Protokoll der Sitzung vom 22.08.2014

Ich bedanke mich sehr herzlich bei Ihnen, dass Sie sich alle zu Ehren der Opfer von Ihren Plätzen erhoben haben. Vielen Dank.

In Thüringen - und das ist die bittere Wahrheit, mit der wir uns zu beschäftigen hatten - hat das Unheil seinen späteren Lauf genommen. Drei Landeskinder, die unter unseren Augen groß geworden sind, werden beschuldigt, eine rechtsextreme Terrorzelle gegründet zu haben, die zehn besonders kaltblütige und menschenverachtende Morde und mindestens zwei Anschläge sowie weitere schwere Straftaten begangen hat.

Die Taten blieben unaufgeklärt, bis die Tatwaffe der Morde 2011 in dem in Brand gesteckten Wohnhaus in Zwickau, ebenso wie ein Bekennervideo aufgefunden wurden, bis zum 4. November 2011, als auch die Waffe der ermordeten Polizistin Michèle

Kiesewetter im Wohnmobil in Eisenach-Stregda entdeckt worden ist.

Wir hatten und haben deshalb eine besondere Verantwortung. Unsere Aufgabe war es, uns dieser Verantwortung tatsächlich zu stellen. Warum ein Untersuchungsausschuss? Das war am Anfang nicht selbstverständlich. Es gab viele Expertenkommissionen, es gab auch Untersuchungsausschüsse auf anderen Ebenen. Die Strafverfolgungsbehörden haben sich endlich mit den richtigen Verdächtigen auseinandergesetzt. Trotzdem haben wir uns hier in Thüringen für einen Untersuchungsausschuss entschieden. Das war richtig und wichtig, denn bei der langen Zeit, bei der es um die Aufklärung möglicher Verfehlungen auch von Behörden geht, war es richtig, dass eine solche Aufklärung nicht nur intern stattfindet, sondern auch im Parlament, das heißt regierungsfern und - das ist auch besonders wichtig - öffentlich.

Unsere Arbeit war aufgrund des besonderen Arbeitsumfangs nicht nur eine große logistische und persönliche Herausforderung, die viele Unterstützer gebraucht hat. Ihnen allen sei ganz herzlich gedankt. Es ist sehr schwer und ein schier unmögliches Unterfangen, jetzt alle hier einzeln zu benennen. Die Präsidentin hat bereits neben den Abgeordnetenkollegen die vielen Mitarbeiter innerhalb und außerhalb des Ausschusses genannt. Wir hatten auch Mitarbeiter in der Verwaltung, es gab zahlreiche Polizisten, die wochenlang für uns Akten kopieren mussten. Es gab andere Helfer außerhalb. Und es gab vor allen Dingen - das möchte ich noch mal besonders sagen - Presse und Medien, die immer auch an unserer Seite gestanden und mit dazu beigetragen haben, dass wir unserem Anspruch gerecht werden konnten oder jedenfalls hoffen, ihm gerecht geworden zu sein.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Rückhaltlose und schonungslose Aufklärung war gefragt und gefordert. Wir haben uns darangemacht, diese Begriffe ernst zu nehmen und umzusetzen. Das war nicht einfach. Es hat nicht jedem gefallen, das ist natürlich, aber wir haben nicht lockergelassen. Am Ende war sogar die Innenministerkonferenz von Bund und Ländern verärgert, dass wir uns den Zugang zu ungeschwärzten Akten auch im Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz erstritten haben.

Ich erinnere in diesem Zusammenhang an einen Brief, der einging, dass es rechtliche Konsequenzen haben müsse, wenn wir Abgeordnete höchstselbst Einblick in solche ungeschwärzten Akten nehmen würden, statt Ermittlungsbeauftragte und Dritte damit beauftragen zu wollen. Dieser Drohbrief - wenn ich ihn so nennen darf - hatte keine weiteren Konsequenzen. Es wäre auch sehr merkwürdig gewesen, wenn eine Ministerkonferenz

ausgenommen natürlich unser Minister, der uns die Akten zur Verfügung gestellt hat - den Souverän, das Volk in Form der Abgeordneten eines Untersuchungsausschusses in Thüringen, verklagt hätte. Das hat natürlich nicht stattgefunden.

