Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, zum 7. Mal findet diese Debatte zur Politischen Kultur in Thüringen statt. Ich finde, das ist eine gute und wichtige Tradition. Lassen Sie uns aus Verantwortung für unser Land darauf achten, dass wir diese Tradition nicht durch Rituale der politischen Auseinandersetzungen zerstören. Es ist gut und richtig, die Unterschiede deutlich zu machen, aber aus einem solchen Anlass ist es auch richtig, das herauszustellen, was uns eint. Vielleicht gelingt es uns, dass diese Debatte, die wir alle ein bis zwei Jahre führen, einen Beitrag für eine vorbildliche politische Kultur in diesem Haus leistet. Bei diesem Themenkreis ist das nach meiner festen Überzeugung auch ein wesentlicher Beitrag, um Antidemokraten aus diesem Parlament herauszuhalten,
die unseren freiheitlichen-demokratischen Rechtsstaat ablehnen. Gegner der Demokratie, denen wir gemeinsam mit den Worten Kurt Schumachers zurufen: „Keine Toleranz den Feinden der Freiheit.“
Bei allem politischen Streit in der Sache müssen wir uns der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger stellen. Die heutige Regierungserklärung zur Politischen Kultur in Thüringen fällt in eine Phase, in der Fragen der Zukunftssicherung ganz oben auf der politischen Agenda stehen. Es geht hier um mehr als um die sozialen Sicherungssysteme. Es geht um die soziale Sicherheit für jeden Einzelnen.
7,2 Mio. Deutsche können nach Berechnungen der Wirtschaftsauskunftei Creditreform ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen, vor allem die wachsende Zahl junger Schuldner ist besorgniserregend. Allein im Freistaat sind rund 100.000 Haushalte überschuldet. "Eine Unterschicht ist die unterste Schicht eines Ganzen, sie gehört dazu, ob die darüber liegenden Schichten das wollen oder nicht", las ich kürzlich im Kommentar einer überregionalen Tageszeitung. Es entspricht nicht der political correctness, wenn wir dieses Reizwort benutzen. Aber ich frage mich: Führt uns der Streit um die politisch korrekte Bezeichnung wirklich weiter? Tatsache ist, dass es sie gibt: „Menschen, die mit oder ohne ihre Schuld benachteiligt wurden, die weniger Arbeit oder Ausbildung haben als andere, die über weniger Geld, Chancen und Hoffnungen verfügen, die weniger besitzen, verdienen und häufig auch noch krank sind.“ Diese Definition, die von dem Journalisten Claus Jacobi stammt, macht deutlich: Es geht nicht nur um das Finanzielle, nicht nur um Transferleistungen des Staates, es geht auch um Bildungs- und Aufstiegschancen, um gerechte Teilhabe an der Gesellschaft. Sicher, soziale Unterschiede hat es zu allen Zeiten und in jeder Gesellschaft gegeben, aber sie sind größer geworden, genauso wie das Gefühl der Unsicherheit, das Risiko, in die so genannte Unterschicht abzurutschen. Wenn wir nicht gegensteuern, erwachsen daraus auch Gefahren für die Demokratie. Ich zitiere Professor Gerd Wagner vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung: „Immer mehr Arme und Arbeitslose verfallen in politische Apathie und werden damit anfällig für extreme Positionen.“
Auch die Folgen der Globalisierung verunsichern die Menschen. Viele fühlen sich durch die rasanten Veränderungen überfordert, die die weltweite Vernetzung mit sich bringt. In der Tat: Globalisierungsprozesse sind vielfältig, temporeich und komplex. Sie beschreiben eine Vielzahl ineinanderfließender wirtschaftlicher, politischer, gesellschaftlicher, kultureller und technischer Entwicklungen; sie bergen vor allem Chancen, erfordern aber auch einen Einstellungswechsel. Der Jenaer Philosophieprofessor Klaus-Michael Kodalle, der den Begriff des „Rasenden Stillstands“ neu prägte, formuliert dazu: „Die Planbarkeit eines festen Lebenslaufs ist binnen kürzester Zeit eine romantische Vorstellung geworden.“
Die Globalisierung ist ein Fakt. Wie wir die Chancen nutzen und mit den Risiken umgehen, das ist auch eine Herausforderung für verantwortungsvolle Politik.
Auch der demographische Wandel, die Veränderung der Bevölkerungsstruktur, fordert gerade ein kleines Flächenland mit einer vergleichsweise geringen Bevölkerungsdichte besonders heraus. Ich nenne zusätzliche Stichpunkte: Abwanderung qualifizierter und vorwiegend jüngerer Menschen, darunter überproportional viele junge Frauen, niedrige Geburtenrate und die glücklicherweise steigende Lebenserwartung.
