Protokoll der Sitzung vom 13.07.2006

dass die von Herrn Kuschel gelieferten Informationen in eigenständige weitere Maßnahmen des MfS einflossen, z.B. Überprüfung und operative Personenkontrollen. Eine konkrete Kenntnis der Verwendung im Einzelfall und eine besondere Schädigungsabsicht ist entsprechend der überzeugenden Darlegung der BStU seitens des IM nicht erforderlich. Insoweit kommt es auch nicht darauf an, dass Herr Kuschel der Auffassung ist, er habe niemandem geschadet. Die Informationsweitergabe war daher eine Tätigkeit für das MfS zum Schaden anderer Bürger.

Auch die von Herrn Kuschel in den Fällen der übersiedlungswilligen Familie und dem übersiedlungswilligen Lehrerehepaar vorgetragenen Hinter- und Beweggründe rechtfertigen die heimliche Weitergabe von Informationen aus der Privatsphäre an das MfS nicht. Selbst wenn Herr Kuschel tatsächlich in der Absicht gehandelt hätte, auch den Interessen der Betroffenen gerecht zu werden - dies ist für das Erweiterte Gremium aufgrund der beschränkten Beweismittel nicht aufzuklären, in den BStU-Unterlagen findet sich hierfür kein Anhaltspunkt -, würde das den schädlichen Charakter der weitergegebenen Informationen für die Betroffenen nicht aufheben.

Dafür ist entscheidend, dass das MfS die Informationen eines IM zu eigenen und vom IM grundsätzlich nicht zu steuernden Zwecken und Maßnahmen einsetzte. Die BStU hat dies überzeugend erläutert. Im Rahmen der „Zurückdrängung“ von Übersiedlungsersuchenden bestand zwischen staatlichen und gesellschaftlichen Organen, Offiziellen und Inoffiziellen ein umfassendes und feinmaschiges Netz der Zusammenarbeit und des arbeitsteiligen Zusammenwirkens. Die Mitwirkung der IM des MfS hatte dabei eine eigenständige und wichtige Bedeutung. Dies ergibt sich aus den entsprechenden Dienstanweisungen, in denen festgelegt war, durch wen welche Maßnahmen im Vorfeld offizieller rechtlicher Verfahren mit dem Ziel vorbeugender Verhinderung von Übersiedlungsanträgen zu ergreifen waren.

Gemäß MfS-Dienstanweisung Nr. 2/83 vom 13.10.1983, Ziffer 3, hatten die Leiter der Diensteinheiten des MfS „durch zielgerichteten Einsatz und allseitige Nutzung der Möglichkeiten der IM sowie durch Nutzung aller weiteren geeigneten operativen Kräfte, Mittel und Methoden, die zur gründlichen Einschätzung der Person und ihrer Übersiedlungsabsichten sowie zur Festlegung weiterführender Maßnahmen erforderlichen Informationen zu erarbeiten“. So genannte operativ bedeutsame Personen wurden gemäß Ziffer 4.3 in operativen Vorgängen „bearbeitet“ und unter operative Personenkontrolle gestellt. Diese hatte vorrangig mit dem Ziel zu erfolgen, „die Abstandnahme vom Versuch der Übersiedlung zu erreichen und ein feindlich-negatives Wirksamwerden der betreffenden Personen vorbeugend zu

verhindern“.

Gemäß Ziffer 4.5 waren dafür in erster Linie geeignete IM einzusetzen und „Maßnahmen wie Vorladungen, Befragungen, Gespräche, Ermahnungen, schriftliche Belehrungen, Vortäuschung einer Zusammenarbeit bestimmter feindlich-negativer Kräfte mit dem MfS u.a. ideenreich, ohne Schematismus... zweckentsprechend durchzuführen“. Gemäß Ziffer 7.2 waren bereits übergesiedelte Personen „in ihren ehemaligen Arbeits-, Wohn- und Freizeitbereichen zu diskreditieren“.