Verehrte Anwesende, liebe Gäste, Klarsicht und Klartext waren und sind unvermeidbar, damit zum Behördenversagen vor 2011 nicht noch ein Aufklärungsversagen von heute hinzutritt. Unsere Ergebnisse sind teilweise schockierend und sie sind durchaus schmerzhaft. Aber diese Schmerzen erreichen lange nicht den Schmerz, der den Opfern und ihren Angehörigen durch den Verlust ihrer Lieben zugefügt wurde. Sie erreichen nicht den Schmerz der schwer und leicht Verletzten und auch nicht den Schmerz der Demütigung, den die Angehörigen erleiden mussten, in deren eigenen Reihen man jahrelang fälschlich die Täter vermutete.

Wir schulden Aufklärung, aber nicht nur den Opfern. Alle Bürgerinnen und Bürger von Thüringen haben ein Recht darauf zu erfahren, warum drei Jugendliche aus Jena zu menschenverachtenden Nazis heranwachsen konnten, warum es nicht gelungen ist, die drei trotz jahrelanger Fahndung zu stellen, warum Behörden ihr Wissen unterschlagen haben, warum nahe liegenden Fahndungsansätzen nicht nachgegangen wurde, warum neben neun Mitbürgern mit Migrationshintergrund auch eine aus Thüringen stammende junge Polizistin einem feigen Mord aus nächster Nähe zum Opfer fiel. Am Ende interessiert auch noch, wie die letzten Stunden des Trios verlaufen sind und was genau den Tod von zwei der drei Hauptverdächtigen bewirkt hat.

Vorweg ist klarzustellen: Wir haben keine Anhaltspunkte für ein von Behörden betreutes Morden des NSU gefunden, aber - und das ist schlimm genug Indizien für ein durchaus begrenztes Interesse daran, die seit Januar 1998 in Thüringen wegen Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens mit Haftbefehl gesuchten drei - Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe - auch tatsächlich zu fassen. Dafür haben wir am Ende zwei hauptsächliche Beweggründe ermittelt. Der erste Grund ist eine in der Gesellschaft verankerte breite Verharmlosung rechtsradikal und rassistisch motivierter Straftaten, die Angst vor einer möglichen Nestbeschmutzung, wenn man rechtsradikale Taten in Thüringen entdeckt, aufdeckt und benennt. Der zweite wichtige Grund ist das vermeintlich vordringlichere Bedürfnis, Informationsstränge über V-Leute des Verfassungsschutzes oder sogenannte Gewährspersonen, egal auf welcher Ebene, auf keinen Fall aufzudecken. Hier kommen wir zu den schlimmsten Erkenntnissen, die wir zu verkraften hatten, nämlich die vielen Fehlleistungen, die bei der Fahndung nach den drei Gesuchten in den Jahren 1998 bis 2003 stattgefunden haben. Sie haben es möglicherweise bereits in der Presseberichterstattung vorab gelesen. Ich zitiere auch hier aus dem Ausschussbericht: „Die im

