheitsbefürworter unterscheiden sich von den Einheitsgegnern im Wesentlichen durch zwei Aspekte:
1. die Verfügung über finanzielle Mittel, mit denen Verwerfungen im Transformationsprozess kompensiert werden können und
2. durch den vergleichsweise geringeren Verlust von Vorteilen, die die Einheitsgegner zu DDR-Zeiten besaßen.
Problematisch ist auch das weit verbreitete Gefühl der sozialen Desorientierung, die Empfindung, man sei mit den gesellschaftlichen Veränderungen überfordert. Die Forscher verwenden dafür den Begriff der Anomie. Die Aussage - so wörtlich - „Heute ändert sich alles so schnell, dass man nicht weiß, woran man sich halten soll“ bejahen fast 80 Prozent der befragten Thüringerinnen und Thüringer. Bemerkenswert ist die Feststellung, dass sich unter den sozial Desorientierten sowie unter den Befragten mit autoritärer Persönlichkeitsstruktur jeweils dreimal so viele Einheitsgegner befinden wie in den Kontrastgruppen. Selbst nach 15 Jahren staatlicher Einheit meinen noch fast 60 Prozent der Befragten, dass sie durch Westdeutsche abwertend behandelt würden, ein Fünftel stimmt dieser Aussage ohne Vorbehalte zu. Dabei handelt es sich aber vorwiegend um Vorurteile und Unkenntnis, die es nach wie vor gibt, in West und in Ost, denn bei denjenigen Thüringerinnen und Thüringern, die wöchentlich Kontakt mit
ihren westdeutschen Landsleuten haben, glaubt dies nur eine - wenn auch starke - Minderheit von 43 Prozent. Dort, wo es überhaupt keine Verbindungen zu Menschen aus den alten Ländern gibt, fühlen sich erstaunlicherweise über 70 Prozent diskriminiert.