Allgemein waren die Voraussetzungen und Ziele für die Arbeit mit IM in der MfS-Richtlinie Nr. 1/79 vom 08.12.1979 detailliert vorgegeben. Ziffer 2.1 dieser Richtlinie belegt, dass die berufliche Funktion von Herrn Kuschel als stellvertretender Bürgermeister für Inneres eine wesentliche Voraussetzung für seine Gewinnung als IM war, da er so die Maßnahmen des MfS in seiner beruflichen Funktion unterstützen konnte und das MfS Ansatzpunkte für eine bessere Überwachung von Übersiedlungsersuchenden, aber auch der Mitarbeiter in der Abteilung Inneres und dem Rat der Stadt erhielt.

Unter Berücksichtigung dieses komplexen Systems der Kontrolle und Überwachung mit der zentralen Bedeutung des inoffiziellen neben dem offiziellen Verwaltungshandeln kann der Einlassung von Herrn Kuschel nicht gefolgt werden, dass er lediglich formal IM gewesen sei, tatsächlich aber nur im Rahmen seiner dienstlichen Aufgaben solche Informationen geliefert habe, die für das MfS auch auf dem normalen Dienstweg zugänglich gewesen wären oder die Gegenstand offizieller Gremiensitzungen bzw. Beratungen waren. Darauf weist auch die BStU ausdrücklich hin: „… hat das MfS die durch inoffizielle Mitarbeiter erarbeiteten Informationen strikt von solchen getrennt, die auf offiziellen Wegen bekannt wurden. … Sofern es um solche offiziellen Kontakte ging, gab es … gar keine Veranlassung, Vorgänge einzuleiten, Erfassungen durchzuführen und Akten anzulegen. In vielen Fällen hat der Staatssicherheitsdienst versucht …, Personen, zu denen ein offizieller Kontakt bestand, … auch als inoffizielle Mitarbeiter zu gewinnen. Dann bestanden beide Verbindungsebenen nebeneinander und für die inoffizielle Zusammenarbeit wurden entsprechende Akten geführt.“ Zu entnehmen dem 3. Tätigkeitsbericht der BStU von 1997 auf Seite 20.

Zur Beurteilung der Einlassung von Herrn Kuschel war es erforderlich, auch die für die Behandlung von Übersiedlungsersuchenden geltenden Verwaltungsvorschriften heranzuziehen. Mit seinem offiziellen Verwaltungshandeln hat er selbst die BStU-Sachverhalte begründet und erläutert. Dies ändert nichts daran, dass Gegenstand des Überprüfungsverfahrens für

das Erweiterte Gremium ausschließlich die in den BStU-Unterlagen enthaltenen Berichte im Rahmen der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS darstellen. Die diesbezüglichen Bedenken des Abgeordneten Kuschel sind daher unbegründet.

Dass die offizielle und inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS strikt zu trennen ist und auch getrennt werden kann, folgt daraus, dass die inoffizielle Tätigkeit für das MfS auf einer anderen, auch rechtlich unterschiedlichen Grundlage als die offizielle Tätigkeit stattfand und anderen Zwecken diente. Dies ergibt sich klar aus der unterschriebenen Verpflichtungserklärung und der MfS-Richtlinie Nr. 1/79. Kennzeichen der IM-Tätigkeit waren die heimliche Sammlung und Weitergabe von Informationen sowie die ebenfalls heimliche Steuerung der Erfüllung offizieller beruflicher Aufgaben Herrn Kuschels durch das MfS. Damit eröffnete er dem MfS weitaus größere Handlungsmöglichkeiten und Spielräume als bei einer offenen Zusammenarbeit auf dem normalen Dienstweg. Die Betroffenen, sowohl Übersiedlungswillige wie Mitarbeiter des eigenen Arbeitsumfelds, wurden so in erheblich höherem Maße als bei offener Verwaltungszusammenarbeit mit dem MfS eigener Verteidigungsmöglichkeiten beraubt und der Gefahr unkontrollierter nachteiliger Maßnahmen des MfS ausgesetzt. Deshalb kommt es nicht entscheidend darauf an, dass Herr Kuschel überwiegend Wissen weitergegeben hat, das er zuvor im Rahmen der ordnungsgemäßen Erfüllung seiner dienstlichen Verwaltungsaufgaben erlangt hatte, oder dass die Informationen sich auf Handlungen bezogen, die er im Rahmen seiner dienstlichen Zuständigkeiten und Befugnisse vorgenommen hat. Die inoffizielle Zusammenarbeit war formal und inhaltlich nicht die Fortsetzung offizieller dienstlicher Kontakte mit dem MfS mit anderen Mitteln. Eine inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS gehörte auch nach Aussagen der BStU nicht zu den dienstlichen Verpflichtungen eines Amtsträgers im Staatsapparat der DDR. Für eine Zwangslage von Herrn Kuschel, die ihn zu einer auch inoffiziellen Zusammenarbeit genötigt hätte, fehlt jeder Anhaltspunkt.