Anschluss an die sog. Garagendurchsuchung und das Untertauchen von Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe durchgeführte Fahndung nach den Untergetauchten ist in einem so erschreckenden Ausmaß von Desinformation, fehlerhafter Organisation, Abweichungen vom üblichen Vorgehen und Versäumnissen bei der Verfolgung erfolgversprechender Hinweise und Spuren durchsetzt, dass es dem Ausschuss nicht mehr vertretbar erscheint, hier nur von ‚unglücklichen Umständen‘, ‚Pannen‘ oder ‚Fehlern‘, wie sie natürlicherweise auch bei besten Vorsätzen nie ausgeschlossen werden können, zu sprechen. Im günstigsten Fall steht hinter dem festgestellten umfassenden Versagen vieler Akteure schlichtes Desinteresse am Auffinden der drei Gesuchten im Vergleich zu anderen Aufgaben, die den damals Handelnden möglicherweise tagesaktuell wichtiger erschienen. Die Häufung falscher oder nicht getroffener Entscheidungen und die Nichtbeachtung einfacher Standards lassen aber auch den Verdacht gezielter Sabotage und des bewussten Hintertreibens eines Auffindens der Flüchtigen zu. Die Geschichte der von 1998 bis 2003 von allen daran Beteiligten betriebenen bzw. nicht betriebenen Fahndung ist im Zusammenhang betrachtet ein einziges Desaster.“ Dies lässt sich an folgenden nur als besonders eklatant herausgehobenen 12 Schlaglichtern verdeutlichen:

1. Bei der Garagendurchsuchung am 26. Januar 1998 lässt man Uwe Böhnhardt, der anwesend ist, nach dem Fund von Sprengstoff unbehelligt ziehen. Mit der Suche nach den drei Verdächtigen wird erst sechs Stunden nach dem Sprengstoff-Fund begonnen.

2. Es erfolgt im Anschluss eine rechts- und sachwidrige Aufteilung der Fahndung zwischen dem Thüringer Landeskriminalamt, der Abteilung Zielfahndung, und dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz. Die Zielfahnder, die keine Strukturkenntnisse in der rechten Szene haben und trotz ausdrücklicher Bitte diese auch nicht vermittelt bekommen, sollen im familiären Umfeld suchen, der Verfassungsschutz in der rechtsextremen Szene.

3. Das Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz lässt das Landeskriminalamt zunächst wissen, die Flüchtigen seien auf dem Weg nach oder schon in Belgien mit dem Ziel USA. Die Genese dieses falschen Hinweises wird nie geklärt. Wie wir heute wissen, haben sich die Flüchtigen die ganze Zeit in Sachsen aufgehalten.

4. Die bei der Durchsuchung der Garage Nummer 5, in der die Rohrbomben und der Sprengstoff aufgefunden wurden, sichergestellte Garagenliste, in der Kontaktpersonen des Trios mit Namen und Anschriften und Telefonnummern verzeichnet sind und die nach heutigem Wissen die Fluchthelfer sowie einige V-Leute verschiedener Ämter enthält,

bleibt den Zielfahndern unbekannt. Erst 2011 taucht sie in neu zusammengestellten Akten wieder auf.

5. Aus Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen des Landeskriminalamtes ergibt sich im April 1998 der Hinweis, dass ein „Ralf“ sich an einem Treffpunkt einfinden und viel Geld und Kleidung bei „Bönis Eltern“ abholen soll. Der vermutlich mit Ralf gemeinte Ralf Wohlleben wird daraufhin an einem einzigen Tag ohne Erfolg für fünf Stunden observiert. Die nächste Observation erfolgte erst wieder im August 1999.

6. Von den nach einer Fahndung in „Kripo live“ am 22. Februar 1998 eingehenden Hinweisen werden drei nicht weiter verfolgt, darunter der, dass die Flüchtigen aktuell ein Auto des Ralf Wohlleben benutzen würden.

7. Eine Videoaufnahme vom 11. Februar 1998, die eine unbekannte Person zeigt, die vom Konto des Uwe Böhnhardt an einem Geldautomaten 1.800 DM abhebt, ist nicht Bestandteil der „Kripo live“-Sendung, auch nicht bei der Wiederholung im Mai.

8. Im September 1998 erreicht das Thüringer Landeskriminalamt der Hinweis, drei Rechte - zwei Männer und eine Frau - seien im Raum Chemnitz untergetaucht. Ein möglicher Zeuge hierfür wird erst acht Monate später, nämlich im Mai 1999, befragt.