Die Thüringer Landesregierung stellt sich diesen Herausforderungen, auf die der Staat allerdings nur bedingt Einfluss nehmen kann. In der gesellschaftlichen Debatte geht es um intelligente Strategien, um aktiv und erfolgreich Politik zu gestalten. Der Demographiebericht Thüringen, den das Thüringer Ministerium für Bau und Verkehr im Sommer vorgelegt hat, liefert eine umfassende Bestandsaufnahme, die sich als breite Diskussionsgrundlage versteht und Denkanstöße gibt. Was wir benötigen, ist ein permanenter Demographiecheck in sämtlichen Politikbereichen: Das betrifft zum Beispiel die Infrastruktur für eine schrumpfende und älter werdende Bevölkerung, den Bereich der Raumordnung und Landesplanung, den Städtebau, die Behördenstruktur, das Angebot an Kindertagesstätten, Schulen, Hochschulen, Forschungs- und Kultureinrichtungen. Mit anderen Worten: Alle Fachbereiche haben bei ihren Planungen Ausmaß und Folgen der Bevölkerungsentwicklung zu berücksichtigen.
Die Basis der heutigen Regierungserklärung bildet der 7. Thüringen-Monitor, eine wissenschaftliche Studie der Universität Jena, in der die Ergebnisse einer landesweiten Telefonbefragung von Infratest dimap zwischen dem 28. Juni und 18. Juli 2006 unter 1.000 wahlberechtigten Thüringern ausgewertet wurden.
Mein Dank gilt den Wissenschaftlern der FriedrichSchiller-Universität und den Demoskopen für ihre repräsentative Untersuchung. Sie haben erneut die politischen Einstellungen der Thüringerinnen und Thüringer auf den sozialwissenschaftlichen Prüfstand gestellt und schwerpunktmäßig eine „Landkarte“ gesellschaftlicher Herausforderungen aus Sicht der Thüringer Bevölkerung gezeichnet.
Diese „Landkarte“ ist in der Endphase eines euphorischen Fußball-WM-Sommers entstanden, der sich möglicherweise auch auf einige Teilergebnisse ausgewirkt hat. So nahm die Anzahl derjenigen, die sich
in erster Linie als Thüringer verstehen, um rund 10 Prozentpunkte ab. In gleichem Maße vergrößerte sich die Gruppe der Befragten, die ihre deutsche Identität betonen. Dauerhafte Veränderungen im Selbstverständnis der Bürgerinnen und Bürger sind nach Auffassung der Wissenschaftler von dem sympathischen Fußballrausch aber nicht zu erwarten. Nach wie vor sind die Thüringerinnen und Thüringer sehr heimatverbunden und verfügen über ein ausgeprägtes Landesbewusstsein.
Mehr als 80 Prozent der Befragten fühlen sich mit der Region und mit ihrem Wohnort stark oder sehr stark verbunden und fast zwei Drittel der Befragten meinen, dass Thüringen den Vergleich mit den alten Ländern nicht zu scheuen brauche.
Bemerkenswert ist die Haltung der Thüringer in der Debatte um eine Länderneugliederung, bei der Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt fusioniert werden sollen. Trotz vieler veröffentlichter Stimmen, die den Eindruck erwecken, eine Länderneugliederung sei die Lösung aller Probleme, sieht eine knappe relative Mehrheit der Befragten in einem Land Mitteldeutschland aus Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen mehr Nachteile als Vorteile. Bei der Beantwortung der Frage, ob man für oder gegen eine Länderfusion ist, spielt die Größe der Gemeinde, in der man lebt, eine gewichtige Rolle. Die Bewohner kleinerer Gemeinden - und Thüringen ist vor allem kleinteilig strukturiert - lehnen die Heiratspläne mit Sachsen und Sachsen-Anhalt überwiegend ab.
Ein weiterer Befund, der die Einstellung zur Länderneugliederung nach den verschiedenen Altersgruppen aufschlüsselt, verdient ebenfalls Beachtung. Insbesondere die Jüngeren bis 34 Jahre sind ganz eindeutig für die staatliche Eigenständigkeit Thüringens. Sie können sich darauf verlassen: Unser Land steht nicht zur Disposition! Grenzüberschreitende Kooperation ja, überall dort, wo es sinnvoll und angebracht ist. Wir können als Freistaat Thüringen genügend eigene Substanz, Entwicklungspotenzial und Erfolge vorweisen.
