Protokoll der Sitzung vom 26.09.2019

Diejenigen, die sich in Leipzig unter dem Schutz der eingeschränkteren Repressionen aufgrund der Leipziger Messe zusammengefunden haben und in der Nikolaikirche Transparente ausrollten – für wenige Minuten –, mussten vielmehr davon ausgehen, dass sie verhaftet werden, dass sie misshandelt werden, dass es Repressionen gegen sie individuell, aber auch gegen die Familien und den Freundeskreis gibt. Das war die Erfahrung derjenigen, die trotzdem den Mut hatten, sich 1989 gegen das DDR-Regime zu stellen.

(Zwischenruf Abg. Kießling, AfD: Genau so war es!)

Wir müssen uns das in Erinnerung rufen, weil die Erinnerung an 30 Jahre friedliche Revolution – mal unabhängig von dem, was wir hier gerade parteipolitisch diskutieren – zunächst erst mal als Erinnerung denjenigen gilt, die mit großem Mut und unter dem Einsatz ihrer Unverletzlichkeit und der eigenen Zukunft sowie der Zukunft ihrer Angehörigen die Entscheidung getroffen haben aufzustehen,

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

aufzustehen und zu sagen, was ist, das DDR-Regime herauszufordern durch die Forderung nach Meinungsfreiheit, die Forderung nach Pressefreiheit, die Forderung nach Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, die Forderung nach Glaubensfreiheit, nach Gewissensfreiheit, nach einem Brief-, Post- und Fernmeldegeheimnis, nach der Unverletzlichkeit der eigenen Wohnung, der Forderung nach Reisefreiheit und der Forderung nach Freizügigkeitsrechten, auch nach dem Recht auf Verweigerung des Dienstes an der Waffe. Ich zitiere: „Denn das Geheimnis der Freiheit war der Mut!“ Das hat Claus Christian Mahlzahn 2010 in seinem Nachruf auf Bärbel Bohley in der Tageszeitung „Die Welt“ geschrieben und er zitiert Bärbel Bohley mit den Worten: „Die Politik fand plötzlich unter freiem Himmel statt – auf der Straße entfaltete sich jene Dynamik und konnte sich nur dort entfalten.“ Vor dem Mut dieser Menschen, die wir heute Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler nennen, vor denen haben wir uns zu verneigen und sie nicht zu instrumentalisieren.

(Beifall SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir verdanken diesen Menschen jene Entwicklung – und da wiederhole ich mich –, die wir heute rückblickend dankbar als friedliche Revolution bezeichnen. Ich möchte Bärbel Bohley noch mal zitieren: „Es charakterisiert diese sechs Monate gerade, dass die politischen Prioritäten von demonstrierenden Mehrheiten gesetzt wurden. Die ‚große Politik‘ dagegen musste jeweils nachfolgen und konnte erst auf dem Terrain, das die Bürgerbewegungen abgesteckt hatten, wieder ihre tradierten Gebäude errichten.“

Viele von uns im Saal – also die, die in der DDR waren – werden sich an diese Zeit in gleicher Weise erinnern, an die Dynamik des Auf- und des Umbruchs, der parallelen Entwicklung von Reform in der DDR einerseits und der Dynamik des Mauerfalls andererseits, mit der die Frage des deutschdeutschen Verhältnisses als Konföderation oder Wiedervereinigung auf die politische Tagesordnung kam. Von Bärbel Bohley stammt auch die apodiktische Feststellung, die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler hätten Gerechtigkeit gewollt und den Rechtsstaat bekommen. Im Magazin „Cicero“ äußerte sich die frühere Bürgerrechtlerin Marianne Birthler in einem Zitat zu diesem Satz Bohleys. Ich darf das mit Zustimmung des Präsidiums zitieren: „Bärbel Bohley hat wohl zum Ausdruck bringen wollen, warum viele Menschen enttäuscht waren. Viele wussten nicht, dass das Leben in einer freien Gesellschaft auch anstrengend ist – erst recht, wenn

(Minister Prof. Dr. Hoff)

man aus einem System kommt, in dem alles geregelt und festgelegt ist.“ Frau Birthler erzählt deshalb in diesem Zusammenhang die Exodusgeschichte vom Volk Israels, das nach Generationen der Sklaverei befreit wird, aber dann eben nicht das Gelobte Land vorfindet, in dem, wie es hieß, Milch und Honig fließen. Stattdessen hat sie die Wüste erwartet. Prompt setzte das Gemurre ein und die gerade erst Befreiten sehnten sich zurück nach den Fleischtöpfen Ägyptens. Auf einmal erschien ihnen – so sagte es Marianne Birthler –, die so lange von der Freiheit geträumt hatten, die Sicherheit attraktiver als die Freiheit. Das ist eine wunderbare Allegorie – da stimme ich Frau Birthler zu – der Frage, wie Gesellschaften mit Unfreiheit, mit Erinnerung an Gefangenschaft und mit der Freiheit umgehen.