9. Der Brandenburger V-Mann „Piatto“ meldet seinem Dienst am 9. September 1998, Jan Werner solle die drei mit Waffen versorgen. Die vernommenen Beamten des Thüringer Landeskriminalamtes bestreiten, mündlich hierüber in Kenntnis gesetzt worden zu sein. Tatsächlich hätte ein derartiger Hinweis zwingend schriftlich an die Strafverfolgungsbehörden weitergegeben werden müssen.

10. Bei der Observation einer Wohnung in Chemnitz unter Beteiligung des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz wird am 6. Mai 2000 ein Besucher beobachtet, der Ähnlichkeit mit Uwe Böhnhardt aufweisen soll. Ein Zugriff unterbleibt jedoch. Kenntnis hiervon erhält das Thüringer Landeskriminalamt erst am 15. Mai 2000. Ein Foto des Besuchers wird erst am 30. Mai 2000 mit der Bitte um Identitätsfeststellung an das Bundeskriminalamt weitergeleitet. Das BKA nimmt nach Begutachtung des Bildmaterials an, dass Uwe Böhnhardt und der Besucher vom 6. Mai 2000 identisch sind.

11. Eine Quelle des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz teilt im April 2001 mit, Ralf Wohlleben habe gesagt, dass die drei jetzt kein Geld mehr bräuchten, weil sie schon so viele Aktionen gemacht hätten, die aber der Fragesteller zum Eigenschutz nicht wissen solle. Diese Information erreicht das TLKA nicht. Verbindungen zu unaufgeklärten Banküberfällen werden nicht erwogen.

12. Hinweisen, dass Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt - Hinweise auf Uwe Mundlos betreffen das Jahr 2002, auf Uwe Böhnhardt das Jahr 2003 - in Jena gesehen worden sein sollen, wird vom TLKA nicht ernsthaft nachgegangen.

Die Schlussfolgerung: Aufgrund der Nichtverarbeitung wichtiger Informationen und der Nichtverfolgung zahlreicher Fahndungsansätze wurden die drei Flüchtigen nicht gefasst, die sich aufdrängende Verbindung zur Vorbereitung und Begehung schwerer Straftaten nicht erkannt und damit auch vorschnell im Juni 2003 die Fahndung beendet.

Die Beispiele, verehrte Anwesende, liebe Kolleginnen und Kollegen, zeigen jedoch auch eindeutig, dass am Fahndungsmisserfolg zwischen 1998 und 2003 längst nicht nur der Verfassungsschutz allein Schuld trägt. Polizei und Staatsanwaltschaft sind vielmehr ebenfalls zentralen Hinweisen, die sie selbst erreicht haben, nicht nachgegangen und haben eigentlich nahe liegende Maßnahmen nicht ergriffen.

Einzelne Beispiele müssen noch näher vertieft werden. Da ist das Fazit der Durchsuchungsmaßnahmen der Garagen im Januar 1998. Der Untersuchungsausschuss kommt zu dem Ergebnis, dass bei der Durchsuchung diverser Garagen und Wohnungen am 26. Januar 1998 die Gelegenheit und auch die Verpflichtung bestanden hätte, Uwe Böhnhardt vorläufig festzunehmen, dies vor dem Hintergrund, dass Sprengstoff bereits gefunden war und dies auch am Aufenthaltsort von Uwe Böhnhardt bekannt geworden war, bevor dieser weggefahren ist. Eine Verkettung verschiedener Umstände führte dazu, dass der an diesem Tag kurzfristig eingesetzte Ermittlungsführer vor Ort sich fälschlich nicht in der Lage sah, die Entscheidung zur vorläufigen Festnahme ohne vorherige Rücksprache mit der Staatsanwaltschaft zu treffen. Durch das Laufenlassen des Uwe Böhnhardt wurde letztlich das Untertauchen des Trios und seine spätere Entwicklung ermöglicht. Zwar kann nicht ausgeschlossen werden, dass allein der Sprengstofffund keinen Anlass zu einer Aufrechterhaltung eines Haftbefehls nach einer vorläufigen Verhaftung gegeben hätte, es wäre dann aber am 23. Januar 1998 der Staatsanwaltschaft die Rechtskraft des Berufungsurteils in der Sache „Puppentorso“ vom 16. Oktober 1997 bekannt geworden, mit dem Uwe Böhnhardt zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren und drei Monaten verurteilt worden war. Aus der Rechtskraft dieses Urteils hätte sich ein zusätzlicher Grund zur Annahme von Fluchtgefahr ableiten lassen. Es hätte damit gerechnet werden können, dass der Haftantritt von Uwe Böhnhardt zeitnah in die Wege geleitet worden wäre.