1. Unsere Arbeitsmarktpolitik trägt Früchte. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten steigt.
3. Der erfolgreiche Ausbildungspakt ist beispielgebend für die gemeinsamen Anstrengungen von Wirtschaft und Politik. Das Ausbildungsplatzangebot stieg zwischen 2003 und 2005 um 0,9 Prozentpunkte, während es im Schnitt aller Länder um 0,7 Prozentpunkte zurückging. In den vergangenen zwei Jahren hatten wir bundesweit die beste Vermittlungsquote. Lediglich 77 junge Leute konnten im Jahre 2004 nicht vermittelt werden, im vergangenen Jahr betrug die Zahl 162. Ein besonderer Dank an die Thüringer Wirtschaft und die Kammern, die engagiert für dieses Ziel gearbeitet haben.
4. Zahlreiche ökonomische und strukturelle Indikatoren belegen, Thüringen ist ein äußerst dynamisches Land. Im bundesweiten Dynamik-Ranking für den Zeitraum 2003 bis 2005 belegt Thüringen mittlerweile Platz 3 - noch vor Baden-Württemberg.
Diese Erfolge wollen wir verfestigen. Auch deshalb treten wir für die Eigenstaatlichkeit Thüringens ein. Das schafft Identität und auf dieses Heimatbewusstsein aller Thüringerinnen und Thüringer sind wir sehr stolz.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen. Weil wir Verantwortung für Thüringen tragen, nicht für einzelne Interessengruppen, sondern für den Freistaat als Ganzes, werden wir dieses schöne Land fit für die Zukunft machen. Das heißt auch, uns noch aufgeschlossener als bisher dem Strukturwandel zu stellen. Dass dieses Fitnesstraining anstrengend ist und Kraft kostet, ist mir bewusst. Aber ich sehe keine erfolgversprechende Alternative. Der laufende Doppelhaushalt ist ein wichtiger Baustein für unsere Konsolidierungsbemühungen! Rückläufige Solidarpaktmittel, aber vor allem die Auswirkungen der Demographie machten und machen weitere Strukturanpassungen notwendig. Auch die mit dem laufenden Doppelhaushalt begonnene Behördenstrukturreform ist ein wichtiger Baustein, mit dem wir auf die demographische Entwicklung reagieren. Darüber hinaus haben wir begonnen, Überkapazitäten beim Personal abzubauen. Ich erinnere an den beschlossenen Abbau von insgesamt 7.400 Stellen, das sind 13,5 Prozent der Personalquote der gesamten Landesverwaltung. Ich erinnere auch an die Anpassung im Bereich der Verbraucherzentralen, der Frauenhäuser und der Erwachsenenbildung.
Die finanziellen Spielräume des Landes sind eng. Der nächste Doppelhaushalt wird ein weiterer wichtiger Schritt der Landesregierung sein, die Nettoneuverschuldung auf null zurückzuführen. Die Landesre
Denn jedes Jahr, in dem wir neue Schulden aufnehmen müssen, ist ein Jahr zu viel. Deshalb haben wir in den zurückliegenden Jahren vielen in unserem Land viel zumuten müssen. Ich weiß, das ist nicht populär, aber wir sind verpflichtet, deutlich zu sparen, zum einen mit Blick auf nachfolgende Generationen und zum anderen auch mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Wir müssen Überkapazitäten anpassen, um Gestaltungsspielräume zurückzugewinnen. Unsere Konsolidierungsmaßnahmen zeigen: Wir sind auf einem guten Weg, aber längst noch nicht am Ziel. Wir wollen spätestens im Jahr 2012 einen ausgeglichenen Landesetat vorlegen. Im Übrigen hat die gescheiterte Klage Berlins vor dem Bundesverfassungsgericht unsere Sichtweise voll bestätigt - Haushaltskonsolidierung ist Ländersache!