Wir, die wir in der DDR geboren und aufgewachsen sind, verdanken den Mutigen des Spätsommers 1989 das einzigartige Geschenk der Demokratie, der Wirksamkeit von Grundrechten, des Zusammenspiels der Gewaltenteilung, das dafür Sorge trägt, dass nie mehr der Zweck die Mittel heiligen kann. Der Wert dieser Gewaltenteilung und der verfassungsrechtlichen Überprüfung politischer Entscheidungen wird uns dieser Tage auch bei einem Blick in die europäischen Staaten deutlich. Wenn im Mutterland der parlamentarischen Demokratie der Supreme Court dieser Tage die Zwangssuspendierung des Parlaments als verfassungswidrig aufhebt, dann zeigt sich genau darin der Wert der verfassungsrechtlich geschützten Demokratie und ihrer handlungsfähigen Institutionen.

(Beifall DIE LINKE)

Ich betone das auch deshalb, weil – es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden ist – in den Landtagswahlen in Sachsen und in Brandenburg eine Partei mit der Aussage „Vollende die Wende!“ angetreten ist. Es ist auch hier schon mehrfach darauf hingewiesen worden, dass das eine ziemlich infame Aussage ist.

(Beifall DIE LINKE)

Denn die Wende, auf die hier angespielt wird, entstand aus dem Wunsch nach Freiheit und Demokratie. Diejenigen, die nun zur Vollendung der Wende auffordern, sind aber nicht die Bürgerrechtlerinnen und Bürgerrechtler des Jahres 1989. Sie wollen das Rad der Geschichte nicht nach vorne drehen, sie wollen das Rad der Geschichte zurückdrehen.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht nicht um mehr Demokratie. Stattdessen sollen Verfassung und Demokratie ausgehöhlt wer

den, so wie wir es in den Vorbildern der illiberalen Demokratien Ungarns und Polens oder aus dem Handeln der politischen Gesinnungsgenossen wie der FPÖ in Österreich erkennen können.

Meine Damen und Herren, wenn wir 30 Jahre nach der friedlichen Revolution darüber diskutieren und auch streiten müssen, wie unsere Demokratie weiterentwickelt werden kann und soll, wenn wir nach den besten Wegen suchen, wie Bürgerinnen und Bürger an politischen Entscheidungen stärker, nachhaltiger als bisher beteiligt werden, die wesentliche gesellschaftliche Entwicklung, auch die Energiewende, die wir benötigen, um die nötigen Grundlagen unseres Gemeinwesens zu erhalten, wie also die gesellschaftlichen Entwicklungen immer wieder vor Ort rückgekoppelt werden, wie sie erklärt werden und wie vor Ort mitentschieden und nicht über die Köpfe hinweg festgelegt wird, dann reden wir über die Weiterentwicklung der Demokratie. Doch diese Weiterentwicklung kann nur auf den Spielregeln unserer Demokratie beruhen, nicht auf deren Infragestellung, der Instrumentalisierung oder der populistischen Verächtlichmachung als Gesinnungsdiktatur.

(Beifall DIE LINKE)

Das sind wir auch denjenigen schuldig, die 1989 den Mut zur friedlichen Revolution hatten.

Sehr geehrte Damen und Herren, diese Landesregierung besteht aus drei Parteien, die vor 30 Jahren antagonistische Gegner waren. Die friedliche Revolution brachte neben dem Neuen Forum eine Vielzahl von Parteien und Organisationen hervor, darunter die Wiedergründung der Sozialdemokratischen Partei SDP und auch diejenigen Gruppen, die später das Bündnis 90 bildeten. Wenn hier heute ein AfD-Abgeordneter der Abgeordneten Birgit Pelke vorwirft, in einer Täterpartei Mitglied zu sein, dann ist das wirklich die absolute Geschichtsvergessenheit der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Zur Geschichte der DDR und zu den dramatischen Entwicklungen der DDR gehörte auch die Unterdrückung der Sozialdemokratie als wiederholte Erfahrung der Sozialdemokratie. Ich möchte nie mehr, dass in einem deutschen Parlament ein Mitglied der Sozialdemokratischen Partei verächtlich gemacht wird.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Spät, zu spät begann die SED die Reformprozesse, die unter Gorbatschow bereits Jahre zuvor in der

(Minister Prof. Dr. Hoff)

Sowjetunion angestoßen wurden. Es gilt sein auf die unbelehrbare SED-Führung gemünzter Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ Die Landesregierung aus Linken, SPD und Bündnis 90/Die Grünen hat sich in dieser zu Ende gehenden Wahlperiode intensiver als jede Landesregierung zuvor der Aufarbeitung des DDR-Unrechts gewidmet. Ich habe hier im Landtag jüngst den diesjährigen Aufarbeitungsbericht vorlegen dürfen.