Nähere Ausführungen möchte ich auch zur sogenannten Arbeitsteilung mit dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz machen. Die durch die

se Vereinbarung bewirkte Form der Erkenntnisisolation aufseiten der Polizei wird eindrucksvoll vor dem Hintergrund der Bekundungen eines Zeugen veranschaulicht, wonach die vom TLfV eigenständig durchgeführten Maßnahmen im Laufe der Zeit zwar bekannt geworden seien, aber man im Thüringer Landeskriminalamt nicht gewusst habe, welche Zielstellung das Landesamt für Verfassungsschutz hierbei verfolgt habe.

Nicht auszuschließen ist ferner, dass in dieser Vereinbarung zwischen dem Landesamt für Verfassungsschutz und dem Landeskriminalamt der Grund für die merkwürdige Passivität des TLKA gegenüber dem Unterstützerumfeld der Untergetauchten zu sehen ist. Ich hatte Ihnen Beispiele genannt, dass Hinweise, die Ralf Wohlleben beinhalteten, nicht weiterverfolgt wurden. Obwohl dem Thüringer Landeskriminalamt beispielsweise auch bekannt war, dass ein Volker Henck mit dem Fahrzeug des Uwe Böhnhardt am Abend des Tages der Garagendurchsuchung angetroffen wurde, wurden keinerlei Folgemaßnahmen ergriffen. Auch die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des auf der Hand liegenden Verdachts der Strafvereitelung ist unterblieben. Gleiches trifft auch auf Juliane Walther zu, deren Auftauchen in der Wohnung von Uwe Mundlos und am nächsten Tag im Polizeirevier in Jena mit einer Vollmacht der gesuchten Beate Zschäpe keinerlei polizeiliche Maßnahmen, außer einer späteren legendierten Ansprache durch den Zeugen Wunderlich, die letztendlich zur Kontaktaufnahme mit dem Landesamt für Verfassungsschutz führte, auslöste.

Auch die über Telekommunikationsüberwachungsmaßnahmen der Unterstützung eigentlich klar überführten Wohlleben und Helbig blieben strafrechtlich völlig unbehelligt. Die hierzu vom Zeugen Dressler gegebene Erklärung, die Ergreifung der Flüchtigen habe im Mittelpunkt gestanden, befriedigt nicht. Bei Strafvereitelung handelt es sich nicht um ein Antragsdelikt und die Polizei ist entsprechend gehalten, jedem Verdacht auf Straftaten nachzugehen. Ob ein höherer Verfolgungsdruck gegenüber der Unterstützerszene zwangsläufig die Fahndung erschwert hätte, ist zudem rein spekulativ. Auch ein gegenteiliger Effekt ist durchaus denkbar.

Auch unter diesem Gesichtspunkt kann die erfolgte Absprache zwischen der Zielfahndung und dem Thüringer Landesamt für Verfassungsschutz nur als falsch bewertet werden. Rechtswidrig ist sie aus unserer Sicht ohnehin. Diese freiwillige Erkenntnisisolation führt dazu, dass Fehler vom Verfassungsschutz nicht einfach nur gemacht werden, sondern dass die anderen Ermittlungsbehörden quasi freiwillig auch „einen Haken um all das schlagen“, was mit dem Verfassungsschutz irgendwie zu tun haben könnte.