Die Botschaft aus Karlsruhe ist klar und deutlich. Ich darf zitieren: „Eigenständigkeit und politische Autonomie bringen es mit sich, dass die Länder grundsätzlich für die haushaltspolitischen Folgen autonomer Entscheidungen selbst einzustehen und eine kurzfristige Finanzschwäche selbst zu überbrücken haben.“ Anders ausgedrückt: Wer unabhängig ist, hat bestimmte Rechte, aber auch Pflichten. Unabhängig zu sein, bedeutet selbständig entscheiden zu dürfen, aber auch seine Finanzen in Ordnung zu halten. Wer ständig über seine Verhältnisse lebt und sich maßlos verschuldet, darf nicht mehr mit der Unterstützung anderer rechnen. Mehr noch, der hoffnungslos überschuldete Staat riskiert langfristig seine Unabhängigkeit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, welchen Stellenwert misst die Bevölkerung den verschiedenen gesellschaftlichen Herausforderungen bei? Bei der Antwort auf diese Frage differenzieren die Wissenschaftler der Thüringen-Studie zwischen allgemeinem Problembewusstsein und persönlicher Betroffenheit. Die Studie belegt, dass gesellschaftliche Herausforderungen vor allem dann als problematisch erachtet werden, wenn die Befragten selbst davon betroffen sind. Persönliche Betroffenheit wirkt - so die Wissenschaftler - wie ein Katalysator. Aus Thüringer Perspektive nimmt die Massenarbeitslosigkeit - genau wie im nationalen Problemhaushalt - den ersten Rang ein. Ein Ergebnis, das angesichts von bundesweit rund 4 Mio. Arbeitslosen, davon rund 167.300 in Thüringen, nicht überrascht. Auch wenn die Zahlen für den Oktober 2006 erfreulicherweise erneut gesunken sind, ist die Gesamtlage auf dem
Arbeitsmarkt nach wie vor bedrückend. Ich bin davon überzeugt, dass es unsere Pflicht ist, alles zu tun, um die Verkrustungen auf dem Arbeitsmarkt aufzubrechen. Altkanzler Helmut Schmidt hat mehr Tapferkeit von den Politikern gefordert. Warum sollte in Deutschland nicht möglich sein, was uns andere europäische Länder mit Erfolg vorgemacht haben? Ich wehre mich deshalb auch entschieden gegen Denkverbote. Die bisherigen staatlichen Rezepte gegen die Massenarbeitslosigkeit haben nicht den erwünschten Erfolg gehabt. Es ist höchste Zeit, neue Lösungsansätze ins Spiel zu bringen. Der über europäische Parteigrenzen hinaus anerkannte Luxemburger Premierminister Jean-Claude Juncker brach dazu vor ein paar Tagen eine Lanze - ich zitiere: „Wir brauchen in Europa ein Grundeinkommen für alle.“ Das heißt, jeder, der in einem EU-Mitgliedsland wohnt, hat Anspruch auf ein Mindesteinkommen.
Eine breite öffentliche Grundsatzdebatte über eine soziale Grundsicherung - ich nenne es „Solidarisches Bürgergeld“ - wird nicht nur in Thüringen, nicht nur in Österreich, nicht nur in Deutschland geführt, sondern auch auf europäischer Ebene. Das macht Mut.
Die Abwanderung junger Menschen nehmen die Thüringer als zweitgrößtes Problem wahr, gefolgt von dem Wegbrechen der sozialen Sicherungssysteme, das unmittelbar mit der Massenarbeitslosigkeit und der Bevölkerungsentwicklung zusammenhängt. An letzter Stelle, und damit an der Position mit geringster Dringlichkeit, steht nach der Mehrheit der Befragten die Qualität der Schulen, die als kleine bis mittlere Herausforderung empfunden wird. Ich meine: Darin drückt sich eine besondere Wertschätzung der guten Bildungspolitik, aber auch der engagierten Arbeit der Lehrerinnen und Lehrer in den Thüringer Schulen aus.
Es spricht vieles dafür, dass die Abwanderung in Zukunft noch stärker problematisiert wird, vor allem von denjenigen, die beabsichtigen hierzubleiben. In dieser Frage gibt es übrigens keinen signifikanten Unterschied zwischen Stadt und Land, wie die Wissenschaftler betonen. Die Abwanderung aus den neuen Ländern ist nach wie vor hoch. Allein Thüringen verlor im letzten Jahr per saldo fast 12.000 Einwohner. Ich weiß, die meisten dieser Menschen würden gern in ihrer Heimat bleiben, wenn ihnen hier eine attraktive berufliche Perspektive geboten werden könnte. Arbeitsplätze, gut bezahlte Jobs sind das entscheidende Kriterium. Insgesamt würden etwa 10 Prozent der Befragten wahrscheinlich oder sicher
aus Thüringen fortziehen. Dagegen spricht sich die überwältigende Mehrheit - 89 Prozent - für ein Verbleiben in ihrer Heimat aus. Überproportional viele junge Leute unter 25 Jahren, die in Thüringen ausgebildet worden sind und über relativ gute Chancen auf dem Arbeitsmarkt verfügen, rechnen damit, aus Thüringen fortziehen zu müssen. Dabei geben in dieser Altersgruppe arbeitsbedingte Motive den Ausschlag. Deshalb müssen wir alles tun, jungen Menschen eine berufliche Perspektive in Thüringen zu bieten.