Auch die Tatsache, dass die meisten Treffen im Dienstzimmer von Herrn Kuschel stattfanden, macht die Gespräche nicht zu normalen offiziellen Kontakten mit dem MfS, die durchaus üblich waren. Niemand durfte von der inoffiziellen Verbindung zum MfS etwas wissen. Sie erfolgte unter strikter Konspiration. Das war für das MfS eine entscheidende Voraussetzung für den Erfolg der Zusammenarbeit, wie auch die so genannte erzieherische Maßnahme auf den Bruch der Konspiration durch Herrn Kuschel belegt wird, und sie wird von ihm auch nicht bestritten. Es sind keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die inoffizielle Zusammenarbeit mit dem MfS für sein Arbeitsumfeld eine Art „offenes Geheimnis“ war, wie

Herr Kuschel geltend macht. Dagegen spricht im Übrigen ausdrücklich seine schriftliche Rechtfertigung gegenüber seinem Führungsoffizier, die sonst nicht zu erklären wäre, und die Tatsache, dass bis auf diese Ausnahme Herr Kuschel die Konspiration offenbar einhielt. Das wird auch durch die Feststellung im Werbungsvorschlag bestätigt, wonach Herr Kuschel in der Vorlaufphase selbständig auf die Legendierung inoffizieller Treffen in seinem Dienstzimmer als angebliche Treffen im Rahmen der offiziellen Kontakte achtete.

Als ein weiterer Beleg dafür, dass die inoffizielle Zusammenarbeit klar von der hauptberuflichen Arbeit zu trennen war, ist schließlich die Prämie in Höhe von 200 Mark zu werten, die Herr Kuschel aus Anlass seines Wechsels nach Großbreitenbach erhalten und als Würdigung seiner inoffiziellen Tätigkeit angenommen hat. Dies wäre kaum zu erklären, wenn Herr Kuschel gegenüber dem MfS lediglich seine normalen Dienstpflichten erfüllt hätte, für die er ein offizielles Gehalt bezog.

Schließlich spricht auch die Qualität einiger der gelieferten Informationen gegen die von Herrn Kuschel geltend gemachte Übereinstimmung von offiziellem Verwaltungshandeln und inoffizieller Zusammenarbeit. So enthält der mit Decknamen unterzeichnete Bericht zu der übersiedlungswilligen Familie mit Hinweisen auf unterlassene Gartenpflege Informationen, die mit Sicherheit nicht zur Erfüllung dienstlicher Aufgaben eines stellvertretenden Bürgermeisters für Inneres gehörten.

Neben Informationen zu Übersiedlungswilligen hat Herr Kuschel auch in weiteren Fällen dem MfS personenbezogene Informationen geliefert, die den Betroffenen zum Schaden gereichen konnten. Dies betrifft z.B. die Beurteilung des Bürgermeisters der Stadt Ilmenau, von Arbeitsgruppenvorsitzenden, von Mitgliedern des Elferrates in Großbreitenbach und eines Mitarbeiters des Rates der Stadt. Ein besonders deutlicher Eingriff in die Privatsphäre ist die Weitergabe des Inhalts eines beim Pfarrer mitgehörten Telefonats. Die von Herrn Kuschel zu diesem Sachverhalt vorgetragenen Erläuterungen rechtfertigen die heimliche Weitergabe der erlangten Informationen an das MfS nicht.