Einen weiteren Beleg für die eingangs bereits genannte Wandlung der anfänglichen Mutmaßungen über eine Behinderung oder eine Fahndungsbremse durch Eigeninteressen des Verfassungsschutzes zu scheinbar feststehenden Tatsachen gibt nicht nur der bekannt gewordene Hinweis des Zielfahnders Wunderlich vom Jahr 2001, für den er aus unserer Sicht zu Unrecht öffentlich verrissen wurde. Wir haben in den Unterlagen auch andere Beweise dafür gefunden. So gibt es einen Bericht der Staatsanwaltschaft Gera an die Generalstaatsanwaltschaft vom 23. Oktober 2002, in dem es lapidar heißt, es sei nicht auszuschließen, dass angesichts des bekannten Hintergrundes, dass eine oder mehrere der gesuchten Beschuldigten mit großer Wahrscheinlichkeit Mitarbeiter des Thüringer Landesamtes für Verfassungsschutz waren oder sind, Fahndungsmaßnahmen ins Leere gehen. Dieser Vorgang wirft - wie bereits an anderer Stelle des Berichts thematisiert - ein schlechtes Licht auf die Rolle der Staatsanwaltschaft als verfahrensleitende Behörde. Wie in seinem oben genannten Bericht an die Generalstaatsanwaltschaft zum Ausdruck kommt, ging der Leiter der Staatsanwaltschaft Gera aufgrund der vom TLKA erhaltenen Informationen einfach davon aus, das TLfV behindere die Fahndung des TLKA nach dem Trio. Die Staatsanwaltschaft als verfahrensleitende Behörde hätte aber einen solchen Zustand nicht einfach resignierend akzeptieren dürfen, sondern hätte darauf dringen müssen, die vermutete, die Ergreifung der drei Gesuchten behindernde Einflussnahme des Landesamtes für Verfassungsschutz hier gegebenenfalls unter Einschaltung der ihr vorgesetzten Behörden, das heißt der Generalstaatsanwaltschaft und des Thüringer Justizministeriums, zu beenden.

So erklärte auch der als Zeuge vernommene Leitende Oberstaatsanwalt Villwock vor dem Untersuchungsausschuss, aus heutiger Sicht halte er es für völlig inakzeptabel bzw. für ein Versäumnis der Staatsanwaltschaft, nicht an das TLfV heranzutreten, und - ich finde, das ist ein zentraler Satz für unsere Ergebnisse - der Zeuge hat uns gesagt und eingestanden, es sei eine große Lehre aus dem Verfahren, dass die Sachleitungsbefugnis der Staatsanwaltschaft nicht vor der Tür des Verfassungsschutzes ende. Dies heißt, dass, wenn diese Lehre erst rückblickend gezogen wird, damals davon ausgegangen wurde, die Sachleitungsbefugnis würde vor der Tür des Verfassungsschutzes enden. Das war nicht rechtmäßig und hat zu unerträglichen Ergebnissen geführt.

Letzte Hinweise, die ich Ihnen in meiner Aufzählung schon genannt habe, waren aus dem Jahre 2002 und 2003; im Jahr 2002 ein Anruf in den Nachtstunden des 25. Juni 2002, in dem ein anonymer männlicher Anrufer behauptete, er habe Mundlos in der Nähe der Wohnung der Eltern Böhnhardt oder eines Kumpels namens „Böttcher“ oder „Büttner“ in

der Binswanger Straße gesehen. Nachfolgende Recherchen führten schließlich auch in die Binswanger Straße. In den Akten ist vermerkt, dass Herr Dressler und Herr Eimecke, zwei Polizeikollegen, Herr Dressler der Ermittlungsführer, in dieser Straße auch mittels Abgehen und Kontrollieren der Klingelschilder nichts Auffälliges festgestellt haben. Am 26. Juni 2002 dokumentiert jedoch der Polizist Kleimann, dass in dieser Straße sowohl der Bruder des Uwe Böhnhardt, seine zweite Ehefrau als auch die erste Ehefrau des Bruders von Uwe Böhnhardt leben.