Der Bundestag entscheidet heute über die Überführung der Akten des MfS, die vor der Vernichtung gerettet wurden, als eines der wichtigsten Ereignisse dieser friedlichen Revolution, den Sturm auf die Stasi-Zentralen im Januar 1990, in das Bundesarchiv. Und ich wiederhole, was ich beim Aufarbeitungsbericht auch gesagt habe: Der Schritt war vollkommen richtig. Roland Jahn, der aus Thüringen stammt, hat zu Recht darauf hingewiesen, dass er ein gutes, ein vielfach diskutiertes, abgestimmtes Konzept vorgelegt hat. Unsere Erwartung in Thüringen ist, dass die drei Außenstellen, die wir haben, wie im Konzept vorgesehen als Anlaufstellen erhalten bleiben. Aber ich bin Dr. Wurschi als dem Aufarbeitungsbeauftragten hier in Thüringen sehr dankbar, dass er ein Konzept vorgelegt hat, diese Außenstellen als Erinnerungsorte, als Teil unserer Erinnerungskultur weiterzuentwickeln. Das ist genau der richtige Ansatz.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Wir haben dem Landtag ein Konzept umfassender Aktivitäten zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution und dem Mauerfall vorgelegt. Die Resonanz auf diese Veranstaltungen ist sehr erfreulich. Diese Erinnerungsaspekte beginnen nicht im Herbst 89, sondern, wie Frau Pelke dargestellt hat, bereits mit der gefälschten Kommunalwahl und haben auch im Frühjahr jenes Jahres genau mit dem Bezug darauf begonnen.

Ich bin der Präsidentin des Thüringer Landtags und all denjenigen, die an der Demokratie- und Wahlkampagne des Thüringer Landtags beteiligt sind, sehr dankbar, dass wir auch im 30. Jahr der friedlichen Revolution an den Wert freier Wahlen erinnern. Die Aufforderung dieses Landtags ist: Geht zu dieser Wahl, mischt euch ein, beteiligt euch! Das ist ein ganz praktisches Beispiel für 30 Jahre friedliche Revolution und unseren Umgang damit. Denn es ist gelebte Erinnerungskultur, die das Geschehene nicht historisiert, sondern die gesammelten Erfahrungen fruchtbar macht für die Bewältigung der Herausforderungen unserer Demokratie und für den unschätzbaren Wert der Freiheit. Vielen Dank.

(Beifall DIE LINKE, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Danke schön. Es gibt eine weitere Wortmeldung. Es gibt jeweils noch 2 Minuten für die Fraktionen durch die Rede des Herrn Ministers. Herr Abgeordneter Kießling von der AfD-Fraktion, bitte schön.

Vielen Dank, Herr Minister. Vielen Dank für die Anerkennung der Wende. Auch ich war damals bei der Wende dabei, stand auf der Straße. Sie behaupten hier, die SPD wäre keine Täterpartei gewesen; ich darf mal zitieren: Im April 1946 kam es zur Zwangsvereinigung der SPD und der KPD zur SED. Diese SED war die Partei, die damals Täter war, die die Diktatur beherrscht hat.

(Beifall AfD)

Diese SED hat sich dann umbenannt in Die Linke. Wir haben auch heute hier noch parlamentsunwürdige Abgeordnete. Diese Täter sind immer noch da und das kann irgendwo nicht sein. Wie gesagt, wir haben damals auf der Straße für Demokratie gestritten und wir streiten auch heute noch für Demokratie. Sie werden es nicht abstreiten können, dass wir nach wie vor für eine direkte Demokratie streiten.

(Beifall AfD)

(Zwischenruf Abg. König-Preuss, DIE LINKE: Nein, Sie streiten dagegen, Sie wollen die abschaffen!)

(Zwischenruf Abg. Adams, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was ist mit der parlamentarischen Demokratie?)

Lesen Sie doch mal unsere Anträge richtig! – Wir sagen immer, wir wollen die parlamentarische Demokratie nach dem Schweizer Vorbild um die Elemente der direkten Demokratie ergänzen, Herr Adams. Das wollen wir.

(Zwischenruf Abg. Adams, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Stehen Sie zum Diskurs?)

Deswegen wollen wir die Wende vollenden, weil wir merken, wir gleiten wieder in eine Diktatur ab.

(Beifall AfD)

(Zwischenruf Abg. Adams, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Dafür braucht es Sie ganz gewiss nicht!)

(Minister Prof. Dr. Hoff)

Das hören wir schon an den Rednern heute hier. Sie können sich gern noch mal äußern. Vielen Dank.

(Beifall AfD)

(Zwischenruf Abg. Adams, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das müssen Sie mir nicht erlau- ben!)

(Zwischenruf aus dem Hause: Unglaublich!)

Es ist unglaublich, was Sie uns hier vorwerfen.