Soweit Herr Kuschel geltend macht, die Aufzeichnungen seines Führungsoffiziers seien nicht objektiv und seien daher in ihrem Beweiswert zweifelhaft, kann dem nicht gefolgt werden. Zum Beweiswert der MfS-Akten hat die BStU überzeugend unter anderem Folgendes ausgeführt im Schreiben vom 19.01.2006 auf Seite 9 und im 3. Tätigkeitsberichts 1997, Seite 19/20 - ich zitiere:

„Es liegt in der Natur der Sache, dass die Glaubwürdigkeit der Akten regelmäßig von denen in Zweifel gezogen wird, zu deren Nachteil der Inhalt der Unterlagen verwendet werden soll. Dabei wird behauptet,... dass sie... nur offizielle Kontakte im Rahmen ihrer beruflichen Aufgaben gehabt hätten bzw. die MfS-Unterlagen ganz oder teilweise gefälscht seien. Regelmäßig können diese Einlassungen aufgrund der in mehrjähriger intensiver Recherchetätigkeit gesammelten Erfahrungen in zehntausenden Fällen durch den BStU als falsch und als Schutzbehauptung zurückgewiesen werden.“

Da Herr Kuschel selbst die meisten der zu den Unterlagen der BSTU enthaltenen Sachverhaltsangaben bestätigt hat, ist auch im Übrigen von der sachlichen Richtigkeit der Aufzeichnungen durch den Führungsoffizier auszugehen.

Die von dem Abgeordneten in seinen Stellungnahmen vorgetragenen Motive und Beweggründe seiner inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS werden vom Erweiterten Gremium nicht in Abrede gestellt, ändern jedoch nichts am Charakter seines Verhaltens für die Betroffenen und vermögen im Ergebnis eine Einstellung des Überprüfungsverfahrens gemäß den Kriterien des Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes nicht zu rechtfertigen.

3. Durch die heimliche Weitergabe personenbezogener Informationen im Rahmen einer regelmäßigen, auf Überzeugung beruhenden inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS wird Herr Kuschel nach gesicherter Überzeugung der überwiegenden Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder des Erweiterten Gremiums - unabhängig von schädlichen Auswirkungen auf den Betroffenen im Einzelfall - der notwendigen Vertrauenswürdigkeit für die Wahrnehmung eines repräsentativen Mandats in der parlamentarischen Demokratie nicht gerecht. Herr Kuschel repräsentiert als Abgeordneter sämtliche Wähler, nicht nur diejenigen, die ihn in den Landtag gewählt haben. Im Übrigen kann auch bezogen auf diese Wählergruppe dem Einwand nicht gefolgt werden, dass sie ihre Entscheidung in Kenntnis der MfS-Verstrickung von Herrn Kuschel getroffen hätten. Abgesehen davon, dass Art und Umfang der IM-Tätigkeit von Herrn Kuschel bislang nicht im Detail öffentlich bekanntgegeben worden sind, beruht eine Wahlentscheidung regelmäßig auf einem Bündel sehr unterschiedlicher Motive. Das erlaubt nicht den Schluss, die Wähler hätten mit ihrem Votum bereits die Parlamentswürdigkeit des Abgeordneten im Sinne des Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes zum Ausdruck gebracht. Das Volk, das Herr Kuschel in seiner Gesamtheit repräsentiert, besteht zudem auch aus den Opfern des MfS und aus Bürgern, die sich bewusst gegen eine Zusammenarbeit mit dem MfS entschieden und hierfür berufliche und persönliche Nachteile für sich und

ihre Familien in Kauf genommen haben. Unter Berücksichtigung der Nachteile, welche Betroffene und Opfer erlitten haben, und nach dem Selbstverständnis der verfassungsrechtlichen Stellung und der Aufgaben eines Parlaments in der rechtsstaatlichen Demokratie ist es mit der Würde des Parlaments nicht vereinbar, wenn ein Abgeordneter, der freiwillig als IM einen Beitrag zu operativen Maßnahmen des MfS gegen andere Bürger geleistet hat, nun diese Wähler mit repräsentiert. Dabei ist auch zu bedenken, dass Herr Kuschel sowohl vor wie nach der Wende für sich persönlich alle Möglichkeiten der Entfaltung und Entwicklung nutzen konnte und genutzt hat, während diejenigen, über die er berichtet hat, auch aufgrund der von ihm gelieferten Informationen diese Chancen nicht in demselben Maße hatten.