Es ist in keiner Weise nachvollziehbar, dass es seinerzeit nicht einmal eine schlichte Anfrage beim Bruder des Uwe Böhnhardt nach eventuellen Kenntnissen über das Verbleiben der Gesuchten gegeben hat. Es gibt einen Vermerk von Herrn Kleimann, in dem er festgehalten hat: „Zu beiden Familien erfolgen von hier aus keine weiteren Recherchen.“ Warum er diesen Vermerk gefertigt hat, konnte uns der Zeuge heute nicht mehr sagen. Er sagte, an den Vorgang selbst erinnere er sich nicht.

Zu diesem Zeitpunkt hat man bereits über vier Jahre erfolglos nach den Flüchtigen gesucht. Herrn Kleimann hatte der Auftrag erreicht, mögliche neue Fahndungsansätze zu erarbeiten. Es ist zudem auffällig, dass dieser Hinweis in dem vom Ermittlungsführer Dressler unterzeichneten Abschlussbericht vom 16. September 2003, in dem nach dem angenommenen Eintritt der Verjährung für das Thüringer Innenministerium alle Fahndungsmaßnahmen nach den Flüchtigen aufgelistet wurden, nicht einmal mehr genannt wird, obwohl Herr Kleimann hierfür sogar einen gesonderten Aktenordner angelegt hatte. Eine Erklärung hierfür hat der Untersuchungsausschuss auch nach Anhörung der Zeugen nicht gefunden.

Letzte Hinweise über einen möglichen Aufenthalt der Gesuchten in Jena hat es dann durch den Hinweis eines Zeugen gegeben, der auch publizistisch aufgearbeitet worden ist. Im Juni 2003 gab ein Zeuge mehrere Hinweise, denen nach polizeilichen Grundregeln hätte nachgegangen werden können und müssen. Der Zeuge berichtete nicht nur über den Inhalt eines Gesprächs, das er mit Uwe Böhnhardt nach einem zufälligen Zusammentreffen an einer Ampelkreuzung geführt habe, er gab darüber hinaus an, Uwe Böhnhardt sei in einem roten Hyundai Pony mit Stufenheck und Jenaer Kennzeichen unterwegs gewesen. Er vermute, dass Böhnhardt mit einem Mitglied der früheren gemeinsamen Clique - der Zeuge nannte den vollständigen Namen aus der Fritz-Ritter-Straße heute noch Kontakt habe. André Kapke habe ihm schon vor zwei bis drei Jahren erzählt, dass alle drei Gesuchten drei- bis viermal in der Stadt seien, eine Ex-Freundin des Böhnhardt mit dem Spitznamen „Anki“ würde vielleicht auch etwas über den Aufenthalt der drei Ge

suchten wissen und Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe würden sich in der Schweiz aufhalten.

Zu allen diesen Hinweisen gab es, wie übereinstimmend von allen zu diesem Komplex vernommenen Zeugen bestätigt wurde, keinerlei weitere Ermittlungen durch das Thüringer Landeskriminalamt. Stattdessen wurde im bereits zitierten Abschlussbericht über die durchgeführten Fahndungsmaßnahmen nach den Gesuchten vom 16. September 2003 ausgeführt, dass Ermittlungen zu den Angaben dieses Hinweisgebers nicht zum Erfolg geführt hätten, da sich seine Angaben auf Ereignisse bezogen, welche ein bis drei Jahre zurücklagen und im Übrigen nicht schlüssig waren.

„Objektiv betrachtet“ - so steht es in unserem Untersuchungsbericht - „enthält dieses Fazit somit gleich zwei Unwahrheiten - dass ermittelt worden sei und dass die Hinweise nicht schlüssig gewesen seien. Beides ist falsch.“, wenn Sie sich die Hinweise noch einmal vor Augen und Ohren halten.