Besonderes Gewicht erhält die inoffizielle Zusammenarbeit, die Herr Kuschel selbst als ein zumindest moralisches Versagen bewertet, dadurch, dass sie freiwillig und ohne Zwangslage eingegangen, zu keiner Zeit in Frage gestellt und erst durch die Auflösung des MfS beendet wurde. Der letzte Treff fand am 02.10.1989 statt. Herr Kuschel hat die Zusammenarbeit auch nicht mit seinem Wechsel als Bürgermeister nach Großbreitenbach beendet oder qualitativ entscheidend verändert. Selbst wenn er - was das Erweiterte Gremium entsprechend seiner Stellungnahme unterstellt - nach Großbreitenbach unter Inkaufnahme eines „Karriereknicks“ auch deshalb gewechselt ist, weil er die Politik gegenüber Übersiedlungswilligen innerlich ablehnte, so hat er auch in seiner neuen Funktion und vom MfS mit einer veränderten „Einsatzrichtung“ versehen weiterhin nicht nur allgemeine Stimmungsberichte und Dienstinformationen, sondern auch personenbezogene Angaben und Bewertungen geliefert.

4. Zugunsten von Herrn Kuschel sind die Zeitumstände berücksichtigt worden. So spielen die Sozialisation in der DDR und die besondere innerdeutsche politische Situation ab Mitte der 80er-Jahre eine wichtige Rolle für Einstellungen, Prägungen und Verhaltensweisen, insbesondere für die Entwicklung des Rechts- bzw. Unrechtsbewusstseins. Herr Kuschel hat überzeugend dargelegt, dass er aus Idealismus gehandelt hat. Den von ihm geltend gemachten Umständen waren aber grundsätzlich alle Bürger, die in der ehemaligen DDR gelebt und gearbeitet haben, in gleicher Weise ausgesetzt. Dennoch hat nach Auskunft der BStU nur ca. 1 Prozent der DDR-Bevölkerung als IM mit dem MfS zusammengearbeitet. Es galt nach den Vorschriften für die Gewinnung und Führung inoffizieller Mitarbeiter das Prinzip der strikten Freiwilligkeit. Daher war es die eigene persönliche Entscheidung, durch Zusammenarbeit mit dem MfS einen zusätzlichen Beitrag zur Sicherheit, Ordnung und Stabilität des Staates zu leisten.

Darüber hinaus spricht für Herrn Kuschel, dass er sich heute ausdrücklich von seinen Einstellungen und Handlungsweisen distanziert, sie als Fehler erkannt, sich öffentlich zu seiner MfS-Verstrickung bekannt und sich dafür entschuldigt hat. Er hat sich zudem seit vielen Jahren auf kommunaler und auf Landesebene in der Demokratie engagiert und sich zur demokratischen Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland und des Freistaats Thüringen bekannt. Das Erweiterte Gremium hat keinen Zweifel daran, dass die von Herrn Kuschel zu seiner Entlastung vorgetragenen Argumente und Bewertungen seiner ehrlichen Überzeugung entsprechen.

Das Gebrauchmachen von demokratischen Rechten - hier der passiven Wählbarkeit und dem Zugang zum öffentlichen Dienst - allein ist für die überwiegende Mehrheit des Erweiterten Gremiums allerdings kein hinreichender Beleg für eine deutliche, überzeugende Distanz und Abkehr von früheren Einstellungen und Handlungsweisen. Hinzu kommen muss die angemessene Einordnung des eigenen Verhaltens, die Auseinandersetzung mit all seinen Facetten und ein Annehmen der damit verbundenen Verantwortlichkeit entsprechend der Entscheidung des demokratischen Gesetzgebers. Die Form und die rechtliche und moralische Qualität der inoffiziellen Zusammenarbeit von Herrn Kuschel mit dem MfS, seine persönliche und individuelle Verstrickung können durch das von ihm geltend gemachte Verhalten in der Demokratie nicht so weit abgemildert oder relativiert werden, dass nach den Kriterien des Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes und des Erweiterten Gremiums eine Einstellung des Verfahrens gerechtfertigt wäre.

5. Die Abwägung aller genannten be- und entlastenden Umstände ergibt daher für die überwiegende Mehrheit der stimmberechtigten Mitglieder des Erweiterten Gremiums, das auch im Vergleich zu anderen Fällen inoffizieller Zusammenarbeit, die das Erweiterte Gremium zu prüfen hatte, die Tätigkeit von Herrn Kuschel als „parlamentsunwürdig“ eingeordnet werden muss. Ausschlaggebend hierfür ist letztlich die freiwillige, bewusste und durch eine Verpflichtungserklärung ausdrücklich bestätigte Entscheidung für gerade diese von Heimlichkeit gekennzeichnete Art der Zusammenarbeit sowie die teilweise persönlichkeitsrechtsverletzende Qualität der gelieferten Informationen, die auch durch Art und Umfang der nachfolgenden „demokratischen Bewährung“ nicht relativiert wird. Die überwiegende Mehrheit des Erweiterten Gremiums hat dabei dem Umstand besondere Bedeutung zugemessen, dass Herr Kuschel, solange die DDR noch existierte, trotz seiner Bedenken an der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS festhielt. Eine verharmlosende Darstellung der IM-Tätigkeit von Herrn Kuschel als Normalität beruflicher Pflichterfüllung in der DDR wird we

der dem denunziatorischen Charakter der IM-Tätigkeit noch der Bedeutung des MfS und seines Zuträgernetzwerks für die diktatorische Rechts- und Staatspraxis der DDR gerecht.

Da das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz nur die Einstellung des Verfahrens oder die Feststellung der „Parlamentsunwürdigkeit“ zulässt, kann trotz aller - auch von Herrn Kuschel selbst vorgebrachten - entlastenden Umstände eine Einstellung des Verfahrens nicht erfolgen.

Zu den geltend gemachten verfahrensrechtlichen Bedenken:

Diese hält das Erweiterte Gremium für unbegründet. Das gilt zunächst für die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Überprüfungsverfahrens. Rechtsgrundlage für das im Wege der so genannten Kollegial-Enquete durchgeführte Überprüfungsverfahren ist das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz. Ziele und Durchführung einschließlich der Verfahrensrechte des Betroffenen Abgeordneten sind durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Thüringer Verfassungsgerichtshofs verfassungsrechtlich abgedeckt. An das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz ist das Erweiterte Gremium bei der Durchführung der Einzelfallprüfung gebunden, so dass kein Anlass besteht, auf die hiergegen vorgebrachten Bedenken des Abgeordneten Kuschel und seiner Vertrauensperson im Einzelnen vertieft einzugehen.

Insbesondere wird durch das Überprüfungsverfahren die Gültigkeit der Wahlentscheidung nicht berührt, da die Einstufung der IM-Tätigkeit von Herrn Kuschel als „parlamentsunwürdig“ nicht die Aberkennung des Mandats zur Folge hat. Mit dieser vom Gesetz vorgegebenen Bewertung wird auch nicht festgestellt, dass Herr Kuschel „schwere Menschenrechtsverletzungen und strafwürdige Handlungen“ begangen hätte oder „unbelehrbar“ sei.

Entgegen der Auffassung des Abgeordneten sind mit der Entscheidung des Erweiterten Gremiums und der Bekanntgabe im Landtag auch keine sonstigen rechtserheblichen Sanktionen im Hinblick auf die weitere Ausübung des Mandats verbunden. Es wird insbesondere keine „Reaktion [des Abgeordneten], seiner Fraktion... und der Öffentlichkeit ausdrücklich erwartet“. Die Informations- sowie politisch-moralische Appellfunktion der vom Erweiterten Gremium getroffenen Feststellungen sind vom Gesetzgeber gewollt und kein unverhältnismäßiger Eingriff in den durch Artikel 53 Abs. 1 Thüringer Verfassung verbürgten Status des Abgeordneten.