Der Versuch der Halterfeststellung eines beschriebenen Fahrzeuges und das Aufsuchen einer mit vollständigem Namen und Adresse genannten möglichen Kontaktperson wären im Rahmen polizeilicher Routine eine Selbstverständlichkeit, ein Leichtes und geboten gewesen. In der Szene hätte nachgefragt werden können, wer den Spitznamen „Anki“ trägt, und auch André Kapke hätte befragt werden können.

Zum Hinweis auf die Schweiz hätte den ermittelnden Beamten auffallen müssen, dass es im Rahmen der Ermittlungen bereits Hinweise auf die Schweiz, insbesondere einen Anruf aus einer Telefonzelle dort bei Unterstützern des Trios, gegeben hatte.

Das Nichtverfolgen all dieser Spuren lässt sich vernünftig nicht begründen. Das wurde von den hierzu vernommenen Zeugen auch letztlich nicht bestritten. Es wollte sich indessen für dieses Fiasko niemand verantwortlich zeigen. Es konnte aufgrund widersprüchlicher Angaben nicht geklärt werden, wer im Anschluss an die Vernehmung des Hinweisgebers für weitere Ermittlungen verantwortlich gewesen ist. Niemand der dazu vernommenen Zeugen wollte sich dazu bekennen.

Im Jahr 2003 wurde dann in Thüringen die Fahndung nach den drei Verdächtigen in der Annahme eingestellt, dass die ihnen vorgeworfene Straftat, die Vorbereitung eines Sprengstoffverbrechens, inzwischen verjährt sei. Allerdings blieb dabei unbeachtet, dass Uwe Böhnhardt eigentlich bis 2007 hätte gesucht werden müssen, denn gegen ihn lag noch die vollstreckbare Freiheitsstrafe vor, die er bis dahin hätte antreten müssen. Bis zum Jahr 2003, in dem die Fahndung in Thüringen erfolglos eingestellt wurde, hatte der NSU vier Morde begangen. Der letzte Mord 2004 ist der, der die junge

Thüringer Polizistin Michèle Kiesewetter zum Opfer gefunden hat. Wegen der Herkunft von Michèle Kiesewetter aus Thüringen haben wir uns der Frage auch noch angenommen, ob denn Michèle Kiesewetter wirklich ein Zufallsopfer gewesen ist. Die Frage, ob Michèle Kiesewetter zufällig Mordopfer wurde oder ihre Ermordung zielgerichtet, aus einem bestimmten Motiv heraus erfolgte, haben wir in der uns verbleibenden Zeit sowie mit den zur Verfügung stehenden wenigen Akten nicht zu klären vermocht. Die These vom Zufallsopfer passt aber nicht zu den anderen sehr genau geplanten Taten. Gleichwohl hat bereits die von uns an einem Tag vorgenommene rudimentäre Beweiserhebung zu diesem Sachverhalt eine Reihe von scheinbaren Zufälligkeiten und Querverbindungen ergeben, die eine zielgerichtete Ermordung Michèle Kiesewetters zwar nicht belegen können, aber den Untersuchungsausschuss zu der Ansicht gelangen lassen, dass das bisher nicht ausgeschlossen werden kann und dass diese Frage weiterer Recherchen bedarf. Wir haben erfahren, dass mehrere von einer Zeugin bestätige Kontakte über Drittbekanntschaften - also nicht Michèle Kiesewetter selbst war mit der rechten Szene irgendwie verbunden, aber über Dritte -, dass solche Bekanntschaften in das direkte Unterstützerumfeld des untergetauchten Trios führen. Inwieweit dieses dargestellte Personen- und Bekanntschaftsgeflecht zur rechten Szene im Zusammenhang mit dem Mord an Michèle Kiesewetter steht, bleibt aufzuklären.

Wir haben sehr viele Dinge in unserem Untersuchungsbericht, die ich Ihnen hier heute in dieser Plenarsitzung nicht alle nennen kann, wir würden sonst heute Abend noch hier sitzen, vielleicht auch bis spät in die Nacht.