Die verfahrensrechtlichen Mitwirkungs- und Einwirkungsmöglichkeiten des betroffenen Abgeordneten

sind über die Vorgaben des Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes hinaus in jedem Stadium des Verfahrens gewahrt worden. Jederzeit bestand ausreichend Gelegenheit zur Stellungnahme. Wenn Ausführungen des betroffenen Abgeordneten die Mehrheit des Gremiums teilweise nicht zu überzeugen oder in ihrer abschließend gebildeten Überzeugung nicht zu erschüttern vermochten oder wenn nach Auffassung des Abgeordneten nicht alle Einwände erschöpfend abgehandelt worden sind, stellt dies keinen Verfahrensmangel dar (vergleiche Bundesver- fassungsgericht 99, 19, 36). Das Erweiterte Gremium hat sich intensiv mit den mündlichen und schriftlichen Stellungnahmen des Abgeordneten auseinandergesetzt und seine Bewertung nicht ausschließlich auf die Unterlagen der BStU, sondern ebenso auf die Stellungnahmen des Abgeordneten und die eigene Lebens- und Berufserfahrung, auch in der DDR, gegründet. In seiner Überzeugungsbildung über Beweiskraft und Wesentlichkeit der einbezogenen Erkenntnisquellen ist das Erweiterte Gremium frei.

Entgegen der Auffassung des Abgeordneten liegt auch kein Verfahrensverstoß gegen § 5 Abs. 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz vor. In der Sitzung des Erweiterten Gremiums am 24.04.2006 wurde dem Abgeordneten nicht bereits die abschließende Entscheidung gemäß § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz mitgeteilt. Ihm wurde lediglich das vorläufige Ergebnis der Bewertung der bis dahin vorliegenden Erkenntnisse gemäß § 5 Abs. 2 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz eröffnet und die Gelegenheit zur Erörterung gegeben. Dies ergibt sich bereits aus dem Einladungsschreiben vom 11.04.2006. Auf Nachfragen wurde in der Sitzung noch einmal ausdrücklich dargestellt, dass es sich nicht um die abschließende Entscheidung gemäß § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz handele. Diese ist erst getroffen worden, als die dem Abgeordneten Kuschel in Erweiterung der Erörterungspflicht nach § 5 Abs. 2 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz angebotene und von ihm auch ausdrücklich erbetene weitere schriftliche Stellungnahme nach Einsichtnahme in das Wortprotokoll der Sitzung sowie darüber hinaus seine Stellungnahme vom 14.06. dieses Jahres vorlag. Die abschließende Entscheidung gemäß § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz wurde nach Beratung der Stellungnahmen und der schriftlichen Fassung des Entscheidungsentwurfs in der 5. Sitzung des Erweiterten Gremiums am 28.06. dieses Jahres getroffen.

Der Thüringer Verfassungsgerichtshof hat im Übrigen in seiner Entscheidung vom 29.05. dieses Jahres ausdrücklich festgestellt, dass ein Verfahrensverstoß gegen § 5 Abs. 2 in Verbindung mit § 6 Abs. 1 Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetz nicht vorliegt,

und die Rechtsauffassung des Abgeordneten Kuschel als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen.

Aus der Entscheidung des Landesverfassungsgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 11.07.1996, auf die sich die Vertrauensperson von Herrn Kuschel berufen hat, ist unabhängig von Unterschieden in der Rechts- und Sachlage kein Verfahrensmangel abzuleiten.

Bedenken im Hinblick auf eine Befangenheit von Mitgliedern des Erweiterten Gremiums sind rechtlich ebenfalls nicht begründet. Weder das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz noch die Verfahrensordnung sehen einen Ausschluss von der Beratung oder Abstimmung wegen Befangenheit vor. Der in § 3 Abs. 3 Seite 3 Abgeordnetenüberprüfungsgesetz enthaltene Verweis auf die Geschäftsordnung des Landtags begründet ebenfalls nicht die Anwendbarkeit anderweitiger Befangenheitsvorschriften.

Eine solche ist zunächst in § 14 Geschäftsordnung in Verbindung mit Nummer V der Verhaltensregeln für Abgeordnete bei Interessenkollisionen aufgrund unmittelbaren wirtschaftlichen Interesses enthalten. Eine solche Kollision wird durch Mitwirkung an einem parlamentarischen Antrag mit politischen Bewertungen und Forderungen nicht begründet.

Auch die Befangenheitsregelung gemäß § 83 Abs. 1 Geschäftsordnung in Verbindung mit § 7 Abs. 1 UAG greift nicht. Zunächst ist das Erweiterte Gremium kein Untersuchungsausschuss, so dass die Regelungen des Untersuchungsausschussgesetzes nicht gelten. Die dortige Befangenheitsregelung gilt zudem nur bei einer vorangegangenen oder aktuellen Beteiligung eines Abgeordneten an den zu untersuchenden Vorgängen.

Schließlich sind aufgrund der Eigenart des Einzelfallüberprüfungsverfahrens nach dem Abgeordnetenüberprüfungsgesetz auch die Befangenheitsregelungen für gerichtliche oder Verwaltungsverfahren nicht anwendbar. Das Verfahren der Abgeordnetenüberprüfung „wirkt nicht in die Rechtsordnung hinein, sondern verharrt im politischen Raum“ (Bun- desverfassungsgericht 99, 34).

Unabhängig davon stellt die Mitwirkung am Zustandekommen der in Drucksache 4/1324 enthaltenen Entschließung des Landtags die Unvoreingenommenheit von Mitgliedern des Erweiterten Gremiums nicht infrage. Die Entschließung verweist lediglich auf Artikel 96 der Verfassung des Freistaats Thüringen und das Abgeordnetenüberprüfungsgesetz und stuft diese Regelungen als nach wie vor aktuell und für die politische Auseinandersetzung mit der Vergangenheit bedeutsam ein. Sie geht nicht auf konkrete Überprüfungen einzelner Abgeordneter ein und

enthält somit auch keine „Vorverurteilung“ bestimmter Mitglieder des Landtags. Eine andere Sichtweise müsste zu dem abwegigen Ergebnis führen, dass auch alle Abgeordneten, die an der Verabschiedung des Thüringer Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes beteiligt waren, gegenüber einer inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS voreingenommen sind und daher nicht Mitglieder des Überprüfungsgremiums sein können.

Diese „Unbefangenheit“ der Entscheidung wird vom Gesetzgeber des Abgeordnetenüberprüfungsgesetzes durch die Verfahrensrechte des betroffenen Abgeordneten und die Abwägung sämtlicher relevanter Umstände sowie dadurch gewährleistet, dass die grundlegenden, insbesondere den betroffenen Abgeordneten belastenden Entscheidungen mit einer Mehrheit von zwei Dritteln der stimmberechtigten Mitglieder des Erweiterten Gremiums getroffen werden müssen.

Die insbesondere geltend gemachte Besorgnis der Befangenheit des Abgeordneten Schröter hat der Thüringer Verfassungsgerichtshof in seiner Entscheidung vom 29.05.2006 als offensichtlich unbegründet zurückgewiesen und dazu Folgendes ausgeführt - ich zitiere:

„Selbst wenn man die Maßstäbe an den Abgeordneten anlegen würde, die in einem gerichtlichen Verfahren an einen unbefangenen Richter anzulegen sind, könnte eine Befangenheit nicht festgestellt werden: Denn maßgeblich wäre dann, ob vom Standpunkt des betroffenen Beteiligten aus genügend objektive Gründe vorliegen, die in den Augen eines vernünftigen Betrachters geeignet sind, Misstrauen gegen die Unparteilichkeit des Richters zu erregen. Solche Gründe [sind]... hier weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht.... Die Forderung eines Abgeordneten, dass derzeit geltendes Verfassungsrecht zur Anwendung kommt, kann seine Befangenheit nicht begründen.“

Das Überprüfungsverfahren ist daher entsprechend den verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Vorgaben ordnungsgemäß durchgeführt worden. Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 des Thüringer Gesetzes zur Überprüfung von Abgeordneten kann der betroffene Abgeordnete dazu eine Erklärung abgeben. Eine Aussprache findet nicht statt. Abgeordneter Kuschel, möchten Sie eine Erklärung abgeben? Sie haben das Wort.

(Zwischenruf Abg. Fiedler, CDU: Der größte Lump im ganzen Land ist und bleibt der Denunziant.)